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Hans Hautmann: Zum
Stellenwert von Verstaatlichung und öffentlichem Eigentum im Kapitalismus
Am 3. April 2006 wurde der frühere Präsident der Industriellenvereinigung,
Peter Mitterbauer, neuer Aufsichtsratspräsident der ÖIAG für die nächsten sechs
Jahre. In einer seiner ersten Stellungnahmen erklärte er: „Eines wird es mit
Sicherheit nicht geben, egal, wie die Wahlen im Herbst ausgehen, nämlich eine
Rückkehr zu alten Verstaatlichten-Ideen!“1 Er weiß also schon jetzt,
dass der Ausverkauf staatlichen Eigentums auch unter einem Kanzler Gusenbauer
weitergehen wird und stellt damit klar, wer in dieser Angelegenheit das Sagen
hat. Denn Mitterbauer ist gut bekannt, dass die Privatisierungswelle bereits in
der Ära der SPÖ-Kanzlerschaft Franz Vranitzkys begann, als im November 1987 15 %
der Aktien der ÖMV abgegeben wurden und damit erstmals ein ÖIAG-Unternehmen den
Börsengang antrat.2 Danach ging es Schlag auf Schlag: Juli 1992
Abgabe von 26 % der Simmering-Graz-Pauker (SGP) an die Siemens AG Österreich;
Dezember 1993 Abgabe von weiteren 48 % der SGP an die Siemens AG Österreich; Mai
1994 mehrheitliche Privatisierung der VA Technologie AG durch Abgabe von 51 %
über die Börse (die bis dahin größte Kapitalmarkttransaktion in Österreich);
Oktober 1995 Abgabe von 27,3 % der Böhler-Uddeholm AG über die Börse; Oktober
1995 Abgabe von 31,7 % der VA Stahl über die Börse; März 1996 mehrheitliche
Privatisierung der Böhler-Uddeholm AG durch Abgabe von 47,7 %.3
Im Jahr 2000 erteilte die schwarzblaue Regierung der ÖIAG einen neuen
Privatisierungsauftrag. Seither wurden die Postsparkasse, die Staatsdruckerei,
die Austria Tabak, das Dorotheum, der Postbus und die VA Erzberg zur Gänze
verkauft. Vöest-Alpine und Böhler-Uddeholm wurden komplett privatisiert. Weiters
wurden die Anteile am Flughafen Wien und an der VA Tech verkauft. Die Telekom
Austria wurde teilprivatisiert. Dabei wurden Erlöse von 5,387 Milliarden Euro
erzielt. Derzeit hält die ÖIAG nur mehr Anteile an der Post (deren
Teilreprivatisierung ist für Mai 2006 angekündigt), der Telekom Austria, der
AUA, der OMV und der GKB Bergbau.4
Wir leben also in einem Zeitalter der Privatisierung und des Ausverkaufs
öffentlichen Eigentums. Die EU-Agenda 2010, bekannt als „Lissabon-Ziel“, sieht
bis zu diesem Jahr die Liberalisierung der Gas-, Strom-, Post-, Eisenbahn- und
Beförderungsmärkte in den Mitgliedsländern vor, was einen enormen
Privatisierungsdruck auf die öffentlichen Dienste zur Folge haben wird.
Mitterbauer verriet in einem Interview auch, in welche Richtung er als bis 2012
bestallter Aufsichtsratschef die Aktivitäten der ÖIAG zu lenken gedenkt. Er
sagte: „Die ÖIAG hat sich als Privatisierer, aber auch als Manager von
Beteiligungen qualifiziert. Sie verwaltet Beteiligungen professionell und nach
betriebswirtschaftlichen Maßstäben. Nicht nur die Bundespolitik, auch andere
Gebietskörperschaften sollten prüfen, ob sie nicht die Dienste der ÖIAG in
Anspruch nehmen wollen.“5 Im Klartext heißt das, dass nach dem
Ausverkauf des Bundeseigentums auch die Privatisierung der Landesbeteiligungen
und des kommunalen Eigentums der Gemeinden in Angriff zu nehmen ist und über die
ÖIAG, ein schon seit geraumer Zeit von Vertrauensleuten des Privatkapitals
(speziell der deutschen Großkonzerne) beherrschtes Gremium, abgewickelt werden
soll.
Die Möglichkeit, diesen Trend zu stoppen, scheint unter den gegebenen
Verhältnissen aussichtslos zu sein, ganz zu schweigen davon, ihn ins Gegenteil
zu verkehren. Und dennoch zeigt uns der Blick in die Vergangenheit, dass
Umstände eintreten können, unter denen das Privatkapital in die Defensive
gedrängt und gezwungen werden kann, umfangreiche Verstaatlichungen über sich
ergehen zu lassen. Österreich nach 1945 ist ein Beispiel dafür, und wir werden
in den nächsten Nummern der „Mitteilungen“ auf die historischen Ursachen und
Folgen der beiden Verstaatlichungsgesetze von 1946 und 1947 noch ausführlich zu
sprechen kommen. Hier geht es zunächst darum, einige grundsätzliche Fragen von
Verstaatlichung und öffentlichem Eigentum aus marxistischer Sicht aufzuwerfen.
Begriffe und Kategorien
Beginnen wir mit dem, was üblicherweise am Anfang einer theoretischen
Abhandlung stehen muss, mit der Klärung der Begriffe. Was hat es mit
Bezeichnungen wie „Verstaatlichte“, „staatlicher Sektor“, „öffentliche
Unternehmen“, „öffentliches Eigentum“ und „Gemeinwirtschaft“ – ein Ausdruck, der
vorzugsweise von der SPÖ dafür gebraucht wurde – für eine Bewandtnis?
Das erste und wichtigste Merkmal liegt auf der Hand: der staatliche Sektor
unterscheidet sich vom privaten durch seine Eigentumsverhältnisse. Er ist nicht
im Interesse eines Privaten tätig, sondern hat seine Wirtschaftstätigkeit nach
öffentlichen Interessen auszurichten. Das bedeutet, dass öffentliche Unternehmen
primär gemeinnützige, dem Allgemeinwohl dienende Leistungen und Dienste
anzubieten haben, bei denen das Streben nach Rentabilität und Gewinn
gegebenenfalls hinter volkswirtschaftlichen, sozialen, kultur- und
staatspolitischen Erwägungen zurückzutreten hat. Von den Grundmotiven, dem Sinn
und Zweck her unterscheiden sich also öffentliche Betriebe und Unternehmen
deutlich von der Privatwirtschaft. Sie streben öffentliche Ziele an, die von
öffentlichen Interessen determiniert sind. Privatunternehmungen sind
gewinnorientiert. Sie agieren auf dem freien Markt und möchten einen möglichst
hohen Profit erzielen. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen öffentlicher und
privater Wirtschaft besteht somit darin, dass Rentabilität im öffentlichen
Bereich eine sekundäre Rolle spielen darf.6
Eigentümer öffentlicher Unternehmen können der Bund, die Länder und die
Gemeinden, also staatliche Gebietskörperschaften, sein; man muss aber auch
Genossenschaften, wechselseitige Versicherungen oder wirtschaftliche Unternehmen
von Gewerkschaften zum großen Bereich der öffentlichen Unternehmen zählen.
Diese öffentlichen Unternehmen lassen sich in vier große Kategorien unterteilen:
1) In Unternehmen des Bundes, der Länder oder der Gemeinden, die hauptsächlich
zur Versorgung der Bevölkerung da sind bzw. Dienstleistungscharakter haben, z.B.
die Eisenbahn, das Post- und Fernmeldewesen, die Elektrizitätswirtschaft, die
(einst) staatlichen Salinen, das (einstige) staatliche Tabakmonopol usw. sowie
auf Gemeindeebene kommunale Einrichtungen wie städtische Verkehrsmittel,
Gaswerke, Müllabfuhr, Wasserversorgung, Kanalisation und anderes mehr.
2) In die eigentliche verstaatlichte Industrie. Das waren bei uns lange Zeit die
Bereiche, die von der ÖIAG verwaltet wurden.
3) In die verstaatlichten Banken, als da waren die 1946 verstaatlichten
Großbanken Creditanstalt-Bankverein, Länderbank und Creditinstitut inklusive
ihrer in Aktienmehrheitsbesitz befindlichen Unternehmen wie Steyr-Daimler-Puch
(die so genannte „indirekte Verstaatlichung“).
4) In die Genossenschaften (Konsumgenossenschaften, gemeinnützige
Wohnbaugenossenschaften) sowie wechselseitige Versicherungen (Krankenkassen,
Unfallversicherungsanstalten) und gewerkschaftliche Unternehmen.
Der Unterschied zwischen der erstgenannten Kategorie und den drei anderen
Kategorien öffentlicher Unternehmen bestand darin, dass solche Einrichtungen wie
die Bundesbahn, Post, Elektrizitätswirtschaft, die Salinen usw. über lange
Zeiträume hinweg, zum Teil über Jahrhunderte, staatlichen Monopolcharakter
hatten, dass sie keiner Konkurrenz unterlagen und aus den Marktmechanismen
weitgehend ausgeklammert waren.
Dem gegenüber besaß die verstaatlichte Industrie keinen Monopolcharakter. Sie
hatte gegenüber den privaten Unternehmen keine rechtlich bevorzugte Stellung.
Sie war der Konkurrenz und den kapitalistischen Marktmechanismen wie Angebot und
Nachfrage, Rentabilität, im Hinblick auf die Qualität der Produkte sowohl auf
nationaler wie internationaler Ebene voll und ganz unterworfen.
Historischer Rückblick
Machen wir einen kurzen Streifzug durch die geschichtliche Entwicklung des
staatlichen Wirtschaftssektors.
Generell kann gesagt werden, dass es seit der Spaltung der Gesellschaft in
Klassen und damit der Entstehung des Staates immer einen staatlichen
Wirtschaftssektor gegeben hat. Er war einmal größer, einmal kleiner, vorhanden
war er jedoch stets. Gleich die erste und älteste ökonomische
Gesellschaftsformation, die von Karl Marx als „asiatische Produktionsweise“
bezeichnete, also das alte Ägypten, Mesopotamien, das alte Indien, das alte
China, war im Grunde genommen nichts anderes als eine einzige riesige
Staatswirtschaft, deshalb, weil nicht das private, sondern das kollektive
Eigentum der Herrschenden (des königlichen Despoten und der Priesterkaste) am
Grund und Boden und den übrigen Produktionsmitteln überwog.7
Mit der Entstehung der Sklavenhaltergesellschaft wurde das anders. Von nun an
überwog das Privateigentum an Produktionsmitteln die kollektiven Formen, und so
ist es bis zur gegenwärtigen Etappe des Kapitalismus geblieben. Es gab zwar im
antiken Griechenland und antiken Rom, in der Epoche des Feudalismus und im
Kapitalismus stets auch staatseigene Ländereien, Bergwerke, Manufakturen,
Fabriken, sie haben aber eine bestimmte Größenordnung nie überschritten und auch
nie dem Charakter der jeweiligen Gesellschaftsformation den Stempel aufgedrückt.
Jedoch trat der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der
Produktion, den fortgeschrittenen Produktivkräften und den Grenzen
privatkapitalistischer Finanzierung im Kapitalismus insbesondere im
Verkehrswesen und bei der Elektrizitätsversorgung nach und nach zutage und
führte bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu Tendenzen staatsmonopolistischer
Entwicklung. Zu diesem Zeitpunkt waren in Deutschland und Österreich 90 Prozent
des Eisenbahnnetzes in staatlichem Besitz. Der Staat übernahm damit kostspielige
Investitionen, ermöglichte den Privatmonopolen die Akkumulation in profitableren
Sphären und führte zu Lasten des wesentlich durch Steuern der Werktätigen
finanzierten Staatshaushalts für die monopolistischen Großtransporteure
profitgünstige Tarife ein.
Der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der
monopolistischen Konkurrenz sowie den ihr entsprechenden Grenzen
privatmonopolistischer Planung wurde auch in der Elektrizitätswirtschaft schon
früh deutlich. Der Energieverbund mit großen Überlandleitungen, Umspannwerken
usw. konnte im Rahmen des privatmonopolistischen Eigentums in Europa nicht
entwickelt werden. Die Größenordnung der privaten Unternehmen war zu gering, um
ohne Senkung der Profitraten so langfristige und große, zum Teil mit Risiken
verbundene Investitionen wie in den genannten Bereichen zu erlauben. Deshalb
wurde es objektiv notwendig, dass der Staat selbst wichtige Funktionen im
Reproduktionsprozess übernahm.8
Auf kommunaler Ebene war das ähnlich, aber in der Motivation signifikanter
anti-privatwirtschaftlich gelagert. Denken wir nur an die Maßnahmen in der Zeit
des christlichsozialen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger. Damals kam es zur
Kommunalisierung der Gasversorgung, die sich bis 1899 in den Händen britischer
Kapitalisten befand, zur Kommunalisierung der Elektrizitätswerke, die vorher von
drei privaten Gesellschaften betrieben wurden, deren Wirtschaften zu immer
heftigeren Protesten der Bevölkerung führte, und zur Kommunalisierung der
Straßenbahnen, bei denen sich ebenfalls die Unzufriedenheit der Wienerinnen und
Wiener gegen die bestehenden privatkapitalistischen Gesellschaften richtete,
deren Linien untereinander nicht verbunden waren, wo man beim Umsteigen immer
wieder von neuen eine Fahrkarte lösen musste und es gleichzeitig eine mit
Pferden betriebenen Trambahn, mehrere mit Dampf und einige elektrisch betriebene
Straßenbahnlinien gab. Unter Lueger wurden die privaten Tramway-Gesellschaften
nach und nach aufgekauft, die innerstädtischen Strecken elektrifiziert, das
Liniennetz ausgebaut und die Verkehrsmittel vereinheitlicht und modernisiert.9
So viel zu Lueger, eine der Ikonen der heutigen Privatisiererpartei ÖVP. Ob wohl
ihre maßgebenden Kräfte davon Kenntnis haben? Einige vielleicht doch. Ihre
Antwort darauf wird sicherlich sein, dass sich „die Zeiten eben geändert haben“.
Diese unbestreitbare Wahrheit ist insofern tröstlich, als die heutigen Zeiten
sich ebenfalls wieder ändern können: zu Ungunsten der Privatisierer.
Halten wir jedoch als Resümee der geschichtlichen Erfahrungen fest: wie groß der
staatliche Sektor des öffentlichen Eigentums auch sein mag – und bei uns in
Österreich ist er seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bekanntlich sehr groß
gewesen, größer als in jedem anderen kapitalistischen Land der Welt – der
private Sektor bleibt das bestimmende Moment, und das Monopol der
Kapitalistenklasse auf den Besitz der wichtigsten und entscheidenden
Produktionsmittel wird dadurch nicht gebrochen.
Zum sozialökonomischen Charakter
Hier sind wir bei einem wesentlichen Punkt angelangt, nämlich bei der Frage:
welchen Stellenwert hat die Verstaatlichung im Kapitalismus, wie ist der
sozialökonomische Charakter des öffentlichen Eigentums im Kapitalismus
einzuschätzen?
Sozialökonomisch gesehen stellt der Übergang eines Teils der Produktionsmittel
in Staatseigentum im Grunde genommen die juristische Anerkennung und Fixierung
des gesellschaftlichen Charakters der Produktion dar. Im Kapitalismus ist ein
höherer Vergesellschaftungsgrad der Produktion als der, der durch
Verstaatlichung geschieht, gar nicht möglich. Friedrich Engels schrieb im „Anti-Dühring“,
dass der steigende Zwang zur Anerkennung der gesellschaftlichen Natur der
Produktionsmittel die Kapitalisten selbst nötigt, sie mehr und mehr als
gesellschaftliche Produktionsmittel zu behandeln, und er setzte fort, dass die
Verstaatlichung der Produktionsmittel, wenn sie „ökonomisch unabweisbar geworden
ist, einen ökonomischen Fortschritt bedeutet, die Erreichung einer neuen
Vorstufe zur Besitzergreifung aller Produktivkräfte durch die Gesellschaft
selbst.“10 Engels warnte aber gleichzeitig die deutsche
Sozialdemokratie davor, jede Verstaatlichung als „sozialistisch“ oder als „eine
Etappe auf dem Weg zum Sozialismus“ aufzufassen und setzte spöttisch hinzu:
„Allerdings, wäre die Verstaatlichung des Tabaks sozialistisch, so zählten
Napoleon und Metternich mit unter den Gründern des Sozialismus.“11 Er
erblickte in der Übertragung industrieller und kommerzieller Funktionen an den
Staat einen Vorgang, der je nach den Umständen „einen doppelten Sinn und
doppelte Wirkung haben kann: einen reaktionären, einen Rückschritt zum
Mittelalter, und einen progressiven, einen Fortschritt zum Kommunismus.“12
Und er stellte klar, dass, „solange die besitzenden Klassen am Ruder bleiben,
jede Verstaatlichung nicht eine Abschaffung, sondern nur eine Formveränderung
der Ausbeutung ist.“13
Engels kam damit auf eine marxistische Grunderkenntnis zu sprechen: dass der
Staat vor allem die Funktion des Überbaus ausübt, und das sein Verhältnis zur
Wirtschaft bestimmt. Die kapitalistische Wirtschaft beruht auf der Herrschaft
des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Aufgabe des Staates ist es, diese
Grundlage zu sichern. Sogar die Ausübung ökonomischer Funktionen durch den Staat
verfolgt letzten Endes ein außerökonomisches Ziel – das privatkapitalistische
Eigentum zu schützen und dessen Existenz zu verlängern, auch dann noch, wenn es
bereits zum Hemmnis der Entwicklung der Produktivkräfte geworden ist. Diese
Mission der Verteidigung des Prinzips des Privateigentums und der
kapitalistischen Ausbeutungsbedingungen setzt der unmittelbaren Beteiligung des
Staates an der Produktion immer und überall bestimmte quantitative Grenzen. Im
Kapitalismus ist daher das staatliche Eigentum stets eine der Formen des
kapitalistischen Eigentums und hängt unlöslich mit dem Privateigentum der
einzelnen Kapitalisten und der Aktiengesellschaften zusammen.
Dennoch demonstriert die Existenz des staatlichen Eigentums als solche
anschaulich den historisch vorübergehenden Charakter des Privateigentums an den
Produktionsmitteln. Gerade deshalb ist das Großkapital bestrebt, die
unmittelbare Beteiligung des Staates am Wirtschaftsleben zu begrenzen. Zugleich
fordert die Entwicklung der Produktivkräfte stets eine direkte und indirekte
Einmischung des Staates in die Wirtschaft. In diesem Widerspruch liegt das Wesen
des Problems.
Staatliches Eigentum und Kapitalentwertung
Durch den Einsatz komplizierter Maschinen, durch die Automatisierung der
Produktion und die Entwicklung der Elektronik kommt es zu einer Erhöhung der
organischen Zusammensetzung des Kapitals, und dabei erweisen sich die üblichen
Mittel, mit deren Hilfe die Kapitalisten die Tendenz zu einer Verringerung der
Durchschnittsprofitrate aufhalten (stärkere Ausbeutung der Arbeit, Senkung der
Löhne unter den Wert der Arbeitskraft, Verbilligung der Elemente des konstanten
Kapitals), als unzureichend.
Hier kam in den Jahrzehnten nach 1945 überall dort, wo umfangreiche
Nationalisierungen stattfanden, der Staat zu Hilfe. Wenn der Staat direkt oder
indirekt die Sorge um einen Teil des Wertes der Produktionsmittel übernimmt,
wird das Kapital, das diese Produktionsmittel verkörpert, damit entwertet und
erfordert nicht mehr den Profit, den das private Kapital verlangt. Das bedeutet:
Weil die staatliche Investition nicht die gleiche Profitrate wie die private
Investition erfordert, kann letztere sich auf Bereiche konzentrieren, die
unmittelbar mit dem öffentlichen und privaten Konsum verbunden sind und
Maximalprofite sichern. Um ihre eigene produktive Tätigkeit entfalten zu können,
benötigte geradezu das private Großkapital einen Sektor, in dem sich das
angelegte Kapital mit einem geringen Profit begnügte und mitunter auf Profit
gänzlich verzichtete. Und da sich die verstaatlichten Unternehmen mit einer
niedrigen Profitrate abzufinden hatten, konnte das öffentliche Kapital für das
private sogar sehr profitabel sein.
In allen kapitalistischen Ländern hat sich der staatliche Sektor in einer Reihe
von Bereichen entwickelt, die sehr ähnliche Merkmale aufweisen: Kohlenbergbau,
Hüttenwesen, Eisen- und Stahlerzeugung, Produktion von Elektroenergie, See-,
Eisenbahn- und Lufttransport, Luft- und Raumfahrt, Atomenergie usw. In der Regel
handelt es sich um Bereiche, in denen das fixe Kapital, das heißt die Gesamtheit
der für die Produktion notwendigen Einrichtungen und Maschinen, besonders hoch
und kostspielig ist.14
In diesem Sinne sind staatliche Investitionen „entwertetes Kapital“. Durch die
Entwertung dieses Teils des staatlichen Kapitals wird letztlich das
Funktionieren der anderen Kapitale und des ganzen Gesamtkapitals bewirkt.15
Auf welche Weise das geschieht, ist uns in Österreich aus der Vergangenheit der
Verstaatlichten gut bekannt. Die Betriebe des staatlichen Sektors reichten den
von ihnen erzielten Mehrwert sowohl durch Materialkauf bei den privaten
Unternehmen zu erhöhten Preisen als auch durch Rohstofflieferung zu niedrigen
Preise und durch Festlegung vergünstigter Tarife für das Privatkapital
(Elektroenergie, Transport) an den privaten Sektor weiter.
Für Österreich ist errechnet worden, dass die verstaatlichte Industrie bis 1955
der Privatwirtschaft durch Abgabe von Kohle, Eisen und Stahl zu billigeren
Preisen, als auf dem Weltmarkt zu erzielen waren, Preisvorteile in der Höhe von
8,4 Milliarden Schilling verschaffte.16 Von 1970 bis 1982, also in
der Ära Kreisky, haben die verstaatlichten Unternehmen rund 250 Milliarden
Schilling auf diese Weise an Privatfirmen „weitergegeben“ und gleichzeitig
Investitionen in der Höhe von 95,7 Milliarden Schilling getätigt, die zum großen
Teil der österreichischen Privatwirtschaft zugute kamen.17 Als noch
andere gesellschaftliche Umstände in Österreich herrschten, haben sogar
ÖVP-Politiker dies offen anerkannt, so Bundeskanzler Alfons Gorbach in einer
Rede 1961: „Der Ausbau der großen Unternehmungen der verstaatlichten Industrie
ist ein wesentlicher und unentbehrlicher Teil der Wiederherstellung der gesamten
Wirtschaft Österreichs gewesen (...) Als Lieferant von Rohmaterial und
halbfertigen Waren für die weiterverarbeitende Industrie und das Gewerbe haben
die verstaatlichten Betriebe bewusst im Interesse der gesamten Volkswirtschaft
darauf verzichtet, die jeweils möglichen Preise zu verlangen. Sie haben dadurch
dem Wiederaufbau der Privatwirtschaft einen schätzenswerten Dienst geleistet und
tun dies heute noch.“18
Karl Marx hat im dritten Band des „Kapitals“ (fünfter Abschnitt „Spaltung des
Profits in Zins und Unternehmergewinn“) zwischen dem Kapitaleigentum und der
Kapitalfunktion unterschieden. Ausgehend von dieser Unterscheidung und unter
Anwendung dieser Kategorien bei der Untersuchung des modernen Kapitalismus kann
man feststellen, dass das staatliche Eigentum unter den Bedingungen des
Monopolkapitalismus, unter den Bedingungen des gesamten Systems der staatlichen
Finanzierung und unter den Bedingungen der Integration und Globalisierung die
kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse nicht einengt, sondern erweitert.
Deshalb ist, wie Engels ausführte, jegliche Verstaatlichung, solange die
besitzenden Klassen an der Macht sind, nicht eine Vernichtung der Ausbeutung,
sondern lediglich eine Veränderung ihrer Form.19
Privatkapital und Verstaatlichte
Wenn die Lage so ist, wenn die Tätigkeit der staatlichen Unternehmen von der
Aufgabe bestimmt war, dem Privatkapital günstige Funktionsbedingungen zu bieten
und dieses in Österreich über Jahrzehnte hinweg damit nicht schlecht gefahren
ist, warum kämpfte es dann gegen die Verstaatlichte und wollte deren
Reprivatisierung erreichen? Mehrere Ursachen waren dafür verantwortlich.
Erstens ist zwar ein bedeutender Teil des Mehrwerts, der in den verstaatlichten
Betrieben erzeugt wurde, auf dem Weg über die niedrigen Preise für Rohstoffe und
Vorprodukte in die Taschen des Kapitals geflossen, die stärksten unter den
privaten Unternehmern konnten sich aber nicht von der Vorstellung trennen: wozu
diese Umwege, wäre nicht alles viel einfacher, wenn man direkt diese
Profitquellen in der Hand hält? Sie waren auch zutiefst überzeugt davon, dass
sie den Profit noch bedeutend steigern könnten, wenn sie diese Betriebe – schon
längst die Kriegsschäden überwunden habend, neu aufgebaut und mit modernsten
Maschinen ausgestattet – direkt in der Hand hätten. Und schließlich waren das
jene, die am stärksten mit dem ausländischen Monopolkapital, vor allem dem
deutschen, verfilzt waren und die im Vorfeld des EU-Beitritts Österreichs und
danach größtes Interesse daran hatten, dass in den österreichischen
verstaatlichten Betrieben wieder „normale“ kapitalistische Bedingungen
hergestellt werden.
Zweitens drohten bei nur halbherziger und nicht durchschlagender
Reprivatisierung permanente Schwierigkeiten dadurch, dass diese Betriebe, weil
sie verstaatlicht waren, einer viel größeren öffentlichen Kontrolle unterlagen
als die privatkapitalistischen Betriebe. Die Verstaatlichte war gewissermaßen
eine „gläserne Industrie“. Sie schien im Bundesbudget auf, und jegliche
Bedeckung z.B. für Strukturhilfen musste im Parlament beschlossen werden. Für
die verstaatlichten Unternehmen gab es eine ganze Reihe von Kontrollmechanismen:
In allen Konzernen wurden interne Kontrollen durchgeführt. In ihnen waren die im
Aktiengesetz vorgesehenen Rechnungsprüfer tätig. Der Aufsichtsrat übte eine
weitere Kontrolle aus, die schon deshalb eine nicht geringe Bedeutung erlangte,
weil dieses Gremium gesetzlich nach dem Stärkeverhältnis der politischen
Parteien im Parlament zusammengesetzt war. Dadurch saßen in den Aufsichtsräten
von verstaatlichten Unternehmen auch Vertreter von Organisationen, die einer
verstaatlichten Industrie von vornherein mit Aversion gegenüberstanden und
deshalb besonders auf „Fehlersuche“ erpicht waren. Im Aufsichtsrat übten aber
auch die Betriebsräte Kontrollfunktionen aus, im Sinne des Gedeihens des
Betriebes und der Erhaltung der Arbeitsplätze. Nächste Kontrollinstanz war die
ÖIAG, der ständig berichtet werden musste und die einen Kontrollapparat
aufbaute. Schließlich kontrollierte periodisch der Rechnungshof.20
Öffentliche Kontrollmöglichkeiten, gleich welcher Art, sind aber etwas, was das
Privatkapital überhaupt nicht goutiert, wovor es Horror empfindet. Es liegt im
Wesen kapitalistischen Wirtschaftens, dass man allein schon aus
Konkurrenzgründen die Geschäftspraktiken immer mit einer undurchdringlichen
Mauer gegenüber Außenstehenden abzuschirmen sucht, den wahren Umfang der Profite
verbergen will und man deshalb nach den Regeln strikter Konspiration vorgeht.
Der dritte Grund hängt damit zusammen, dass die verstaatlichten Betriebe bei uns
direkt mit dem politischen Parteiensystem verquickt waren. Hier ging es nicht um
den Proporz bei der Besetzung der Direktoren- und Aufsichtsratsposten, der das
Privatkapital kaum störte, wohl aber um die Tatsache, dass es sich bei den in
den verstaatlichten Betrieben Arbeitenden oder irgendwie an ihnen Interessierten
um sehr viele Wähler handelte, denen man Konzessionen sozialpolitischer Art
machen musste. Vor allem die SP-Führung war an solchen Zugeständnissen an die
Belegschaften interessiert, weil sie ja die verstaatlichten Betriebe stets als
dem „Kapitalismus entgegengesetzte“ Elemente hingestellt hat. Aus diesem Grund
stießen Angriffe auf die Löhne oder die Rechte der Arbeiterschaft in Österreich
auf besondere Schwierigkeiten. Solange aber in den verstaatlichten Betrieben die
Offensive des Kapitals gegen die ArbeiterInnen nicht in Schwung kam, solange war
auch der Kampf gegen die übrige Arbeiterschaft erschwert.21
Die vierte Ursache ist allgemeinen Charakters. Wenn ein großer und wichtiger
Teil der Wirtschaft verstaatlicht ist und damit vor Augen geführt wird, dass das
Privateigentum für die Beherrschung der modernen Produktionsmittel nicht
notwendig ist, dann erscheint das der Bourgeoisie klarerweise als potenzielle
Gefahr, als Untergrabung der geheiligten Institution des Privateigentums. Rudolf
Hilferding hat in seiner berühmten Studie „Das Finanzkapital“ aus dem Jahr 1910
geschrieben, dass die Monopole nicht Freiheit (sprich: freien Wettbewerb),
sondern Herrschaft wollen. Herrschaft heißt aber Absicherung der Macht vor
möglichst allen Wechselfällen und Eventualitäten, auch davor, dass eine andere
Konstellation zwischen den Klassenkräften eintreten kann als sie heute besteht.
Deshalb die Propagandawalze mit der stereotypen Behauptung, dass Private nun
einmal von Natur aus besser wirtschaften als der Staat und die „Roten“, die den
Menschen in unserem Land von den medialen Sprachrohren der Großbourgeoisie
förmlich eingehämmert wurde und neuerdings im Gefolge der BAWAG-Affäre wieder
üppige Blüten treibt – sicherlich bis zur Nationalratswahl im Herbst 2006.
Es war aber immer so, dass sich hinter der scheinbaren Unrentabilität vieler
staatlicher Betriebe, die von der Monopolbourgeoisie als permanentes Argument
für die angebliche Unterlegenheit des staatlichen Sektors gegenüber privaten
Unternehmen ausgegeben wurde und wird, in Wirklichkeit eine spezifische Form
staatsmonopolistischer Umverteilung von Einkommen im Monopolinteresse verbarg.
Über die Verstaatlichung wenig profitabler Betriebe und Wirtschaftszweige wurde
die Kapitalwanderung für Teile des privaten Monopolkapitals in profitablere
Bereiche zu günstigen Bedingungen organisiert. Beispiele für diese von
Unternehmerseite zynisch als „Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der
Verluste“ bezeichneten Maßnahmen waren die Verstaatlichungen von Kohlezechen und
Stahlwerken in Großbritannien nach 1945.22
Verstaatlichung und Reformismus
Wir alle erinnern uns noch gut daran, dass die österreichische
Sozialdemokratie jahrzehntelang in der Verstaatlichung der Großindustrie und der
Großbanken geradezu das Herzstück ihrer Strategie des friedlichen,
nichtrevolutionären Weges zum Sozialismus erblickte. Durch Verstaatlichung,
Kommunalisierung, durch immer stärkere Durchdringung der Produktionssphäre mit
gemeinwirtschaftlichen Elementen, so genannten „sozialistischen Inseln“, sollte
der Kapitalismus schrittweise, durch Reformen, evolutionär in eine Gesellschaft
überführt werden, die man je nach Bedarf entweder als „sozialistisch“ oder, mehr
„ideologiefrei“ und von marxistischem Vokabular gereinigt, als „gerechter
gemachte Gesellschaft“ apostrophierte.
Die authentische Interpretation dieser Strategie gab seinerzeit Otto Bauer in
seiner Schrift „Der Weg zum Sozialismus“ aus dem Jahr 1919. Diese Schrift ist
deswegen interessant, weil sie über die Forderung nach bloßer Verstaatlichung
hinausging und die Sozialisierung der Großindustrie auf ihre Fahnen schrieb.
Was verstanden Otto Bauer und die damalige Sozialdemokratie darunter?
Erstens sollte die Sozialisierung der Groß- und Schwerindustrie durch Enteignung
der bisherigen Eigentümer beginnen. Die Entschädigungssumme sollten aber nicht
der Staat oder die Volksmassen aufbringen, sondern die Gesamtheit der
Kapitalisten und Grundeigentümer über eine progressive Vermögensabgabe.
Das ist der erste Unterschied zwischen Verstaatlichung und Sozialisierung.
Zweitens sollte die sozialisierte Industrie von einem Verwaltungsrat geleitet
werden, bestehend a) aus Vertretern der Arbeiter und Angestellten dieser
Betriebe, b) den Vertretern der Konsumenten, und c) den Vertretern des Staates.
Dieser Verwaltungsrat sollte die Direktoren ernennen, die Warenpreise
festsetzen, die kollektiven Arbeitsverträge mit den Gewerkschaften abschließen,
über den Reingewinn verfügen und die Investitionen lenken. Andere
Produktionszweige (größere Betriebe der Leicht- und Konsumgüterindustrie sowie
des Handels) sollten ebenfalls enteignet und Konsumvereinen, Genossenschaften
und Gemeinden in sozialisierter Form verpachtet und zur Verwaltung übertragen
werden. Durch die Zentralisierung aller sozialisierten Betriebe beim Ankauf und
der Zuteilung der Rohstoffe, der Regelung des Produktionsumfanges und der
Preisfestsetzung sollten, wie Otto Bauer schrieb, „der Gesellschaft die Kosten
des Konkurrenzkampfes zwischen den Unternehmern“ erspart werden.23
Darin liegt der zweite Unterschied zwischen Sozialisierung und bloßer
Verstaatlichung.
Drittens sollte durch die Sozialisierung der Banken und deren Verschmelzung zu
einer nationalen Zentralbank, die über die Kapitalien der gesamten Gesellschaft
verfügt und entscheidet, welchen Produktionszweigen diese Kapitalien zugeführt
werden, die kapitalistische Anarchie überwunden werden. Otto Bauer schrieb: „Der
Verwaltungsrat der nationalen Zentralbank wird zur obersten wirtschaftlichen
Behörde, zum höchsten leitenden Organ der ganzen Volkswirtschaft. Erst durch die
Sozialisierung der Banken gewinnt die Gesellschaft die Macht, ihre Arbeit
planmäßig zu leiten, planmäßig auf die einzelnen Zweige der Produktion zu
verteilen, planmäßig dem Bedarf des Volkes anzupassen.“24
Hier, in der Forderung nach der Planwirtschaft, haben wir den dritten
Unterschied zwischen Sozialisierung und Verstaatlichung.
Der seinerzeitige Parteivorsitzende der SPÖ, Bundeskanzler Bruno Kreisky, gab
1976 der „Wochenpresse“ ein Interview, in dem er sagte: „Mein Standpunkt ist der
sozialdemokratische. Wer glaubt, sozialistisch heiße, die ganze Wirtschaft
verlaufe nach einem zentralen Plan und es gebe nur das Maß an Initiative, das
der Plan zulässt, ist meiner Meinung nach Kommunist.“25
Danach ist also sein eigener Parteigenosse Otto Bauer ein Kommunist gewesen.
Natürlich hat auch Otto Bauer im Sinne des sozialdemokratischen Ideals einer so
genannten „gemischten Wirtschaft“ nicht eine totale Sozialisierung im Auge
gehabt, sondern dem privaten Unternehmertum nach wie vor einen Platz eingeräumt.
Nur sollte es nicht mehr an den volkswirtschaftlich entscheidenden Schaltstellen
sitzen und einer wirksamen Kontrolle unterworfen sein.
Diese Vision Otto Bauers wurde von der Sozialdemokratie zum Teil verwirklicht –
man denke an das Rote Wien der Zwischenkriegszeit – und im Linzer Programm von
1926, in den Programmen von 1946, 1958 und den späteren paraphrasiert,
allerdings in von Mal zu Mal abgeschwächter Form, mit immer nichtssagender
werdenden, qualligeren Inhalten und Formulierungen.
Die Behauptung, dass es den Kapitalismus in Österreich dank des umfangreichen
verstaatlichten Sektors nicht mehr gibt, war aber noch in den 1970er Jahren
eiserner Bestandteil der SPÖ-Propaganda. Man leitete sie daraus ab, dass im
modernen Kapitalismus der Staat selbst bis zu einem gewissen Grad zu einem Teil
der Basis wird, als Eigentümer von Industriebetrieben, Transporteinrichtungen
und anderen Unternehmen, als Verfüger über einen Teil des Nationaleinkommens,
als Kontrolleur der Notenbanken und der Geldzirkulation, als aktiver Einwirker
auf die Sphäre der Produktion, Distribution, Zirkulation und Konsumtion.
Mittlerweile ist unter der Wucht der Tatsachen das Gerede vom „nicht mehr
existierenden Kapitalismus“ verstummt, und jeder SP-Funktionär, der heute
solches verkündet, würde sich vor der eigenen Mitgliederbasis der Lächerlichkeit
preisgeben. Die SP-Führungen spätestens ab Sinowatz, dann Vranitzky, Klima und
Gusenbauer haben die einstigen Prinzipien längst verleugnet und sich der
Offensive des Großkapitals gegen die Verstaatlichte unterworfen. (Kreisky hat
immerhin noch gesagt, dass ihm ein „paar Milliarden Schilling Schulden“ lieber
seien „als hunderttausend Arbeitslose“ und auch danach zu handeln gesucht.) Die
euphorischen Strategieperspektiven via Verstaatlichung sind heute Schall und
Rauch.
Es wäre aber falsch, außer Acht zu lassen, dass die mittleren und unteren
Funktionärskader, die Betriebsräte, Arbeiterkammerräte und die einfachen
Mitglieder der SPÖ und Gewerkschaften keineswegs von gestern auf heute vergessen
haben, was im Hinblick auf die Verstaatlichte jahrzehntelang fixer Bestandteil
des Parteiprogramms war, und sich somit politisch wirksame Anknüpfungspunkte
ihnen gegenüber ergeben.
Verstaatlichung und Klassenkampf
Eine Verstaatlichung der Produktion kann durch Faktoren verschiedener Art
hervorgerufen werden: durch Übernahme kostspieliger Investitionen, die die
Möglichkeiten des Privatkapitals übersteigen; durch ökonomische Schwierigkeiten
in Form von Sanierungen und (dauernden, in der Regel aber nur zeitweiligen)
Übernahmen bankrotter Privatbetriebe, deren Produktpalette volkswirtschaftlich
unabdingbar ist (Beispiel: Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 in allen
kapitalistischen Ländern, insbesondere in Deutschland); und durch Kriege
(Beispiele: Rüstungsproduktion im Ersten und Zweiten Weltkrieg, das
„Manhattan-Projekt“ der USA, d.h. der Bau der Atombombe).
Es ist das ein Wachstum staatlichen Eigentums, das unter dem Einfluss der
Forderungen „von oben“, entsprechend den Bedürfnissen des Großkapitals, erfolgt.
Ungeachtet dessen, dass die Verstaatlichung einiger Wirtschaftszweige den
historisch vorübergehenden Charakter des Privateigentums an den
Produktionsmitteln vordemonstrierte, konnte das private Großkapital dennoch
nicht ohne die unmittelbare Teilnahme des Staates an der erweiterten
Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals auskommen. Ein derartiger Prozess
der Erweiterung des staatlichen Sektors löste und löst aber bei der herrschenden
Klasse nur geringe Besorgnis aus.
Dagegen ergibt sich eine völlig andere Situation, wenn Privatbetriebe und sogar
ganze Zweige der Volkswirtschaft unter dem Druck „von unten“, unter dem Einfluss
des Kampfes der Massen verstaatlicht werden. Eine solche qualitativ neue
Situation ergab sich zum ersten Mal in den dreißiger Jahren in Frankreich und
Spanien, als dort Regierungen an die Macht gelangten, die sich auf die Kräfte
der Volksfront stützten. Die französischen Monopole beantworteten die aufgrund
der Forderung der Volksfront durchgeführten Nationalisierungsmaßnahmen mit
Wirtschaftssabotage. Sie stürzten die Regierung, die es gewagt hatte, auch nur
partiell die Forderungen der Volksfront zu erfüllen. Ein Teil der französischen
Großbourgeoisie setzte ganz offen seine Hoffnungen auf ein Bündnis mit Hitler.26
In Spanien kam es 1937/38 in den republikanischen Gebieten ebenfalls zu
umfangreichen Nationalisierungen und zu einer staatlich gelenkten Industrie, die
den Übergang zu einer Umwälzung volksdemokratischen Typs anzeigten. Ihr Ende war
die Folge direkter kriegerischer Einwirkungen, des Sieges der von
Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien massiv unterstützten Francotruppen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich unter dem Druck einer starken
demokratischen Bewegung in Frankreich, England, Italien und Österreich ein
bedeutender Sektor nationalisierter Betriebe. Die politische Situation
gestattete es dem Privatkapital dieser Länder nicht, offen gegen die
Verstaatlichungen vorzugehen. Es verlegte sich auf Umgehungsmanöver und suchte
den verstaatlichten Sektor seinen Interessen unterzuordnen, ihn zum Bestandteil
des gesamten ökonomischen Systems der staatsmonopolistischen Regulierung des
Wirtschaftsprozesses und zum Motor des kapitalistischen Wiederaufbaus zu machen
sowie dort, wo es möglich war, zumindest die teilweise Reprivatisierung einiger
Betriebe zu erreichen.27
Die Rolle des staatlichen Eigentums wird im Kapitalismus also immer und überall
dadurch bestimmt, welche Klassenkräfte auf den Prozess der Bildung einwirken.
Kann es im Kapitalismus zum totalen Ausverkauf öffentlichen Eigentums kommen?
Privatisierung scheint heute ein unaufhaltsamer, gleichsam gesetzmäßig
ablaufender Prozess zu sein. Gibt es für sie objektive, d.h. der Natur des
kapitalistischen Systems innewohnende und damit nicht zu überschreitende
Grenzen? Um diese Frage beantworten zu können, bedarf es der Rückbesinnung auf
die marxistische Einschätzung des Staates.
Die für die herrschende Klasse unabdingbare Rolle des Staates in der Ökonomie
des modernen Kapitalismus ergibt sich a) aus seiner spezifischen politischen
Macht, die alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst; b) aus seinem Vermögen,
seine Gewalt mit Gesetzeskraft durchzusetzen; c) aus der daraus genährten
Illusion der Klassenneutralität („Staat für alle“); d) aus der Verfügungsgewalt
über riesige finanzielle Mittel, die er im ökonomischen, politischen und
ideologischen Interesse des kapitalistischen Gesamtsystems einsetzt; und e) aus
der Tatsache, dass er eine relative Selbständigkeit besitzt, die es ihm
gestattet, vielfältige Maßnahmen im kapitalistischen Interesse ungehemmt durch
unmittelbare Schranken privater Kapitalverwertung durchzusetzen.28
Diese fortwährenden Aufgaben, die neben den politischen Zweckbestimmungen auch
aus seiner Tätigkeit als wirtschaftlicher Machtfaktor resultieren, bedingen,
dass es absolute Grenzen für Privatisierung gibt. Der Staat kann nicht die
Richter, die Beamten, die Vergabe von Baubewilligungen, die Polizei, das
Bundesheer usw. privatisieren, ohne sein verfassungsrechtlich verankertes
Gewaltmonopol und seine staatlichen Schutzpflichten über Bord zu werfen. Weitere
Grenzen sind die sozialen Zielsetzungen (Gesundheitswesen, Bildung, Kultur,
Wohnen), die elementaren und unentbehrlichen Daseinsvorsorgen (öffentlicher
Verkehr, Energie, Wasserversorgung, Straßenbau und Straßenerhaltung,
Kommunalwirtschaft), der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen
(Abfallbeseitigung, Umweltschutz, Katastrophenschutz) und schließlich das
Demokratieprinzip, das einen Gesetzesvollzug in einer hierarchisch aufgebauten
öffentlichen Verwaltung mit Rechtsschutz verlangt, um sicherzustellen, dass eine
ununterbrochene Legitimationskette vom Staatsvolk zu den Staatsorganen führt.29
Es ist viel zu wenig bekannt, dass die österreichische Bundesverfassung die
wirtschaftliche Tätigkeit der öffentlichen Hand nicht nur im Sinne der
„Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit“ als Handlungsmaxime regelt30,
sondern zum Teil sogar vorschreibt. Der auf den ersten Blick harmlos
erscheinende Artikel 17 des Bundes-Verfassungsgesetzes, der die privatrechtliche
Verwaltung nicht an die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern bindet,
ermächtigt den Staat (sowohl den Bund als auch die Länder) zu umfassender
wirtschaftlicher Tätigkeit. Er bedeutet, dass sich Bund und Länder aller
Möglichkeiten des Privatrechts bedienen dürfen, sie auf allen Gebieten in
privatrechtlicher Form tätig werden können, sie Verträge abschließen dürfen,
Betriebe führen können, wobei sie wie Privatpersonen den Vorschriften des
öffentlichen Rechts, z.B. der Gewerbeordnung, unterliegen.31 Noch
mehr gilt diese wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand für die
Gemeinden, die sogar die Verpflichtung haben, die im ausschließlichen oder
überwiegenden Interesse der örtlichen Gemeinschaft gelegenen öffentlichen
Dienstleistungen zu erbringen.32
Strategische Perspektiven
Zweifellos ist unter den jetzigen Bedingungen der Kampf für die Verteidigung
des öffentlichen Eigentums vor den Angriffen des Privat- und Monopolkapitals die
Hauptaufgabe, die im Mittelpunkt stehen muss. Dieser Kampf kann heute und in
nächster Zukunft am wirkungsvollsten auf kommunaler Ebene geführt werden, nicht
nur, weil die verfassungsmäßig garantierte Selbstverwaltung der Gemeinden eine
entsprechend günstige rechtliche Grundlage bildet, sondern auch deshalb, weil
hier die beste Möglichkeit besteht, ihn konkret und direkt zu gestalten,
anknüpfend an die Sorgen, Wünsche und vitalen Interessen der unmittelbar
Betroffenen in einem überschaubaren gesellschaftlichen Bereich.
Gleichzeitig sollten wir als Marxisten aber nicht vergessen, dass wir mit
öffentlichem Eigentum eine strategische Perspektive verbinden, die nichts mit
der einstigen sozialdemokratischen Vorstellung gemein hat, wonach
Verstaatlichung bereits ein Stück Sozialismus sei. Für uns steht diese Frage mit
der Orientierung auf die antimonopolistische Demokratie als Zwischenetappe und
Durchgangsstadium in Zusammenhang.
Zwischen Verstaatlichungen im kapitalistischen System und demokratischen
Nationalisierungen besteht ein wesentlicher Unterschied, der Wille bei letzteren
nämlich, eine Politik zu betreiben, deren grundlegendes Ziel nicht mehr der
Monopolprofit ist, sondern die fortschreitende Befriedigung der Bedürfnisse der
arbeitenden Menschen. Die antimonopolistische Demokratie beseitigt das
kapitalistische System zwar noch nicht völlig, macht aber mit der Vorherrschaft
des Monopolkapitals Schluss.
Deshalb treten wir nicht nur für die Erhaltung, sondern für die Erweiterung des
staatlichen und kommunalen Eigentums ein unter der Bedingung, dass eine
demokratische Kontrolle über beide Sektoren errichtet wird. Wir sind für die
Erweiterung der ökonomischen Funktionen des Staates unter der Bedingung, dass
diese Funktionen im Interesse der arbeitenden Menschen ausgeübt werden. Wir
verlangen nicht, den Staatshaushalt zu kürzen und „einzusparen“, sondern ihn
durch stärkere Besteuerung der Kapitalvermögen zu erhöhen und zu erweitern und
den Charakter seiner Verwendung in Richtung Verbesserung der Lebensbedingungen
der Werktätigen zu ändern. Wir lehnen staatliche Lohnregulierung und staatliche
Arbeitsmarktpolitik nicht ab, sondern fordern vielmehr, dass diese staatlichen
Maßnahmen nicht dem Großkapital dienen, sondern auf Erhöhungen des Reallohns und
die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ausgerichtet werden.
Gewiss, das sind heute fast utopisch anmutende Ziele, die zu realisieren einen
Massenaufschwung im gesamtnationalen Rahmen erfordern. Aber gerade dadurch, dass
man den Kampf für die Erhaltung und Erweiterung des öffentlichen Eigentums von
der untersten und basisnächsten gesellschaftlichen Einheit, von der kommunalen
Ebene aus, entwickelt, kann es dazu kommen, dass die Arbeitenden sich seiner
wichtigen Rolle erneut bewusst werden und immer entschlossener dafür eintreten,
während sich das Monopolkapital dem immer stärker widersetzt. Damit ist die
Chance gegeben, dem heute so einseitig „von oben“ geführten Klassenkampf wieder
den „von unten“ entgegenzusetzen.
Anmerkungen:
1/ Kronen-Zeitung. Wirtschafts-Magazin, 8. April 2006
2/ Martin Stadelmann, Die Reprivatisierung der verstaatlichten Industrie,
Diplomarbeit, Linz 1996, S. 15
3/ Ebenda, S. 15f.
4/ Das geschrumpfte Reich, in: Die Presse, 15. April 2006, S. 23
5/ Oberösterreichische Nachrichten, 15. April 2006, S. 11
6/ Klaus-Peter Bittmann/Friedrich Klug/Hanna Kotrschal, Unternehmen
(Gesellschaft) im öffentlichen Eigentum. Studie zur Findung der optimalen
Rechtsform für öffentliche Betriebe und Unternehmungen = Kommunale Forschung in
Österreich, Band 113, Linz 2004, S. 6
7/ Lehrbuch Politische Ökonomie. Vorsozialistische Produktionsweisen, Berlin
1972, S. 75
8/ Politische Ökonomie des Kapitalismus. Lehrbuch, Berlin 1984, S. 548
9/ Felix Czeike, Liberale, christlichsoziale und sozialdemokratische
Kommunalpolitik (1861–
1934). Dargestellt am Beispiel der Gemeinde Wien, Wien–München 1962, S. 61ff.
10/ Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: Karl
Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 20, S. 259 (Fußnote). Hervorhebung H.H.
11/ Ebenda; siehe auch seinen Brief an Eduard Bernstein vom 12. März 1881, in:
MEW, Band 35, S. 170
12/ Engels an Wilhelm Bracke vom 30. April 1878, in: MEW, Band 34, S. 328
13/ Engels an Max Oppenheim vom 24. März 1891, in: MEW, Band 38, S. 64
14/ Der staatsmonopolistische Kapitalismus, Berlin 1972, S. 53
15/ Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus, hrsg. vom Institut für
Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Akademie der Wissenschaften
der UdSSR, Berlin 1972, S. 425
16/ Herbert Tieber/Rudolf Spitzer, Verstaatlichte Industrie. Was gesagt und was
verschwiegen wird. Eine kommentierte Dokumentation = Schriftenreihe der
Gemeinwirtschaft, Wien–
München 1983, S. 91
17/ Ebenda, S. 20
18/ Ebenda, S. 91
19/ Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus, a.a.O., S. 426
20/ Herbert Tieber/Rudolf Spitzer, Verstaatlichte Industrie zwischen gestern und
morgen. Tatsachen – Kommentare – Dokumente = Schriftenreihe der
Gemeinwirtschaft, Wien–München o.J. (1984), S. 56f.
21/ Friedl Fürnberg, Die Verstaatlichung in Österreich, in: Weg und Ziel, Wien,
Jg. 1958, Nr. 6, S. 520f.
22/ Politische Ökonomie des Kapitalismus, a.a.O., S. 589
23/ Otto Bauer, Der Weg zum Sozialismus, Wien 1919, S. 11
24/ Ebenda, S. 27. Hervorhebungen H.H.
25/ Wochenpresse, Wien, 22. Dezember 1976
26/ Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus, a.a.O., S. 396
27/ Ebenda; siehe weiters: Unter Geiern. Von der Aushöhlung zur Zerschlagung.
Die 40-jährige Leidensgeschichte der verstaatlichten Industrie. Sonderheft „Der
Streit“. Zeitschrift für Kultur, Politik und Wissenschaft, hrsg. von Andreas
Rasp und Erwin Riess, Wien, Nr. 30, Oktober 1986, S. 12f.
28/ Politische Ökonomie des Kapitalismus, a.a.O., S. 588
29/ Klaus-Peter Bittmann und andere, a.a.O., S. 36
30/ Artikel 126b, Absatz 5 und Artikel 127, Absatz 1 des
Bundes-Verfassungsgesetzes
31/ Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, 6. Auflage, Wien 2005, S. 117f.
32/ Artikel 116, Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 118, Absatz 2 des
Bundes-Verfassungsgesetzes
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 2/2006
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