Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Hans Hautmann: Die ökonomische, soziale und politische Lage der österreichischen Industriearbeiter im Ersten Weltkrieg

Der Jännerstreik des Jahres 1918 war seiner Zielsetzung nach ein politischer Streik, eine Bewegung, um den Krieg zu beenden und den Frieden zu erkämpfen. Für seinen Ausbruch sind aber nicht nur politische Motive verantwortlich gewesen. Dass er eine derart gewaltige Dimension, Geschlossenheit und Durchschlagskraft annahm, beruhte auf objektiven und subjektiven Voraussetzungen. Die objektiven Bedingungen für den Jännerstreik sind wiederum nicht zu verstehen ohne das, was 1914 begann, sich im Laufe des Krieges kumulierte und die tagtäglichen Lebensumstände der österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter bestimmte. Diese Aspekte ökonomisch-materieller, sozialer und rechtlicher Natur möchte ich behandeln, um Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, unter welchen Verhältnissen die industrielle Arbeiterschaft Österreichs im ersten Weltkrieg ihre Existenz fristen musste. Die Kürze der zur Verfügung stehenden Redezeit legt es mir auf, den Gesamtkomplex lediglich in Form einiger markanter Streiflichter zu erhellen und mich auf jene Erscheinungen zu konzentrieren, die die arbeitenden Menschen am stärksten tangierten, am meisten empörten und schließlich im Jänner 1918 dazu führten, gegen sie massenhaft aufzustehen.

I.

Kriege bringen es in der Regel mit sich, dass für die Volksmassen eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen eintritt, ganz im Unterschied zu jenen, die - im Besitz der Produktionsmittel und die Kommandohöhen der Wirtschaft beherrschend - in solchen Zeiten märchenhafte Gewinne einstreifen. So war es auch in den Jahren 1914 bis 1918. Gemessen am Niveau der letzten Vorkriegsjahre war der Abfall des Lebensstandards der arbeitenden Menschen unter allen kriegführenden Mächten am stärksten in Österreich-Ungarn, und hier wiederum in der österreichischen Reichshälfte. Es trat eine richtiggehende Verelendung ein, eine, wie sie die österreichische Arbeiterschaft bis dahin nicht gekannt hatte.
Die Verschlechterung der Lage der Volksmassen ging im ersten Weltkrieg einerseits kontinuierlich vor sich (etwa bei der Preisentwicklung und den Reallohnverlusten), andererseits in raschen, abrupten Schüben. Ein erster derartiger Schub erfolgte gleich am Anfang des Krieges, ein zweiter während des berüchtigten Hungerwinters 1916/17. Beide Male handelte es sich um qualitative Sprünge, und zwar gerade auf jenen Gebieten, die die Industriearbeiter am unmittel- barsten betrafen: 1914 in Form der Militarisierung der Arbeit, 1916/17 durch den Übergang des Lebensmittelmangels zur Hungersnot.

II.

Der Ausbruch des ersten Weltkriegs hatte auf die Lebensumstände der österreichischen Arbeiterschaft sofortige, radikal negative Auswirkungen. So wurden beispielsweise die gesetzlichen Bestimmungen über die Sonn- und Feiertagsruhe eliminiert, die Arbeitszeit in kriegswirtschaftlich wichtigen Betrieben auf bis zu 13 Stunden täglich verlängert und die Nachtarbeit von Frauen und Jugendlichen, seit 1885 verboten, wieder obligat.
Die einschneidendste Verschlechterung brachte aber das mit 25. Juli 1914 erfolgte Inkrafttreten des im Jahr 1912 verabschiedeten "Kriegsleistungsgesetzes", einer Maßnahme, mit der Österreich unter allen kriegführenden Mächten einzig dastand. Es gab der Heeresverwaltung die Möglichkeit, sämtliche für die Kriegswirtschaft relevanten Betriebe für ihre Zwecke in Anspruch zu nehmen und militärischer Leitung zu unterstellen. Das galt auch und insbesondere für das gesamte Personal. Die Belegschaften der Kriegsleistungsbetriebe (1917/18 waren das in der österreichischen Reichshälfte 1,3 Millionen Arbeiter in 4.500 Betrieben, darunter 363.000 Frauen) hatten allen Befehlen der militärischen Leiter Folge zu leisten und unterstanden militärischer Disziplinar- und Strafgewalt. Bei "Widersetzlichkeiten" wie Unpünktlichkeit oder Krankfeiern konnten gegen sie Arreststrafen bis zu dreißig Tagen verhängt werden, verschärft mit zeitweiligem Fasten bei Wasser und Brot oder "Schließen in Spangen".
Während sich so die Arbeiter mit Kasernenhofzuständen konfrontiert sahen, brachte das Kriegsleistungsgesetz den Unternehmern enorme Vorteile. Ein Nutzen bestand darin, dass sie für einen so genannten "Kriegsleistungsbetrieb" mit bevorzugter Belieferung bei Rohstoffen und Transportmitteln rechnen durften. Der Hauptvorteil lag aber darin, dass man seines Personals sicher sein konnte. Das Recht des Arbeiters, seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt "frei" zu verkaufen, wurde durch dieses Gesetz beseitigt, was unter den Kriegsverhältnissen mit dem bald eintretenden Arbeitskräftemangel (der unter normalen Umständen lohnerhöhenden Effekt hat) für das Unternehmertum schlaraffenlandähnliche Zustände schuf. Die Arbeiter konnten von anderen Betrieben nicht mehr abgeworben werden, und man war daher auch nicht mehr genötigt, Lohnforderungen nachzugeben, um den Weggang von Arbeitern zu verhindern.
Diese Militarisierung der Arbeit war nichts anderes als eine offene Kriegserklärung an den „inneren Feind“, der Versuch der wirtschaftstreibenden Eliten, die Arbeiterbewegung mundtot und wehrlos zu machen, sie einzuschüchtern und zu entwaffnen. Sie war ein Klassenkampf derer von oben gegen die von unten par excellence. Mehr als zwei Jahre gelang das auch. Im Frühjahr 1917 trat aber gerade in den militarisierten Betrieben das ein, was man mit Hilfe des Kriegsleistungsgesetzes verhindern wollte: ein lawinenartig ablaufender Prozess kämpferischer Bewusstseinsbildung unter den Arbeitermassen. Und gerade die dem Kriegsleistungsgesetz unterworfene Industriearbeiterschaft war es, die sich zum eigentlichen Kern der proletarischen Antikriegsbewegung formierte und den Jännerstreik auslöste.

III.

Betrachten wir nun einige Elemente der Lage der Arbeiter und beginnen wir mit den Preisen und Löhnen. Die Preise der wichtigsten Bedarfsgüter waren seit 1915 über Höchstpreisverordnungen geregelt, die bis 1918 eine Steigerung von 300 bis 1000 Prozent erfuhren. Nur zu oft waren aber diese Güter in den Läden gar nicht erhältlich, sodass man auf den Schleichhandelskauf ausweichen musste. Die Schleichhandelspreise lagen hingegen durchgehend über der 1000-Prozent-Steigerungsmarke.
In krassem Gegensatz dazu entwickelten sich die Nominallöhne. Ein Dreher in einem Rüstungsbetrieb verdiente im Juli 1914 im Schnitt 35 Kronen in der Woche, 1917 110 Kronen und 1918 120 Kronen. Die Lohnerhöhungen bewegten sich also von 1914 bis 1918 im Schnitt zwischen der 100- und 500-Prozent-Marke. Damit stellt sich die Frage nach der Reallohnentwicklung. Sie ist seinerzeit von dem Statistiker Wilhelm Winkler berechnet worden, einem Mann, der der sozialistischen Arbeiterbewegung gänzlich fern stand und den wir deshalb nicht zu verdächtigen brauchen, dass er übertrieb. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Reallöhne der Industriearbeiter - nimmt man das Jahr 1914 für 100 - 1916/17 auf ein Niveau von 64 und 1917/18 auf den Index von 37 absanken. Es war das eine Einbuße, wie sie die österreichischen Arbeiter in den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg nicht gekannt hatten und die es auch später nicht wieder gegeben hat, nicht einmal in der Ständestaatsära und in der NS-Zeit.

IV.

Der Reallohn ist für die Bestimmung des Lebensniveaus ein wichtiger, keineswegs aber der einzig ausschlaggebende Maßstab. Ein kaum weniger bedeutsames Element ist die Arbeitszeit. Sie betrug vor dem ersten Weltkrieg täglich zwischen 9 und 11 Stunden, in der Woche - da auch an Samstagen meist voll gearbeitet wurde - zwischen 54 und 66 Stunden. In den Kriegsjahren war in den militarisierten Betrieben ein 13stündiger Arbeitstag die Regel, ja noch darüber hinaus. Wir wissen z.B., dass 1916/17 in der Munitionsfabrik Hirtenberg sowie im Krupp-Metallwerk Berndorf Frauen 14 bis 16 Stunden täglich arbeiteten, dass sie damit sogar Überstunden leisteten, um die notwendige Aufbesserung des Lohnes zu erreichen. (Die Frauenlöhne lagen im Schnitt bei 50 bis 60 Prozent der Männerlöhne.)

V.

Ein weiterer Indikator der Verschlechterung der objektiven Lage war die beträchtlich Zunahme der Unfälle am Arbeitsplatz. Unfallfördernd wirkten die Außerkraftsetzung einer Reihe von Schutzbestimmungen zu Beginn des Krieges, die Einbeziehung einer großen Zahl von ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter in die Betriebe, die mit dem Arbeitsablauf nicht vertraut waren, und die aus Lebensmittelmangel sowie steigender Arbeitsintensität resultierende physische und psychische Überlastung. Vor allem die tödlichen Unfälle wuchsen ab 1916 rapide an. Ich erinnere hier nur an die beiden entsetzlichen Explosionskatastrophen vom 17.Juli 1917 in der Pulverfabrik Blumau-Großmittel mit weit über 100 Toten und vom 18. September 1918 in der Munitionsfabrik Wöllersdorf, bei der 382 Menschen, in der Mehrheit ganz junge Arbeiterinnen, starben.

VI.

Die genannten Faktoren führten zu einer krassen Erhöhung der Krankheitsanfälligkeit und damit zu einer stetigen Verschlechterung der Volksgesundheit. Die klassische Proletarierkrankheit, die Tuberkulose, sowie Infektionskrankheiten wie Ruhr und Grippe griffen sprunghaft um sich. Unvergessen ist bis heute die verheerende Epidemie der Spanischen Grippe im Jahr 1918, der Tausende Menschen zum Opfer fielen. Es traten aber auch Krankheiten auf, die man schon seit langem ausgerottet wähnte, etwa das Hungerödem, hervorgerufen durch die mangelhafte Ernährung.

VII.

In dem Zusammenhang soll auch auf die Situation der arbeitenden Frauen im ersten Weltkrieg kurz eingegangen werden. Ihre Zahl stieg von 1914 bis 1918 steil an und ging in die Hunderttausende. Der Großteil war in metallverarbeitenden und maschinenerzeugenden Betrieben beschäftigt, in denen sich der Anteil der Frauenarbeit verdoppelte. In den Munitions- und Pulverfabriken von Hirtenberg, Wöllersdorf und Blumau bestand 1917/18 die Belegschaft zu 45 Prozent aus Frauen. Viele sahen sich überdies zur freiwilligen Nachtarbeit gezwungen, um tagsüber die Kinder betreuen zu können. Die Leistungen, die sie erbrachten - wie gesagt für Löhne, die oft nur die Hälfte der Männerlöhne ausmachten -, aber auch die Belastungen, die sie auf sich nehmen mussten, waren ungeheuerlich.
Aber auch in politischer Hinsicht war ihre Rolle im ersten Weltkrieg sehr bedeutsam. Zahlreiche Polizei- und Statthaltereiberichte aus den Jahren 1916 und 1917 beweisen, dass bei Protestaktionen der Belegschaften gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und die kargen Lebensmittelzuteilungen fast immer die im Betrieb beschäftigten Frauen die Initiatoren waren und durch ihre Courage Aktionen in die Wege leiteten, denen sich dann die gesamte Belegschaft in Form des Streiks anschloss. Erst als im Frühjahr 1917 die Streikbewegung auf breiter Front in Gang gekommen war, trat ihre impulsgebende Rolle wieder zurück. Dennoch steht fest, dass die Frauen gerade in den innenpolitisch labilen Monaten des Herannahens der revolutionären Krise in Österreich, im Herbst und Winter 1916/17, die männlichen Kollegen regelrecht dazu erzogen, sich wieder auf ihre eigene Kraft zu besinnen.

VIII.

Damit komme ich zum zweiten Faktor, zum Ernährungsproblem. Es ist sicher, dass für jeden einfachen Österreicher und werktätigen Menschen, der den ersten Weltkrieg im Hinterland erlebte, der Nahrungsmittelmangel, das stundenlange und oft erfolglose Anstellen vor den Lebensmittelgeschäften, das Kartensystem, die Quotenkürzungen, die Teuerung aller Grundnahrungsmittel, die Hamsterfahrten und der Genuss oft ekelhafter Surrogate der unvergesslichste Eindruck war. Diese Notsituation wurde zur stärksten Triebfeder für die großen Massenbewegungen und Klassenkämpfe der österreichischen Arbeiter in den letzten beiden Kriegsjahren.
Um den Engpässen abzuhelfen, ist staatlicherseits nach und nach das Kartensystem eingeführt worden, für Brot und Mehl im April 1915, später auch für Zucker, Milch, Kaffee, Fett, Kartoffeln, usw. Die Kopfquoten der Lebensmittelbezugsscheine unterschieden sich nach drei Kategorien: für Selbstversorger, Nichtselbstversorger und Schwerarbeiter. Letztere, zu denen der Großteil der männlichen Arbeiter in der Rüstungsindustrie gehörte, hatten die höchsten Quoten - wobei "hoch" als ein mehr als relativer Begriff anzusehen ist. Denn die tägliche Kaloriensumme der über das Kartensystem den Schwerarbeitern zustehenden Mengen betrug im Jahr 1917 durchschnittlich 1.730 und im Jahr 1918 gar nur mehr 1.300 Kalorien. Die Ernährungswissenschaft hat festgestellt, dass ein Mensch bei vollkommener Ruhe, den ganzen Tag im Bett liegend, in 24 Stunden etwa 1.500 Kalorien verbraucht, Menschen mit leichter Arbeit, in Büroberufen, zwischen 2.400 und 2.700 und Schwerarbeiter 3.900 Kalorien und mehr pro Tag benötigen, um ihre Arbeitskraft ausreichend regenerieren zu können. Damit erhebt sich die Frage, wie der österreichische Arbeiter den ersten Weltkrieg im Hinterland überhaupt durchstehen konnte, ohne verhungern zu müssen.
Eine Form der zusätzlichen Aufbringung von Nahrungsmitteln waren die Hamsterfahrten zu den Bauern aufs Land, eine zweite der Übergang zur Selbstversorgung durch "Kriegsgemüse"- und Schrebergärten, eine Bewegung, die im ersten Weltkrieg großen Aufschwung nahm. "Hätt ich nicht geschrebert, wer weiß, ob ich noch lebert", lautete damals ein volkstümlicher Spruch.

Über die Güterknappheit und die Sorge ums tägliche Brot hinaus wirkte aber die Unfähigkeit der staatlichen Behörden, Abhilfe zu schaffen und ein halbwegs gerechtes Verteilungssystem durchzusetzen, maßlos aufreizend. Die vielbeschworene "Gleichheit der Opfer" war unter den Bedingungen des sich aus der Notsituation logisch und spontan herausbildenden schwarzen Marktes nicht zu erreichen, der wiederum es selbst in den beiden schlimmsten Hungerjahren 1917 und 1918 wenigen Begüterten möglich machte, Waren in beliebiger Menge zu erwerben. Wer Geld, oder besser noch Wertsachen besaß, konnte sich über den Schleichhandel auch dann noch jederzeit nicht nur gut, sondern sogar reichlich versorgen. Die skrupellosen Nutznießer des Gütermangels, Warenhorter und -verheimlicher, Spekulanten, Schieber, Schleich- und Kettenhändler, tummelten sich ungeniert in den Nachtlokalen und Privilegierten wie den Offizieren wurden in den Kasinos bis zum letzten Tag des Krieges die besten Speisen aufgetischt.
Diese wachsende und immer sichtbarer werdende Kluft ökonomischer und sozialer Unterschiede zwischen den Volksmassen und der kleinen Schicht der Begüterten war die tiefste Ursache dafür, dass die österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter ab 1916/17 die Zustände nicht mehr resignierend hinnahmen und sich kräftig zur Wehr zu setzen begannen: mit dem Mittel des Streiks.

IX.

Die Streikwelle des Jahres 1917 hat übrigens hier im Wiener Neustädter Industriegebiet begonnen, im Jänner bei Brevillier & Urban in Neunkirchen und in den Schoeller-Werken in Ternitz. Das war kein Zufall, denn hier befand sich neben Wien, der Obersteiermark und den Zentren in Böhmen die dichteste Zusammenballung an großen Industrie- und Rüstungsbetrieben und eine seit jeher traditionell kämpferische, klassenbewusste Arbeiterschaft. Sie hat bei den Streiks im ersten Weltkrieg im echtesten Sinne des Wortes als Avantgarde fungiert.
Mit dem Einsetzen der Streikaktionen tauchte für die Unternehmer und das Militär ein Problem auf, das sich in der ersten Kriegsphase, als der "Burgfrieden" auch in den Betrieben herrschte, noch nicht gestellt hatte, die Frage, wie man Ausständen wirkungsvoll begegnen sollte. Darob entbrannte ein erbitterter Streit zwischen der Fraktion der "Scharfmacher" und der der "Beschwichtiger", jenen, die mit flexiblen Methoden und gewissen sozialen Zugeständnissen die Situation in den Griff zu bekommen trachteten. Die Scharfmacher, repräsentiert durch die schwerindustrielle Gruppe Kohle, Eisen, Stahl, als deren Sprachrohr das Militär auftrat, erwogen ernsthaft die Idee, bei Streik das Standrecht zu verhängen, um durch Aburteilungen und Hinrichtungen abschreckend zu wirken. Dieser Plan wurde von den wendigen Vertretern der modernen Industriezweige (Chemie, Elektro, Kraftfahrzeugbau), als deren Sprachrohr die Zivilbehörden auftraten, zu Fall gebracht, und zwar mit bemerkenswert realistischen Argumenten: dass bei einem Streik mit Tausenden Teilnehmern die Drohung mit der Todesstrafe keinesfalls gegen alle verwirklicht werden könne und es sich erwiesen habe, dass der Hunger als Motiv für Protestaktionen stärker sei als die Furcht vor der strengsten Strafe. In der Tat ist das Standrecht bei einem Streik in Österreich im ersten Weltkrieg nie verhängt worden.
Erfolgreicher waren die Scharfmacher bei einer anderen Methode, nämlich die Arbeiter militarisierter Betriebe in so genannte "Landsturmarbeiter" zu verwandeln, sie auf diese Weise von Zivilisten formalrechtlich zu Soldaten zu machen und damit einen Streik dem Delikt der "Meuterei" gleichsetzen zu können. Das ist ab 1917 auch geschehen, allerdings begrenzt auf die tschechischen Industriegebiete und die Kohlenbergwerke. Dort gab es eine Reihe von Meutereiprozessen gegen "Streikrädelsführer", die mit Verurteilungen zu Kerkerstrafen bis zu drei Jahren endeten. In Österreich selbst ist die Verwandlung zum Landsturmarbeiter auf militärärarische Betriebe beschränkt geblieben, z.B. auf die Munitionsfabrik Wöllersdorf und das Wiener Arsenal, ohne dass man hier aber bei Streikaktionen Meutereiprozesse anzustrengen wagte. Die Hauptmethode der Streikbekämpfung blieb hier - neben sozialen Zugeständnissen, Lohnerhöhungen und Belieferungen mit mehr Lebensmitteln - der selektive Zugriff auf die "Unruhestifter" durch "Einrückend-Machung" zum Militär.

X.

Am Ende meines Referats möchte ich aus einem Dokument zitieren, um Ihnen zu illustrieren, wie sich das österreichische Unternehmertum im ersten Weltkrieg zur "Arbeiterfrage" verhielt. Es handelt sich um das Protokoll einer Sitzung des Eisenwirtschaftsrates vom 30. Oktober 1917, bei der alle Mächtigen vertreten waren: Kestranek als Generaldirektor der Prager Eisenindustriegesellschaft, Rothballer als Generaldirektor der Alpine-Montan, Günther als Generaldirektor der Österreichischen Berg- und Eisenhüttenwerke, Sonnenschein als Generaldirektor der Witkowitzer Bergbau- und Eisenhüttenwerke sowie noch einige andere. Die Namen tun nichts zur Sache. Es geht hier um Typen, um Vertreter eines Standes, deren Interessen und Bestrebungen über die Zeiten hinweg unverwandt dieselben bleiben. Einige ihrer Äußerungen werden uns deshalb auch frappant an das erinnern, was heute so gesagt wird und geschieht. Da die Herren unter sich waren, brauchten sie sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen, was uns Gelegenheit bietet, ihre wahre Denkweise kennen zu lernen. Kestranek: "Lohnerhöhungen lähmen den Tätigkeitsdrang der Arbeiter, da sie wesentlich mehr verdienen, als sie brauchen." Am Rückgang der Arbeitsleistungen im Bergbau sei nicht die Unterernährung schuld, sondern es "fehle am Leistungswillen". Sonnenschein: Dem Ansteigen der Krankmeldungen der Arbeiter müsse man dadurch begegnen, dass ab sofort Militärärzte nach "entsprechender Instruierung die Marodenvisiten" durchführen. Besonders kritisiert wurde, dass die kaiserliche Regierung seit Frühjahr 1917 auf Beschwichtigungskurs segelte und nun ein "Geist der Milde" in der Zivilverwaltung herrsche. Kestranek: "Nach einem Streik sind auf Order der Kabinettskanzlei sofort Nahrungsmittel eingelangt, sodass gewissermaßen Ernährungsprämien für den Streik gegeben worden sind." Günther bedauert, dass man die Standrechtspläne so schnell wieder aufgegeben habe und dass man bei Streiks vom Militärstrafgesetzbuch so selten Gebrauch mache: "Den Bergarbeitern muss wieder Respekt vor den Vorgesetzten beigebracht werden." Rothballer: Die Möglichkeit der militärischen Leiter, Arreststrafen zu verhängen, genüge nicht mehr. Kestranek: "Es müssen Exempel statuiert werden." Sonnenschein: Die Arbeiter seien ohne Patriotismus und zum großen Teil eine "disziplinlose Horde". Man müsse sie "wie Fahnenflüchtige behandeln."

XI.

Betrachtet man diese Äußerungen, dann wird klar, wer den Krieg nach innen im August 1914 eröffnete, um die damals wie heute normale Politik des Großkapitals, eine Politik zur Herbeiführung niedriger Löhne und maximaler Profite durchzusetzen. Wenn sich die österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter im großen Jännerstreik 1918 dagegen energisch zur Wehr setzten, dann war das nur allzu berechtigt. Gedenken wir deshalb heute, achtzig Jahre danach, jener hunderttausenden einfachen Männer und Frauen, die damals aufstanden, um gegen Imperialismus und Krieg, gegen Kujonierung und Ausbeutung, gegen Elend und Hunger, für den Frieden, Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Leben zu kämpfen.

Referat auf dem Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft zum Jännerstreik 1918 am 17. Jänner 1998 in Wiener Neustadt

 

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