| |
Hans Hautmann: Der Beitrag der Sowjetunion zum Aufbau einer demokratischen
österreichischen Verwaltung im Jahr 1945
Die Einsetzung der provisorischen Renner-Regierung durch den Oberbefehlshaber
der 3. Ukrainischen Front, Marschall Tolbuchin, war nicht nur die logische
Konsequenz des Eintretens der Sowjetunion für die Wiederherstellung der Republik
Österreich in den Grenzen von 1937, sondern auch ein Schritt, der die
entscheidende Grundlage für die Wiedererrichtung eines unabhängigen,
selbständigen und vor allem einheitlichen österreichischen Staates schuf. Für
die Sowjetunion bedeutete die Einsetzung einer österreichischen Regierung nicht
nur eine Erleichterung ihrer Besatzungsaufgaben, sie war auch das weithin
sichtbare Signal der de facto-Trennung Österreichs vom Deutschen Reich, eines in
der Moskauer Deklaration verankerten Kriegszieles der Anti-Hitler-Koalition. Mit
der Einsetzung der Renner-Regierung betonte die Sowjetunion nachdrücklich ihren
Standpunkt, dass sie die unter den Westmächten immer noch schwelende Diskussion
über die Zukunft Österreichs – Stichwort: Plan einer Donauföderation – für
endgültig erledigt betrachtete. Zugleich muss festgehalten werden, dass jene
Persönlichkeiten, die im April 1945 das sowjetische Angebot, eine provisorische
Regierung zu bilden, annahmen, in wahrstem Sinne des Wortes patriotisch
handelten, weil sie damit österreichischen Interessen den Vorrang vor Plänen
gaben, die später, in den Jahren des Kalten Krieges, möglicherweise zur
Zerreißung unseres Staates führen hätten können.
Die Bildung der Renner-Regierung hatte also für die Bewahrung der
Einheitlichkeit des österreichischen Staates wie für seine Stellung auf
internationaler Ebene außerordentliche Bedeutung. Man konnte es aber dabei nicht
bewenden lassen, sondern musste darangehen, in Übereinstimmung mit dem
antifaschistischen und demokratischen Grundauftrag sowie in Zusammenwirken mit
der sowjetischen Besatzungsmacht neue, demokratische Verwaltungsorgane
aufzubauen, Organe, die ein Funktionieren des in Trümmer liegenden
wirtschaftlichen und staatlichen Mechanismus zu gewährleisten hatten.
Die politischen Rahmenrichtlinien der Besatzungspolitik in Österreich waren in
der Jalta-Deklaration über das befreite Europa festgelegt worden, in der die
drei Hauptmächte der Anti-Hitler-Koalition übereinkamen, „den von der Herrschaft
des nazistischen Deutschland befreiten Völkern und den Völkern der früheren
Vasallenstaaten der Achse Europa bei der auf demokratischem Wege
herbeizuführenden Lösung ihrer dringenden politischen und wirtschaftlichen
Probleme beizustehen.“1 Weiters hieß es in der Jalta-Deklaration,
dass den befreiten Völkern Unterstützung bei der Beseitigung der Spuren des
Faschismus, bei der Schaffung demokratischer Einrichtungen nach eigener Wahl und
bei der Bildung provisorischer Regierungen, in denen alle demokratischen
Elemente vertreten sein sollten, zu leisten sei.
Aufbauend auf diesem prinzipiellen Beschluss setzte der Oberbefehlshaber der 3.
Ukrainischen Front, Marschall Tolbuchin, wenige Tage vor dem Überschreiten der
österreichischen Grenze die „Provisorische Verordnung über Kriegskommandanturen
auf dem durch sowjetische Truppen eingenommenen Territorium Österreichs“ in
Kraft. Gemäß dieser Direktive sollten in allen größeren Orten und Städten
Kommandanturen eingerichtet werden, die sich – wie es hieß – „in ihrer Arbeit
von der Moskauer Deklaration“ zu leiten hatten.2 Zentraler Punkt der
Anweisungen an die sowjetische Orts- bzw. Stadtkommandanten war der Auftrag, die
Verwaltung des Landes sofort in die Hände von Zivilisten zu legen. Es wurden „Dorfälteste“
(Starosti) bzw. Bürgermeister ernannt, die ihrerseits Verwaltungsorgane
aufzubauen hatten. Die Ernennungen erfolgten in den ersten Tagen, ja oft schon
in den ersten Stunden der Besetzung eines Ortes oder einer Stadt. Aus Wien ist
bekannt, dass die Rote Armee in den Bezirken, die sie gerade erobert hatte,
Antifaschisten mit Verwaltungsfunktionen auf dem Gebiet der Wirtschaft, der
Ernährung, des Wohnungswesens, ja sogar des kulturellen Lebens betraute, während
in anderen Stadtteilen noch erbittert gekämpft wurde.
Allgemein lässt sich feststellen, dass die Einsetzung von Verwaltungsorganen
durch sowjetische Kommandanten sich auf die Zeit der unmittelbaren
Kampfhandlungen auf österreichischem Gebiet beschränkte. In jenen Gebieten, die
die Rote Armee erst nach dem 23. April 1945 besetzte – von diesem Tag bis zur
deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 waren die Frontlinien in Österreich
praktisch stabil – , erfolgte die Schaffung ziviler Verwaltungsorgane in der
Mehrzahl der Fälle bereits durch österreichische Stellen wie
Bezirkshauptmannschaften oder die ansässige Bevölkerung.
Der „Provisorischen Verordnung“ Marschall Tolbuchins und der Bildung ziviler
Machtorgane lagen sowjetischerseits folgende Prinzipien zugrunde:
1. Die Auflösung der NSDAP und ihrer Organisationen;
2. Die Aufhebung der nationalsozialistischen Gesetzgebung;
3. Die Sicherung der normalen Tätigkeit von Handels- und Industrieunternehmen;
4. Die Wiederingangsetzung von Krankenhäusern, Schulen, kommunalen
Unternehmungen und ähnlichen Einrichtungen;
5. Die Sicherstellung des Anbaus in der Landwirtschaft, um eine weitere
Zuspitzung der prekären Versorgungssituation hintan zu halten.3
Bei der Betrachtung des Themas muss berücksichtigt werden, dass die
Kriegsereignisse nach und nach zu einer Zerrüttung der nationalsozialistischen
Verwaltung und schließlich zu deren völligen Zusammenbruch geführt hätten. Es
war auf dem Gebiet der Verwaltung ein Vakuum entstanden, das es unverzüglich
aufzufüllen galt. Maßgebend für den – auch aus heutiger Sicht – verblüffend
schnellen Wiederaufbau der österreichischen Verwaltung im Jahr 1945 waren
zweifellos sowohl Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht als auch die
Initiativen österreichischer Antifaschisten, die teilweise aus eigenem
darangingen, Verwaltungszentren auf niederer Ebene neu zu schaffen, vor allem
aber die Tatsache, dass binnen kürzester Frist die demokratischen Parteien ÖVP,
SPÖ und KPÖ ihre Tätigkeit entfalten konnten.
Der Wiederaufbau der österreichischen Verwaltung soll an zwei Beispielen, dem
des Sicherheitswesen in Wien und dem der Errichtung der Zivilverwaltung in
Niederösterreich illustriert werden.
Wien
Auf dem Gebiet des Sicherheitswesens stellte sich die Lage so dar, dass die
meisten der nationalsozialistischen Polizeioffiziere und Beamten sich beim
Herannahen der sowjetischen Truppen nach Westen abgesetzt hatte, die übrig
gebliebenen Polizisten während der Kampfhandlungen ihren Dienst verließen, ihre
Uniformen wegwarfen und untertauchten. Es gab also unmittelbar nach der
Befreiung in Wien keinerlei Organisation für die öffentliche Sicherheit.
Die einzige Ordnungsmacht und vorerst einzige Autorität im Bereich der Stadt
Wien war die Rote Armee. Ihre örtlichen Kommandanten setzten in den Wiener
Bezirken Bezirksbürgermeister ein und schufen Bezirkspolizeistellen.
Um die Zivilverwaltung in Wien zusammenzufassen, wurde am 17. April 1945 General
a. D. Theodor Körner zum Bürgermeister ernannt und am selben Tag zum Zweck der
Koordinierung des Sicherheitsdienstes der „Polizeiliche Hilfsdienst für die
Kommandantur der Stadt Wien“ errichtet. Zum Polizeichef von Wien wurde vom
Stadtkommandanten, Generalleutnant Blagodatow, Rudolf Hautmann ernannt, ein
Antifaschist, der sich als von der Roten Armee im 11. Wiener Gemeindebezirk,
Simmering, eingesetzter Wirtschaftsleiter in Tagen zwischen dem 9. und 17. April
1945 bewährt hatte.4
Bürgermeister Körner wies dem Polizeilichen Hilfsdienst das Gebäude der
niederösterreichischen Landesregierung in der Herrengasse in Wien als
provisorischen Amtssitz zu, wo am 20. April 1945 im Beisein des sowjetischen
Verbindungsoffiziers, Hauptmann Komarow, die erste Sitzung stattfand. Auf ihr
wurden folgende Richtlinien für die Tätigkeit des Polizeilichen Hilfsdienstes
festgelegt:
1. Schaffung eines neuen, demokratischen Polizeikaders;
2. Maßnahmen zur Gewährleistung von Ruhe und Ordnung und zum Schutz vor
Plünderungen;
3. Ausforschung und Verhaftungen ehemals führender Nationalsozialisten,
SS-Leute, Gestapoagenten und Kriegsverbrecher;
4. Inangriffnahme der Uniformierung, Löhnung und Bewaffnung der Angehörigen des
Polizeilichen Hilfsdienstes;
5. Bewachung und Schutz von Betrieben und wichtigen Wirtschaftsobjekten.
Die Mitglieder des Polizeilichen Hilfsdienstes wurden angewiesen, „nicht zu
schematisieren und zu bürokratisieren, sondern stets mit ihren Aufgaben nach
außen zu treten und mit der Bevölkerung in guter Fühlung zu bleiben.“5
Der Polizeiliche Hilfsdienst war bemüht, eine einheitliche Sicherheitsbehörde
aufzubauen und lud deshalb Angehörige der ehemaligen Polizeidirektion Wien, die
von den Nationalsozialisten entfernt oder gemaßregelt waren, zur Mitarbeit und
fachlichen Beratung ein.
Auf diese Weise gelang es binnen weniger Tage, ein organisatorisches Grundgerüst
zu errichten. Zum Zweck der Verhinderung von Plünderungen schuf man eine
Alarmeinheit mit ständiger Einsatzbereitschaft in der Stärke von 400 Mann. Die
Personalabteilung hatte die Aufgabe, bei der Aufnahme von Personal strenge
Maßstäbe anzulegen und alle diejenigen, die in fachlicher oder moralischer
Hinsicht nicht entsprachen, zu entfernen. Dem Fahndungsdienst oblag die
Registrierung und Ausforschung der Nationalsozialisten. Er war Vorgänger des
späteren staatspolizeilichen Büros.
Die sowjetische Besatzungsmacht leistete dem Polizeilichen Hilfsdienst in
vielfältiger Weise Unterstützung. Sie stellte ihm für die einheitliche
Uniformierung 5000 Kleidungsstücke zur Verfügung, die aus beschlagnahmten
deutschen Militär- und Polizeibeständen stammten. Aus den Kontingenten der
Maispende der Roten Armee an Lebensmitteln wurden den Mitgliedern des
Polizeilichen Hilfsdienstes in zentralen Küchen Mahlzeiten verabreicht und
Esspakete übergeben. Von den herrenlos in Straßen Wiens herumstehenden
Kraftfahrzeugen wurde ein Teil dem Polizeilichen Hilfsdienst zur Verfügung
gestellt. In Einvernehmen mit der sowjetischen Kommandantur und den nationalen
Lagerkomitees organisierte der Polizeiliche Hilfsdienst die möglichst rasche
Rückkehr ausländischer Häftlinge der Konzentrationslager, von Kriegsgefangenen
und verschleppten Zwangsarbeitern in ihre Heimat.
Die Tätigkeit des Polizeilichen Hilfsdienstes, der, rechtlich gesehen, eine
Hilfsorganisation der sowjetischen Kommandantur gewesen war, endete am 13. Mai
1945, als das von der Renner-Regierung beschlossene
Verfassungsüberleitungsgesetz in Kraft trat, nach dem die Bundesverfassung in
der Fassung von 1929 wieder wirksam wurde. An seine Stelle trat mit Kundmachung
vom 13. Juni 1945 die wiedererrichtete Wiener Polizeidirektion. Der Großteil der
etwa 7200 Angehörigen des Polizeilichen Hilfsdienstes – 6800 Personen – wurde in
den Personalstand der neuen Polizeidirektion übernommen und in den
Exekutivapparat eingebaut.6
Niederösterreich
Für die Praxis der sowjetischen Militärdienststellen bei der Übertragung von
Verwaltungsagenden ist das Beispiel des Bundeslandes Niederösterreich besonders
signifikant.
Niederösterreich zerfiel in den Wochen bis zum 8. Mai 1945 gewissermaßen in zwei
Zonen: jene Zone, die von den sowjetischen Truppen in schweren Kämpfen bereits
befreit worden war, und jene Zone, die erst nach der bedingungslosen
Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai besetzt wurde. In der ersten Zone
wurde das verwirklicht, was vorhin schon bei den allgemeinen Bemerkungen zur
sowjetischen Praxis der Verwaltungsübertragung gesagt worden ist: Die
sowjetischen Kommandanten setzten, so rasch es nur ging, Bürgermeister ein,
übten also direkten Einfluss auf die Bestellung eines Ortsobersten aus. Ebenso
schnell vollzog sich die Weichenstellung auf zentraler Landesebene. Bereits am
13. April 1945 ergriffen Leopold Figl und Oskar Helmer als Vertreter der zwei
größten Parteien im einstigen niederösterreichischen Landtag die Initiative zum
Aufbau der Landesverwaltung. Sie stellten am 17. April an den Wiener
Stadtkommandanten, Generalleutnant Blagodatow, das Ansuchen zur Bildung eines
provisorischen Landesausschusses, das von Blagodatow einen Tag später bewilligt
wurde.7
Man ersieht daraus, dass die sowjetischen Militärorgane stets zwei Ziele vor
Augen hatten: Erstens für die Einsetzung eines zentralen Regierungs- und
Verwaltungsorgans, bestehend aus Vertretern der demokratischen Parteien, Sorge
zu tragen, und zweitens auf der unteren Ebene örtliche Verwaltungsstellen zu
schaffen, die alle anstehende Probleme einer Lösung zuzuführen hatten.8
Für die Besetzung der Verwaltungsstellen auf mittlerer Ebene, also der Ebene der
Bezirkshauptmannschaften, wurden sowjetischerseits hingegen nur allgemeine
Richtlinien vorgegeben, die personelle Entscheidung wurde den Österreichern
überlassen. So verfuhr man z. B. in jenem Teil Niederösterreichs, der erst nach
dem 8. Mai 1945 besetzt wurde.
Drei Tage später, am 11. Mai 1945, gaben die Marschälle Tolbuchin und Malinowski
das Land Niederösterreich auch offiziell für die österreichische Zivilverwaltung
frei, gaben der niederösterreichischen Bevölkerung ihre Selbstverwaltung zurück.9
In dem am 12. Mai 1945 konstituierten provisorischen Landesausschuss fungierte
Ing. Leopold Figl von der ÖVP als Landeshauptmann, Oskar Helmer von der SPÖ als
1. und Ing. Otto Mödlagl von der KPÖ als 2. Landeshauptmannstellvertreter. Der
Landesausschuss nahm eine Reihe wichtiger Arbeiten in Angriff. Zu den
vordringlichsten Problemen gehörten die Ernährung der Bevölkerung, die
Verbesserung der katastrophalen Verkehrssituation, die Sicherheitsverhältnisse,
die Information der Bevölkerung und der Aufbau der Verwaltung auf der Ebene der
Bezirkshauptmannschaften und Gemeinden.
Die Ernährungslage Niederösterreichs war im Frühjahr 1945 sehr schwierig, weil
wichtige Agrargebiete unmittelbarer Kriegsschauplatz gewesen waren und die
deutschen Truppen Lebensmittelbestände entweder nach Westen abtransportiert oder
vernichtet hatten. Die verbliebenen Depots wurden im Verlauf der Kampfhandlungen
von sowjetischen Truppen beschlagnahmt, und das Bestreben des
niederösterreichischen Landesausschusses ging dahin, die Vorratslager für die
Verteilung an die Zivilbevölkerung freizubekommen. Die dazu notwendigen
Vorsprachen bei den sowjetischen Militärdienststellen waren in den meisten
Fällen von Erfolg begleitet. Im Sommer 1945 verbesserte sich durch energische
Maßnahmen des niederösterreichischen Landesernährungsamtes und der
Bezirksernährungsämter sowie durch die Sicherung der Ernte, auf die die
sowjetischen Stellen besonders drängten, und eine engere Kooperation zwischen
Wien und Niederösterreich auf dem Ernährungssektor spürbar die Lage.
Auf dem Gebiet des Verkehrs ging das Bestreben des Landesausschusses dahin,
Kraftfahrzeuge in Dienst nehmen zu können, um einerseits der kritischen
Ernährungslage in Ballungsgebieten wirksam entgegentreten zu können und
andererseits regelmäßige Kontakte zu untergeordneten Dienststellen der
Verwaltung herstellen zu können. Einer der ersten Schritte des
niederösterreichischen Landesausschusses war es daher, in einer Vorsprache mit
den sowjetischen Stellen das Verfügungsrecht über herrenlose Kraftfahrzeuge zu
erhalten. Die Automobilverwaltung der 3. Ukrainischen Front bewilligte ein
solches Ansuchen am 9. Juni 1945 und gestattete den österreichischen Stellen,
für die zivile Verwaltung alle Kraftwagen ohne Besitzer zu erfassen. Von großer
Bedeutung für die Verbesserung der Verkehrslage wurden die Reparaturen der
Donaubrücken und Eisenbahnstrecken durch sowjetische Pioniertruppen.
Auf dem Gebiet des Sicherheitswesens dauerte es in Niederösterreich im
Unterschied zu Wien, wo sehr rasch ein Polizeilicher Hilfsdienst aufgestellt
werden konnte, etwas länger, bis das durch den Zusammenbruch des
nationalsozialistischen Regimes entstandene Vakuum mit verlässlichen Beamten
gefüllt werden konnte. Ein Schritt dahin war die Schaffung der
Sicherheitsdirektion für Niederösterreich, die aufgrund des
Behördenüberleitungsgesetzes der Renner-Regierung im Juli 1945 erfolgte. Der
Sicherheitsdirektor von Niederösterreich, Dr. Franz Baier, ging beim
Wiederaufbau der Gendarmerie und Polizei stets in Einvernehmen mit sowjetischen
Stellen, in der Regel mit dem für niederösterreichische Landesangelegenheiten
verantwortlich Generalleutnant Morosow, vor.
Auf dem Gebiet der Information war die vordringlichste Aufgabe die Gründung
eines Mitteilungsblattes des provisorischen Landesausschusses, um auch in
entlegenen Regionen Niederösterreichs den Aufbau der Verwaltung nach
einheitlichen Normen durchführen zu können. Es wurde die Wochenzeitung „Amtliche
Nachrichten des provisorischen Landesausschusses für Niederösterreich“
gegründet, die sich nicht nur auf den Abdruck amtlicher Verlautbarungen
beschränkte, sondern auch die für Niederösterreich wichtigen politischen und
wirtschaftlichen Nachrichten veröffentlichte. Ähnlich der Tageszeitung „Neues
Österreich“ wurde sie von den drei Parteien ÖVP, SPÖ und KPÖ gemeinsam
herausgegeben. Als Landeshauptmann Figl am 20. Mai 1945 bei Generalleutnant Morosow den Antrag zur Herausgabe der „Amtlichen Nachrichten“ stellte und darum
bat, einen Zensor der Roten Armee zur Verfügung zu stellen, antwortete Morosow,
dass er keine Einwände habe, da die Herausgabe eines Mitteilungsblattes „eine
Angelegenheit der zivilen Verwaltung sei“; eine Zensur durch die sowjetische
Besatzungsmacht, so Morosow, sei nicht notwendig und solle vom provisorischen
Landesausschuss selbst ausgeübt werden.10 Die „Amtlichen Nachrichten“
hatten für den Aufbau einer einheitlichen Verwaltung in Niederösterreich große
Bedeutung, weil darin die Bürgermeister, Bezirkshauptleute und provisorischen
Ortsausschüsse regelmäßig über neu beschlossene Gesetze und Verordnungen
informiert wurden.
Schon im Sommer 1945 konnte der niederösterreichische Landesausschuss in einer
offiziellen Verlautbarung feststellen, dass es, wie es wörtlich hieß, „durch die
verständnisvolle Unterstützung der Roten Armee“ gelungen sei, dass der gesamte
Verwaltungsapparat in Niederösterreich bereits funktioniere und das schwerste
Stück Pionierarbeit bereits geleistet sei.11
Grundzüge der sowjetischen Österreichpolitik
1. Die sowjetische Österreichpolitik im Jahr 1945 legte in der Frage, ob
Österreich als „besiegtes“ oder als „befreites“ Land zu behandeln sei, den
Akzent eindeutig auf die Befreiungsmission. Sie unterschied sich damit von der
Haltung der Westmächte, die Österreich eher als besiegtes Land betrachteten und
deren Planung für Österreich einen länger dauernden Demokratisierungsprozess
unter alliierter Militäraufsicht vorsah, der erst in der letzten Phase zur
Errichtung einer eigenen österreichischen Regierung und Verwaltung führen
sollte. Die westlichen Alliierten hatten eine eigenständige österreichische
Initiative in diesem Prozess nicht vorgesehen, was auf sowjetischer Seite sehr
wohl der Fall war.12
2. Das sowjetische Vorgehen in Österreich unterschied sich auch merklich von dem
in Deutschland. Während die sowjetische Militäradministration in ihrer
Besatzungszone in Deutschland selbst daranging, deutsche
Zentralverwaltungsbehörden zu installieren, blieb diese Aufgabe in Österreich
österreichischen Stellen vorbehalten. Während die Verwaltungsbehörden in Wien
und Niederösterreich sehr früh ein kräftiges Eigenleben entwickeln konnten und
ein relativ großes Maß an Unabhängigkeit erhielten, auch sehr bald von den
sowjetischen Stellen die Verwaltungshoheit übertragen bekamen, bleiben die
Zentralverwaltungen in Deutschland im Jahr 1945 ein Hilfsorgan der sowjetischen
Militäradministration ohne eigene Machtkompetenz.
3. Die Sowjetunion behielt auch im Falle Österreichs ihre bis dahin in den
befreiten Ländern Ost- und Südeuropas geübte Praxis bei, nämlich die
Verantwortung für die Verwaltung der freigekämpften Gebiete möglichst rasch an
nationale Repräsentanten zu übertragen. Diese Praxis war sowohl politisch
motiviert als auch militärisch bedingt. Politisch motiviert, weil ein Ignorieren
oder Beiseiteschieben demokratischer Initiativen der ansässigen Bevölkerung der
Mission der Anti-Hitler-Koalition, den befreiten europäischen Völkern bei der
Ausmerzung des Faschismus und der Normalisierung des täglichen Lebens
Unterstützung zu gewähren, nicht entsprochen hätte; militärisch bedingt, weil
man sich sowjetischerseits nicht mit ausgedehnten Militärverwaltungsaufgaben
belasten wollte, sondern die Offiziere der Roten Armee für die rein
militärischen Aufgaben freizuhalten suchte. Das Konzept der wohl zentralen
Persönlichkeit der damaligen sowjetischen Österreichpolitik, des Generalobersten
Alexej Sheltow, Mitglied des Kriegsrates der 3. Ukrainischen Front, ging
vielmehr dahin, ein eher unkompliziertes Verwaltungssystem zu schaffen und die
Tätigkeit der Militärkommandanturen sofort einzuschränken, sobald irgendeine
österreichische Bezirksbehörde zu amtieren begann. Bei der Auswahl der
Starosten, Dorfältesten, Bürgermeister, Bezirkshauptleute usw. ging man
keineswegs willkürlich vor, sondern akzeptierte meist diejenigen, die von
österreichischer Seite vorgeschlagen wurden.
4. Die österreichischen HistorikerInnen, die sich in den letzten Jahren in
Büchern und Aufsätzen mit der Besatzungszeit beschäftigt haben, sind sich darin
einig, dass die sowjetischen Militärdienststellen gegenüber der Renner-Regierung
und allen anderen an der Wiedererrichtung Österreichs wirkenden Stellen eine bei
weitem liberalere Haltung an den Tag legten als die westlichen Alliierten in
ihren Besatzungszonen.13 Diese Haltung modifizierte sich erst im
Herbst 1945, nach der Errichtung der Alliierten Kommission für Österreich, als,
proportional dem Anwachsen der interalliierten Spannungen und aufgrund des 1.
Kontrollabkommens, die österreichische Verwaltung in allen Besatzungszonen
bestimmten Reglementierungen unterworfen wurde. Dazu gehörte die Pflicht, der
sowjetischen Kontrollkommission in Niederösterreich turnusmäßig über alle
Vorgänge von politischer Relevanz Bericht zu erstatten und das Verlangen der
sowjetischen Stellen, über die Namen aller Personen, die ein öffentliches Amt
bekleideten, informiert zu werden.
Zusammenfassung
Welche Folgen hatten die eben genannten Prinzipien und Merkmale der
sowjetischen Österreichrepublik im Jahr 1945?
Dadurch, dass man die Schaffung der zentralen Administration der
Renner-Regierung überließ, war der Verwaltung von Anfang an eine österreichische
Oberinstanz gegeben worden, die bei weitem flexibler agieren konnte als etwa
eine überbürokratisierte alliierte Aufsichtsbehörde. Österreich gewann durch die
Einsetzung der Renner-Regierung Monate für den raschen Beginn des Wiederaufbaus.
Durch die sowjetische Initiative ergab sich eine günstige Situation, weil damit
die provisorische Renner-Regierung an die Reorganisation der demokratischen
Institutionen schreiten konnte und die Länder und Gemeinden rascher
demokratische Vertretungsorgane erhielten, als dies durch bloß alliierte
Maßnahmen oder unter Ägide einer gemeinsamen Militärregierung geschehen hätte
können.
Bei all dem Gesagten muss berücksichtigt werden, dass die Verhältnisse des
Jahres 1945 kein Verwalten in herkömmlichem Sinn erlaubten. Es war damals nicht
die Zeit für bürokratisches Administrieren, für ein abstraktes Dirigieren vom
Schreibtisch aus. Man musste selbst Hand anlegen, Selbstinitiative entfalten,
man musste improvisieren, Organisationstalent zeigen, man musste mit dem
Einfachsten, dem Elementarsten beginnen und wie bei jedem neuen Bau zuerst das
Fundament legen. Verwalten hieß damals engsten Kontakt zu den Menschen in den
Dörfern und Städten, in den Betrieben, Werkstätten und Bauernhöfen pflegen.
Verwalten hieß damals, die Tatkraft jedes Einzelnen wecken, die Menschen an der
Basis zur demokratischen Mitwirkung an der Durchführung der notwendigen
Maßnahmen hinführen. Dass das in jenen Tagen zu einem erheblichen Teil gelang,
beweist, wie sehr die Antifaschisten von einer Stimmung des Aufbruchs, von einem
neuen, einem Österreichbewusstsein erfüllt waren.
Es wäre eine idyllische Betrachtungsweise, wollte man die Schwierigkeiten des
Jahres 1945, auch die, die sich im Verhältnis zwischen der sowjetischen
Besatzungsmacht und den österreichischen Verwaltungsstellen ergaben, übersehen
oder gar leugnen. Sie verblassen aber vor dem großen Werk, das beide Seiten in
diesen Wochen und Monaten vollbrachten. So sah es auch Karl Renner, als er in
einem Interview für die „Österreichische Zeitung“ vom 22. September 1945 auf die
Frage, worin er den Haupterfolg der bisherigen Tätigkeit der Staatsregierung
sehe, antwortete. Renner sagte:
„Das österreichische Volk war im April 1945 ein Volk ohne Staat, ohne Verwaltung
und Gerichtsbarkeit. Heute ist die staatliche Organisation wieder vollständig
hergestellt und die öffentliche Ruhe und Ordnung gesichert, soweit die
Kriegsfolgen das ermöglichen. Österreich hat sich zur Selbstverwaltung reif
gezeigt.“14
Auf die zweite Frage, welche Hilfe die Rote Armee beim österreichischen
Wiederaufbau erwies, antwortete Karl Renner:
„Ihr verdanken wir, dass sie uns über jedes Gebiet, das von Kriegshandlungen
frei war, die Zivilverwaltung anvertraut hat. Selbstverständlich ist die
okkupierende Macht nach Kriegsrecht oberster Herr im Land, aber sie hat uns die
Ausübung unserer behördlichen Funktionen erleichtert und uns dabei in jeder
Weise unterstützt.“15
Anmerkungen:
1/ Teheran – Jalta – Potsdam. Dokumentensammlung, Moskau 1978, S. 203
2/ Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945, Diss., Wien
1977, S. 136
3/ Siehe: UdSSR – Österreich 1938–1979. Dokumente und Materialien, Moskau 1980,
S. 19 ff.
4/ Hans Hautmann, Der Polizeiliche Hilfsdienst für die Kommandantur der Stadt
Wien im Jahr 1945, in: Quellen & Studien 2000. Die Alfred Klahr Gesellschaft und
ihr Archiv. Beiträge zur österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien
2000, S. 281
5/ Ebenda, S. 284
6/ Ebenda, S. 287
7/ W. Aichinger, a. a. O., S. 205 ff.
8/ Manfried, Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich
1945 bis 1955, Graz–Wien–Köln 1979, S. 80
9/ Ebenda, S. 82
10/ W. Aichinger, a. a. O, S. 222
11/ Edmund Weber, Neuer Geist in Niederösterreich. Die Landesverwaltung in
voller Funktion, in: Neues Österreich, 22. Juni 1945, S. 2
12/ Fritz Fellner, Die außerpolitische und völkerrechtliche Situation
Österreichs 1938. Österreichs Wiederherstellung als Kriegsziel der Alliierten,
in: Österreich. Die Zweite Republik, hrsg. von Erika Weinzierl und Kurt Skalnik,
Band 1, Graz–Wien–Köln 1972, S. 86
13/ M. Rauchensteiner, a. a. O., S. 78
14/ Neues Österreich, 23. September 1945, S. 2. Hervorhebungen im Original
15/ Ebenda, Hervorhebungen im Original
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 1/2005
|