Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Mali Fritz

Ich möchte aus den üblichen Berichten in Schulen ausspringen und ganz frei von zwei Begebenheiten sprechen, die mich betroffen haben und mich bis heute beschäftigen, umso mehr, als sie wieder sehr aktuell geworden sind.
Ich gehe auf einen Anfang zurück, der wohl nicht der Anfang war, aber einer der vielen Anfänge, die ich erlebt habe. Das war in Frankreich, im Jahr 1940, als die Flüchtlingsströme nach der Nazi-Invasion Hollands und Belgiens in Frankreich eingetroffen sind und das Land aufgeschreckt haben. Dann ist sehr bald auch die französische Verteidigung zusammengebrochen. Der sogenannte „komische“ Krieg nahm ein Ende, alles war in Auflösung, viele waren auf der Flucht. Zu diesem Zeitpunkt hat sich eine österreichische Gruppe in Paris zusammengetan, um nach Süden zu ziehen, um dem Anrollen der Nazitruppen in Paris zu entkommen. Wir - ich war mit dabei - sind bis Montauban gekommen, dort sind wir eine Zeitlang geblieben. Die Stadtverwaltung, oder wie sie sich auch genannt haben mag, war sehr tolerant und entgegenkommend. Toulouse war ganz in der Nähe, und so hatten wir noch einen Vorteil. In Toulouse war damals die illegale Leitung der KPÖ, und zu dieser Leitung gehörte Alfred Klahr. Er hat sich trotz dieser obskuren Situation, den vielen Behinderungen und Schwierigkeiten zum Trotz dazu bereit erklärt, Schulungsarbeit zu leisten. Das war in solchen Zeiten eine große Sache. Später sind wir von dort weitergezogen, je nachdem wo man Arbeit gesucht oder gefunden hat. Wir haben also damals, im Jahr 1940, das Auflösen eines Staatsgefüges erlebt. Es hat dann nicht den eigentlichen Frieden gegeben, sondern nur eine sehr sonderbare „Waffenruhe“. Tatsächlich habe ich damals erfahren und praktisch erlebt, daß es in den ländlichen Gebieten Ortschaften und Regionen gab, die schon seit dem Ersten Weltkrieg zerbrochen waren, wo es nach dem Ersten Weltkrieg keinen wirklichen Wiederaufbau oder ein Wiederaufleben gab. Einige von uns haben in Toulouse Arbeit gesucht, und dort haben wir die zweite Erfahrung gemacht: Die Toulouser Ärzte haben erklärt, daß sie nie zuvor in einem Winter solche Erfrierungen erlebt haben wie im Winter 1940/41. So haben wir also verstanden, daß alle Länder, die okkupiert, halbokkupiert oder so wie in Frankreich in einer „Waffenruhe-Zone“ gelebt haben, für die Versorgung des Deutschen Reiches ihr Teil zu leisten hatten. Das war für uns politisch sehr wichtig, zu verstehen, warum eigentlich die Versorgung in Deutschland so gut war: Weil sie sich aus all jenen Ländern, die sie besetzt hatten, fremde Arbeitskräfte geholt haben und die Länder schonungslos ausplünderten. Für Frankreich hat das bedeutet, daß solche schwere Erfrierungen zustandekamen, weil die Bevölkerung unterernährt war. Wie man weiß, haben die Franzosen eine Vorliebe für weißes Brot. Damals aber gab es überhaupt kein wirkliches Brot, nur etwas Gatschiges.
Im Jahr 1940 ist es noch halbwegs gegangen. 1941 aber wurden die Razzien in den Straßen und auf den Plätzen immer häufiger. Wir wußten nicht, was wir zu erwarten haben, bis es dann so weit war: Im Frühjahr 1941 wurden mehr als zwanzig Österreicherinnen und Österreicher - wir wissen die Zahl bis heute nicht ganz genau - verhaftet. Im Herbst 1941 kamen wir vors Militärgericht. Es hat sich herausgestellt, daß die Anklage sehr gerne ein Exempel statuiert hätte, daß aber die Militärs, d.h. die Richter, nicht mitgezogen haben. Wir haben hier erlebt, daß es auch im Militär einen Riß gab in bezug auf das Verhalten zu ihrer eigenen Situation. Wir haben den Vorzug gehabt, daß unter den Angeklagten die Genossen Arpard Haas und Otto Heller mit dabei waren. Der eine war ein Experte für wirtschaftliche Fragen des Donauraumes, und der andere war ein Schriftsteller, sehr bewandert in der französischen Literatur, was bei diesen Offizieren großen Eindruck machte. Haas und Heller haben wirklich die Sache Österreichs vertreten. Beiden Genossen gelang es auch, daß zwei sehr wortgewandte, südländische Franzosen sie verteidigten, und so sind wir halbwegs davongekommen.
Ich komme nun zu einem anderen „Ende“. 1945 bin ich bei der Evakuierung des Konzentrationslagers Ravensbrück mit der Hermi Jursa ausgebrochen, die manche von Euch kennen. Wir sind sechs Wochen lang nach Wien gehatscht. Marschiert, gehatscht, auch in Militärdienstwagen der Roten Armee mitgefahren, und am Ende wankend in Wien angelangt. Ich war also damals wieder in einer Zeit des Zusammenbruchs unterwegs. Diesmal war das Deutsche Reich zusammengebrochen. Wir sind den Rotarmisten auf dem Weg nach Berlin begegnet. Wir waren oft die einzigen Zivilisten, die herumirrten. Auf der Suche nach Eisenbahnen haben wir einen falschen Weg eingeschlagen, sind zuerst nach Küstrin an die Oder marschiert. Dort sind wir zu dem Zeitpunkt angelangt, als die neue Grenze zu Polen festgesetzt war, und haben den Strom der deutschen Flüchtlinge aus dem Osten erlebt. Wir waren mitten in diesen Flüchtlingsströmen. Einerseits gab es die Polen, die Franzosen, die Italiener, alle möglichen Nationalitäten, die heimwärts gezogen sind, andererseits die deutsche Bevölkerung auf der Flucht nach dem Westen. Wir sind oft durch Dörfer gezogen, die vollkommen leergefegt waren. Es war kein Mensch dort, das Dorf schien ausgestorben, alles war geflüchtet. Wir glaubten, daß die Bewohner gezwungen wurden zu flüchten und in den Westen zu ziehen. Wir sind auch noch streunenden SS-lern begegnet. Wir haben so getan, als wären wir bombengeschädigt, denn wir waren nicht sicher, wie man uns „empfangen“ wird. Und die SS-ler haben uns gesagt, daß sie die Absicht haben, weiterzukämpfen. So haben wir gewußt, daß es hier noch einen Riß gibt und daß es noch gar nicht so ist, daß der Krieg zu Ende ist.
Die ersten Flüchtlinge, mit denen wir gemeinsam untergebracht waren, deutsche, nach dem Westen ziehende Flüchtlinge, die haben mich geschockt. Da hat mich ein älteres Frauerl angeweint, ich soll auch sagen und zugeben, daß Hitler uns nicht so geliebt habe, wie sie alle geglaubt hatten. Denn sonst hätte er ihnen das nicht antun können: „Russen auf deutschem Boden“. Dieser Schock hat mich bis heute immer von neuem gebeutelt. Und jetzt höre ich diese Töne wieder, die so lange zurückgehalten wurden. Das Deutsche Reich war zerbrochen. Aber wir haben niemals während unseres ganzen Weges bis nach Wien von jemand gehört, daß es einen Krieg gegeben hatte. Alle haben nur darüber geklagt, was jetzt und heute passierte, als wäre der Krieg erst Ende April, Anfang Mai 1945 ausgebrochen, und zwar gegen Deutschland.
Wir sind weitergezogen nach Dresden. Wir wußten ja nicht, was uns in Dresden erwartet. Da ist uns eine junge Deutsche begegnet, die uns erzählte, daß sie mit einem Spanienkämpfer verheiratet war. Wir haben uns sehr gut verstanden, denn es war das erste Mal, daß wir einem Menschen begegneten, der nicht die Sprache der anderen Deutschen gesprochen hat. Und da wir uns so gut verständigt haben, hat sie gesagt: „Ihr solltet nicht weiterziehen, ihr solltet hier bleiben“. Ich frage: „Warum denn?“. Sagt sie: „Schau Deutschland an, was aus Deutschland geworden ist, man muß es ja wieder aufbauen“. Habe ich gesagt: „Mit mir, warum?“. Wir hatten unterwegs von den sowjetischen Soldaten ja schon gehört, was aus Warschau geworden ist. Und ich versuchte ihr zu erklären: Warum sollte ich hier aufbauen helfen? Und da habe ich gemerkt, daß sie mich nicht versteht. Diese jungen Deutschen, die aus der Schule direkt in die Kriegsjahre hineingeraten sind, sind ja damit aufgewachsen, daß Deutschland Ansprüche hat: Wenn es den ukrainischen Boden will, muß es sich ihn holen, und wenn es Arbeitskräfte braucht, muß es sich Nicht-Herrenmenschen holen. In Wirklichkeit haben alle besetzten Länder dazu beitragen müssen, diesen Krieg zu führen, weil die Nazi „niedere“ Menschenrassen, fremde Arbeitskräfte eingesetzt haben und weil die besetzten Länder die Versorgung zu leisten hatten.
So sind eigentlich diese Dinge von der Masse der deutschen Bevölkerung nie wirklich durchschaut worden, weil sie diesen Aspekt des Krieges ignorierten. Umgekehrt haben wir unterwegs erfahren, was sich in der Tschechoslowakei abspielt. Ich habe das so verstanden: Der Krieg ist noch nicht aus. Jetzt hört man wieder andere Töne, jetzt reklamieren eigentlich alle, die irgend etwas im Deutschen Reich verloren haben, ihre Güter zurück und fordern Wiedergutmachung. Und damals habe ich die Vertreibung verstanden, wenn auch nicht gebilligt und habe der Hermi gesagt: Wir gehen nicht durch die Tschechoslowakei. Ich kann nicht tschechisch reden, bevor ich da lang und breit erkläre, woher, wohin, werden wir unsere Zähne verloren haben, so war das.
Danach kamen wir an eine Linie, an der die englischen Soldaten gestanden sind. Ich habe mir noch gedacht, ich werde sehr klug sein und werde englisch mit ihnen reden. Mehr habe ich nicht gebraucht. Sie haben mir erklärt, ich suche nur das süße Leben bei den Soldaten, die Schokolade haben. Sie müßten aber den Flüchtlingsweg nach Westen absperren, weil sie nicht so viele Flüchtlinge ernähren könnten. Und da bin ich wütend geworden und habe ihnen gesagt: Ich ziehe nach Wien, ich ziehe nicht ins englische Gebiet oder ins amerikanische. „Na“, hat er gesagt, „noch ein Wort und ich schieße euch über den Haufen“. Da sagte ich zu Hermi: „Und ich habe geglaubt, daß das der letzte Krieg bleibt."
Jetzt ist es mir auch in Schulen passiert, daß mich Lehrer ermahnt haben, ich könne nicht vom Krieg reden, weil der Krieg eine Sache der Männer war und ich nicht an der Front war. Ich habe ihnen daraufhin erklärt, daß für mich Auschwitz nicht existieren hätte können, hätte es diesen Krieg nicht gegeben. Hier werde ich wieder an das erinnert, was mich seither nie mehr losgelassen hat. An den Glauben der Leute, daß der Krieg etwas Natürliches, Selbstverständliches, nichts Skandalöses gewesen sei, und er für sie erst Ende April/Anfang Mai 1945 begonnen habe, dann erst, als es sie persönlich traf.

Statement auf dem Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft „50 Jahre Zweite Republik“, 8. Mai 1995

 

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