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Hans Hautmann: Der erste Weltkrieg und unsere Zeit
Der 90. Jahrestag des Ausbruchs des ersten Weltkriegs hat eine Flut von neuen Büchern, Erinnerungsartikeln, Fernsehsendungen, Stellungnahmen und Einschätzungen gebracht. Das, verglichen mit den vergangenen Jahrzehnten, gesteigerte Interesse ist ein Anzeichen dafür, dass man die zentrale Bedeutung dieses Ereignisses mehr und mehr erkennt – etwas, was für marxistische Geschichtsbetrachter schon immer eine Selbstverständlichkeit war. Die Rede ist von „Ursache aller Ursachen“, „Urkatastrophe“, „Ursünde des 20. Jahrhunderts“; „Wir sind, ob wir es wissen wollen oder nicht, noch immer Erben jenes Großen Krieges, der im Sommer 1914
begann“1; „Auftakt zum Krieg ohne Ende. Alle heutigen Konflikte des Nahen Ostens gehen zurück auf den Ersten
Weltkrieg“2; „Das hundertjährige Erbe. Der Erste Weltkrieg begann auf dem Balkan. Noch heute erschüttern seine Schockwellen den Hinterhof
Europas“3; „Dieser Krieg war der Vater aller Dinge, die nachher kamen. Nichts war nach 1918 wie vor 1914. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist nur aus dem Ersten Weltkrieg zu erklären: Alle Entwicklungslinien zielen auf dieses Ereignis wie auf ein Brennglas, von hier strahlen sie weiter, machen das Jahrhundert zum blutigsten der
Weltgeschichte“4; „1914 war eine Welt untergegangen: Sie kam nicht mehr zur Ruhe (...) Nach 90 Jahren ist der Erste Weltkrieg immer noch aktuell, als jene Katastrophe, die das ‚kurze‘ 20. Jahrhundert prägte, vom Jahr 1914 bis zum Jahr
1989.“5
Alles richtig. Trotzdem bleiben Fragen offen: Für wen war der erste Weltkrieg die „Urkatastrophe“? Sind damit jene gemeint, für die das tatsächlich zutraf, die Volksmassen, die als Soldaten im Geschoßhagel an den Fronten und als Zivilisten im Hinterland an Hunger und Seuchen zu Millionen starben? Oder meint man mit „Katastrophe“ nicht auch, ja sogar vornehmlich das Faktum, dass 1917/18 die Volksmassen gegen die Herrschenden aufstanden, sie in einem Land stürzten und in mehreren anderen an den Rand des Abgrunds brachten? Ist damit nicht auch das Trauma verbunden, dass nach dem zweiten Weltkrieg als einer Folge des ersten die Machtpositionen des Kapitalismus eine erneute und diesmal vervielfachte Einschränkung erfuhren? Ist das Weiterverwenden des Begriffs „Katastrophe“ nicht auch Ausdruck dafür, dass man sich selbst nach dem Verschwinden der sozialistischen Systemkonkurrenz 1989/91 keineswegs sicher im Sattel sitzend fühlt, weil die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, die Gegensätze zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft wie in der internationalen Weltarena fortbestehen, sie sich durch die Schläge der Wirtschaftsmächtigen gegen die Rechte der Werktätigen und Kriege gegen schwache, aber rohstoffreiche Länder der Dritten Welt wie gegen den Irak verschärfen und dadurch früher oder später bedrohliche Gegenreaktionen hervorrufen müssen? Und überhaupt: Wer war der Schuldige an der „Urkatastrophe“? Nur frivol verblendete Diplomaten und kriegslüsterne Militärs? In wessen Interesse wurden vier Jahre lang Ströme von Blut vergossen und dabei noch nicht da gewesene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität begangen?
Über diese Fülle an Fragen lohnt es sich Reflexionen anzustellen und sie mit dem marxistischen Instrumentarium historisch zu durchleuchten. Nachfolgend werden drei Themenkomplexe behandelt, die geeignet sind, Kontinuitätslinien vom ersten Weltkrieg in unsere Gegenwart aufzuzeigen.
Kriegs- und Humanitätsverbrechen
Nicht nur der zweite, schon der erste Weltkrieg war kein Krieg zwischen Armeen in herkömmlichem Sinne mehr. Er war auch ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung, die man blutigen Repressalien unterwarf.
Drei große Verbrechen sind im ersten Weltkrieg verübt worden: Die Gräuel der Deutschen in Belgien, der Völkermord der Türken an den Armeniern und die Ausschreitungen der kaiserlichen Armee Österreich-Ungarns gegenüber den Ruthenen und Serben. Dabei können die letztgenannten Massaker den zweifelhaften Ruf für sich beanspruchen, am unbekanntesten geblieben zu sein.
Nur die wichtigsten Fakten: Im Sommer und Herbst 1914 wurden in Galizien an die 30.000 Ruthenen, darunter auch Frauen, exekutiert, wobei die Mehrzahl der Erschießungen und Erhängungen nicht aufgrund eines Urteils in einem feldgerichtlichen bzw. standgerichtlichen Verfahren erfolgte, sondern willkürlich, auf den bloßen Verdacht hin, für die Russen spioniert zu haben, an Ort und Stelle, unter Berufung auf die so genannte „Kriegsnotwehr“, die den Offizieren der kaiserlichen Armee die Befugnis gab, solche Tötungen anzuordnen. Dasselbe mit einer geschätzten Opferzahl von ebenfalls 30.000 geschah gegenüber der serbischen Bevölkerung auf dem Balkankriegsschauplatz. (Von beiden Verbrechen zeugen die zahlreich überlieferten, berüchtigten „Galgenfotos“.) Nach dem Landesinneren wurden in Internierungslager Zehntausende „politisch Verdächtige“ deportiert, Ruthenen, Serben und Italiener. Im Ruthenenlager Thalerhof bei Graz starb im Winter 1914/15 von den rund 7000 Insassen ein Drittel an Flecktyphus. Mehrere Tausend Tschechen, Ruthenen, Serben, Slowenen und Italiener wurden von Militärtribunalen als Staatsfeinde zum Tode verurteilt und hingerichtet, wobei die Mehrzahl der Verfahren höchst zweifelhaft war und dem glich, was man üblicherweise „Justizmord“ nennt. Daneben gab es Tausende Verurteilungen zu hohen Kerkerstrafen; Hunderte dieser Delinquenten fanden in den Gefängnissen und in den beiden Militärstrafanstalten Theresienstadt und Möllersdorf, in denen entsetzliche Zustände herrschten, den Tod. In den von der österreichisch-ungarischen Armee besetzten Gebieten Serbiens, Montenegros und Albaniens standen Geiselnahmen und Geiseltötungen auf der Tagesordnung.
Diese Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität wurden nach 1918 in Österreich nie wirklich aufgearbeitet und sind es bis heute
nicht.6 Wie der Verdrängungsprozess vonstatten ging, ist ein eigenes Kapitel, das hier nicht ausgebreitet werden kann. Sehr wohl muss aber etwas über die Ursachen der Exzesse gesagt werden, denn sie erscheinen jedem unbegreiflich, der nach wie vor fest an das Bild glaubt, das die Habsburgermonarchie so bühnenwirksam vor sich herzutragen verstand: dass ihre Parole „leben und leben lassen“ geheißen habe und sie die weltweit einzig patentangemeldete Heimstatt der „Gemütlichkeit“ gewesen sei. Wache Zeitgenossen wie ein Karl Kraus wussten aber schon damals, wie es um die „österreichische Seele“ in Wahrheit bestellt war, welch tiefe Abgründe finsterster Affekte unter der „feschen“ Oberfläche lauerten. Ein ungeheures Aggressionspotenzial hatten die Jahrzehnte des Nationalitätenkampfes gerade bei denen angehäuft, die „Deutschtum“ mit angeborener „Höherwertigkeit“ gleichsetzten, die sich vom Aufbegehren der „geschichtslosen Völker“ als überlegene und zum Herrschen prädestinierte „Kulturnation“ bedroht fühlten. In der Vorkriegszeit noch unterdrückt und von Konventionen gezügelt, verborgen hinter der Maske der Verbindlichkeit, freundlichen Wesens und Charmes, kamen die angestauten Ressentiments 1914 explosiv und mit furchtbaren Folgen zum Vorschein. Das lässt sich auch nicht mit dem Hinweis erklären, dass es nun einmal zum Wesen des Krieges gehört, bei allen Beteiligten die Hemmschwelle zur Tötung zu senken. Die Exzesse waren mehr und wurzelten auf einem umfassenderen Nährboden. Das wirkliche Substrat des Massenterrors war das jeglicher imperialistischer Machtpolitik inhärente sozialdarwinistische und rassistische Weltbild, das bei den Herrschenden und deren Handlangern die Bereitschaft wie den Willen auslöste, den Nietzsche-Ausspruch „Alles ist erlaubt!“ zur Maxime ihrer Behandlung von „Minderwertigen“ und „Subversiven“, ja von Beherrschten generell, zu erheben. Die unvermeidliche Folge war der Rückfall in die Barbarei. Eine schärfere Anklage gegen ein Gesellschaftssystem, das so etwas möglich machte, ist nicht denkbar.
Das Gesagte zerstört die Idylle, die vom Habsburgerreich, seinen herrschenden Kreisen und seiner militärischen Führung bis heute dominiert, gründlich. Es blieb eben nicht dabei, dass diese Schicht die Elemente imperialistischer Ideologie in sich eingesaugt hatte, sie handelte auch danach und exerzierte die Schwertstreiche im ersten Weltkrieg sogar radikaler als der deutsche Bündnispartner. Das war so, weil sich Österreich-Ungarn einem Kardinalproblem gegenübergestellt sahen, das das wilhelminische Kaiserreich in dieser Form nicht kannte, das aber die Situation Hitlerdeutschlands in einem wesentlichen Punkt vorwegnahm: Das Problem, im eigenen Machtbereich nach Millionen zählende „minderwertige“ Völkerschaften, konkret die Slawen, politisch zu beherrschen, wirtschaftlich auszubeuten und ihre nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen niederzuhalten. Zu einem Mittel, dieses Ziel zu erreichen, musste unter den Bedingungen eines imperialistischen Krieges, der sich nicht nur gegen den äußeren, sondern auch gegen den inneren Feind richtete, die Anwendung nackten Terrors werden.
Im Jahr 1998 stimmten 120 Staaten dem Statut von Rom zu, mit dem ein Internationaler Strafgerichtshof etabliert wurde, der weltweit ohne Ansehen der Person die Delikte Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Massenmorde, ethnische „Säuberungen“, Folter, Vergewaltigung) zu verfolgen hat. Der Weg zu ihm war lang und verwickelt; seinen Ausgang nahm er vom ersten Weltkrieg. Im Friedensvertrag von Versailles wurde Deutschland verpflichtet, seine Kriegsverbrecher an die Alliierten auszuliefern, um sie von Militärtribunalen aburteilen zu lassen. Die Liste umfasste 900 Namen, an der Spitze Kaiser Wilhelm II. Analoge Bestimmungen enthielt der Friede von Saint-Germain mit Österreich. Auf der von der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Italien eingebrachten Kriegsverbrecherliste befanden sich die Namen des Armeeoberkommandanten Erzherzog Friedrich, der Generäle Erzherzog Eugen, Erzherzog Joseph, Kövesz, Potiorek, Lütgendorf, Krauß, des Obersts Kerchnawe als Stabschef des Militärgouverneurs im besetzten Serbien, der Kommandanten von Thalerhof, Theresienstadt und Möllersdorf
usw.7 Den Auslieferungsbegehren wurde von Deutschland und Österreich in keinem einzigen Fall entsprochen, womit der erste Anlauf zur Verankerung völkerrechtlicher Straftatbestände scheiterte. Der zweite, 1945/46 mit den internationalen Militärtribunalen von Nürnberg und Tokio unternommen, glückte jedoch, nicht zuletzt deshalb, weil die Sowjetunion eine der Hauptmächte der Anti-Hitler-Koalition war und im Unterschied zu Großbritannien und den USA von Anfang an auf einem ordentlichen Gerichtsverfahren
bestand.8 Wichtigster Inhalt der Prozesse waren die drei „klassischen“ Nürnberger Tatbestände: Führen eines Angriffskriegs, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie wurden von den Vereinten Nationen als Grundlage eines künftigen Völkerstrafrechts anerkannt. Direkte Vorläufer des Statuts von Rom waren die vom Sicherheitsrat der UNO als Sondergerichte 1993 und 1994 eingesetzten Jugoslawien- und Ruandatribunale.
Hat damit nach fast einem Jahrhundert die Gerechtigkeit gesiegt? Vom Prinzip her ist der am 1. Juli 2002 konstituierte Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag als erstes auf Dauer fungierendes Weltgericht für Humanitätsverbrechen ein großer Fortschritt. Die Dialektik des Geschichtsablaufs hat dazu geführt, dass eine der zentralen Normen der bürgerlichen Gesellschaft, die Gleichheit vor dem Gesetz, sich unter bestimmten Bedingungen gegen ihre eigentlichen Machtträger richten kann und nicht bloß gegen ausführende Organe. Davon zeugen die Nürnberger Prozesse gegen den Flick-Konzern, Krupp und die IG Farben. Das Statut von Rom kann also bei veränderten globalen Kräfteverhältnissen durchaus zu einem wirksamen Instrument gegen die wirklich Schuldigen werden, wirksam deshalb, weil in einem Gerichtsverfahren Beweismittel vorzulegen sind und dadurch die geheimen Machenschaften in den Chefetagen des Monopolkapitals vor den Augen der Weltöffentlichkeit ans Tageslicht kommen.
Genau aus diesem Grund hat der Internationale Strafgerichtshof einen erbitterten Feind, die USA. Sie gehörten zu jenen sieben Staaten, die gegen das Rom-Statut stimmten, und sie behindern die Arbeit des Gerichts, wo sie nur können. Präsident George W. Bush hat im August 2002 sogar ein Gesetz unterzeichnet, das Staaten, die mit dem Internationalen Strafgerichtshof kooperieren, Sanktionen androht und das die Befreiung von US-Bürgern in den Niederlanden unter Einsatz von Militär erlaubt, die in Den Haag angeklagt und in Haft
sind.9 Aber wie singt doch die Wirtin Kopecka in Brechts „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“?: „Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt. Und gehen sie einher auch wie blutige Hähne, es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.“
Propaganda und Massenmanipulation
Der Krieg, der 1914 begann, erhöhte die Rolle des imperialistischen Staates sprunghaft und gab ihm eine noch nicht da gewesene, überwältigende Macht. Er erlaubte ihm, den Mann aus Familie und Beruf zu reißen, den Sohn den Eltern, den Vater den Kindern wegzunehmen und sie auf dem „Altar des Vaterlandes“ zu opfern; er eröffnete ihm die Möglichkeit, die von der Verfassung garantierten Grund- und Freiheitsrechte zu suspendieren und das politische Leben zu knebeln; er gestattete ihm, dem Landwirt vorzuschreiben, wie viel er abzuliefern hatte, dem Arbeiter, bei wem und für welchen Lohn er arbeiten musste, dem Konsumenten, was und wo er kaufen, wie viel Brot er täglich essen, wie viel Kohle er verheizen durfte.
Begleitet war das von einem ohrenbetäubenden Propagandagetöse. Tonnen an Druckerschwärze wurden in die Schlacht geworfen, um die Gehirne der Menschen dahin zu bringen, den Zustand als Notwendigkeit zu empfinden, ja ihn als Überwindung alter Klassenschranken und -gegensätze, als Hoch und Nieder die gleichen Pflichten abverlangende „Volksgemeinschaft“ gutzuheißen. Zum Lohn für diese Bekennerhaltung wurde versprochen, dass Österreich aus dem Krieg „erneuert“ und „verjüngt“ hervorgehen werde, worunter sich jeder das vorstellen konnte, was ihm als Ideal gesellschaftlichen Zusammenlebens vorschwebte. Ganze Tintenmeere wurden aber auch verspritzt, um den Krieg als gerechten, „heiligen Verteidigungskrieg“ hinzustellen, seinen räuberischen Charakter zu verschleiern und die Volksmassen dazu zu motivieren, sich freiwillig an falschen, gegen ihre ureigensten Interessen gerichteten Fronten gruppieren zu lassen. Dass das im Juli/August 1914 gelang, war einer der größten Triumphe, den Herrschende je feiern, und eine der bittersten Niederlagen, die Beherrschte je erleiden mussten.
Die orgiastische Kriegsbegeisterung und ihr nicht minder pathologisches Pendant, die Spionenhysterie, die in den ersten Kriegswochen überall wie eine Seuche grassierten, erscheinen Historikern bis heute als eines der rätselhaftesten, rational unerklärlichsten massenpsychologischen Phänomene des 20. Jahrhunderts. Beide waren aber nur das traurige Ergebnis imperialistischer Ideologie, einer über Jahre hinweg in gigantischem Maßstab betriebenen Manipulierung und Verdummung der Menschen, eines Systems, das zur Einbindung der Volksmassen in sein Welt- und Gesellschaftsverständnis bewusst auf die Karte der Schürung von Emotionen und Ressentiments setzte, und das zur Stabilisierung seiner Herrschaft unter allen Umständen Feindbilder brauchte.
Die Gehirnwäsche in der Zeit vor 1914, betrieben von einer ganz neuen Technik zur Erzeugung „öffentlicher Meinung“, von der modernen Massenpresse, war aber nichts im Vergleich zu der ungeheuren Propagandamaschinerie, die in jedem beteiligten Land während des Krieges aufgebaut wurde. Um die Leiden und Entbehrungen erträglich scheinen zu lassen, mussten die Menschen mit Stimmungsmache über den hehren Zweck des Krieges und den Ruhm, für das Vaterland zu sterben, bis zur Besinnungslosigkeit überfüttert werden. Die imperialistische Kunst der Menschenverführung, der Manipulierung und Lüge erreichte eine ungeahnte Perfektionierung.
Die Wahrheit über diesen Krieg haben Lenin und andere revolutionäre MarxistInnen vom ersten Moment an ausgesprochen. Österreich kann sich glücklich schätzen, den wortgewaltigsten, konsequentesten und unbestechlichsten Kriegsgegner aus den Reihen des Bürgertums besessen zu haben: Karl Kraus. Seine Schriften aus dem ersten Weltkrieg und sein dokumentarisches Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ stehen ohne Vergleich da und sind bleibend aktuelle Lehrstücke für das Erkennen der Produktionsmethoden falschen Bewusstseins. Die Ereignisse von 1914 bis 1918 machten ihm klar, dass die von den Eliten verkündeten Leitbilder lediglich die ideologische Tarnung für einen ökonomisch motivierten Expansionskrieg abgaben. Der Krieg war für ihn die Folge der „Unterwerfung der Menschheit unter die
Wirtschaft“.10 Die „Helden“ werden an die Fronten geschickt, um den „Händlern“ ihre Märkte zu sichern. „Ich weiß genau, dass es zu Zeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete
werden“.11
Aus den Erfahrungen der herrschenden Klasse mit der Waffe der psychologischen Kriegführung im ersten Weltkrieg zogen der Faschismus, nach seiner Niederwerfung die „Kalten Krieger“ gegen den Weltsozialismus und gegenwärtig die „Globalisierer“ die Konsequenzen. Ausgestattet mit dem noch wirksameren Massenmedium des Fernsehens wuchert das Einhämmern falscher Begrifflichkeiten üppiger denn je: „Reform“ für die Kürzung von Sozialleistungen und für die Abschaffung einstens erkämpfter wirklicher Reformen; „Mitarbeiter“ für die mehrwertschaffenden Lohnabhängigen, die aufs Pflaster geworfen werden, sobald sie für die Verwertungsbedürfnisse eines der „Mitarbeiter“ entweder überflüssig oder zu teuer sind; der uralte Hut „Unternehmer schaffen Arbeitsplätze“, denen man für diesen selbstlosen Dienst am Allgemeinwohl gefälligst Dank abzustatten hat, usw. Wie massenhaft das wirkt, zeigen Meinungsumfragen, wonach die Mehrheit der Betroffenen das Argument der im Dienst der Industriellenvereinigung agierenden „Experten“ wie Rürup und Marin nachredet, die Pensions“reform“ sei unverzichtbar, weil wir immer älter werden und immer weniger Kinder kriegen, zu lange „über unsere Verhältnisse“ gelebt haben, wir uns das jetzige System „nicht mehr leisten können“ und bestehende „Ungerechtigkeiten“ durch „Harmonisierung“ zu beseitigen sind. „In unserer reflexionsreichen und räsonierenden Zeit muss es einer noch nicht weit gebracht haben, der nicht für alles, auch das Schlechteste und Verkehrteste, einen guten Grund anzugeben weiß. Alles, was in der Welt verdorben ist, das ist aus guten Gründen verdorben
worden“.12
Massenmanipulation ist heute die Hauptwaffe der herrschenden Klasse, so wirksam, dass sie wirkliche Waffen nicht oder vorerst nur in Ausnahmefällen einzusetzen braucht. In sie Breschen zu schlagen, wird von allen Aufgaben die schwerste, dafür aber auch die mit den effektivsten Ergebnissen sein. Die Geschichte des ersten Weltkriegs zeigt, dass das möglich ist und so kommen kann.
„Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“
Als Hugo Haase am 4. August 1914 im Namen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vor dem Reichstag erklärte: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“, ordnete er wie die Führungen aller großen sozialdemokratischen Parteien Europas die Interessen der Arbeiterschaft denen der imperialistischen Bourgeoisie unter. Mit dem Überbordwerfen der Prinzipien des proletarischen Klassenkampfes und der internationalen Solidarität gaben die Reformisten den Herrschenden die Sicherheit im Inneren des Landes, die sie für einen Eroberungskrieg nach außen brauchten. Lenin schrieb damals: „Der Sozialchauvinismus ist der vollendete Opportunismus. Er ist reif geworden zu einem offenen, oft ordinären Bündnis mit der Bourgeoisie und den Generalstäben. Es ist eben dieses Bündnis, das ihm eine große Macht und das Monopol des legal gedruckten Wortes, der Irreführung der Massen
gibt“.13
Für den enormen Effekt der imperialistischen „Volksgemeinschafts“-Propaganda steht die Tatsache, dass man die Schläge, die die Industrie- und Finanzoligarchie, die Regierung und das Militär im ersten Weltkrieg den Beherrschten verabreichten, lange Zeit mit kaum ins Gewicht fallenden Ausnahmen stumm und ohne Gegenwehr hinnahm – was in Deutschland und Österreich auch widerspiegelte, wie stark hier die Untertanenmentalität verbreitet war.
Ein Teil, und zwar der entscheidende, scherte jedoch in Österreich um die Jahreswende 1916/17 aus der Front der Regimeloyalität aus: die Arbeiterschaft. Sie schüttelte die ihr von den Machthabern, der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaftsführung verpasste Zwangsjacke des „Burgfriedens“ ab, besann sich auf ihre kämpferischen Traditionen und begann mit dem Mittel des Streiks gegen Entrechtung und Unternehmerwillkür, für Frieden und Brot offensiv auf den Plan zu treten. Sie war es, die im Haltungsspektrum des österreichischen Volkes den Faktor des Aufbegehrens fortan verkörperte. Mehr noch: Sie brachte im Massenstreik des Jänners 1918 die Herrschaftsordnung ins Wanken und Österreich an einen Punkt, der näher an der Möglichkeit der sozialen Revolution lag als je zuvor und danach in seiner Geschichte. Und unter den nationalen Proletariaten des Habsburgerreiches war sie es, die 1917/18 das aktivste Element darstellte und die Rolle einer Avantgarde für sich beanspruchen konnte.
Für das bis heute übliche Erklärungsschema über den Untergang Österreich-Ungarns bedeutet das sehr viel. Die Habsburgermonarchie ist im Herbst 1918 keineswegs nur deshalb zerfallen, weil die nichtdeutschen Völker sich von ihr lostrennten. Auch die Österreicher hatten daran ihren Anteil. Es waren die österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die mit ihren Protestaktionen, Streiks und Massenbewegungen mindestens ebenso viel wie die beherrschten Nationalitäten dazu beitrugen, das Regime zu unterhöhlen und zum Einsturz zu bringen.
Indem sie das taten, handelten sie spontan im Einklang mit der Losung Karl Liebknechts, dass der „Hauptfeind im eigenen Land“ steht. Was war der Inhalt dieser Losung? Der Arbeiterschaft, die im „Burgfrieden“ und im Propagandanetz der Notwendigkeit der „Vaterlandsverteidigung“ gefangen war, klar zu machen, dass es keinen „besseren friedfertigen“, weil parlamentarisch-demokratischen, und keinen „schlechteren kriegerischen“, weil monarchisch-autoritären Imperialismus gibt (vice versa, denn für die Ebert, Scheidemann und Konsorten war natürlich der deutsche Imperialismus der „bessere friedfertige“), dass er überall das gleiche Primärziel verfolgt, die Volksmassen ökonomisch und politisch in Botmäßigkeit zu halten und es deshalb unstatthaft ist, für eine der rivalisierenden imperialistischen Seiten Partei zu ergreifen.
Hat die Orientierung, dass der „Hauptfeind im eigenen Land“ steht, heute noch eine Bedeutung? In einer Zeit, in der nur noch Imperialismen mit „freiheitlich-demokratischer“ politischer Ordnung existieren, die nunmehr – wie man es täglich zu hören bekommt – die zivilisierte Menschheit vor den Gefahren des „Terrorismus“ beschützen, im Zeichen der Globalisierung und der europäischen Integration? Kann man den Kapitalismus wirksam nicht mehr im beschränkten nationalen Rahmen bekämpfen, sondern nur mehr auf internationaler Ebene? Diese Frage ist auch für Österreich aktuell, ein Land, das seit 1995 Vollmitglied der Europäischen Union ist und als Kleinstaat in deren Machthierarchie gewiss nicht die erste Geige spielt.
Die Frage muss aber so gestellt werden: Gibt es in Österreich eine imperialistische Bourgeoisie? (Imperialistisch im Sinne Hilferdings und Lenins verstanden, als zum Finanzkapital verschmolzenes, monopolistisches Bank- und Industriekapital mit der Fähigkeit eigenständigen Handeln im kapitalistischen Konkurrenzkampf, Erringung von ökonomischen Einflusssphären, Kapitalexport usw.) Ja, sie gibt es, seit sie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der Donaumonarchie entstand, sie ist nie verschwunden, höchstens in ihrer Wirkungsmöglichkeit zeitweilig eingeschränkt gewesen, und sie ist heute, nach der ab 1985 erfolgten Zerschlagung des verstaatlichten Wirtschaftssektors, stärker denn
je.14 Wie sie ihre Kapitalanlagesphären ausdehnt, wissen Nachbarstaaten wie die Slowakische und Tschechische Republik, Slowenien, Ungarn und neuerdings das Erdölland Rumänien bereits. Und wie sie bei uns agiert, haben die arbeitenden Menschen nebst „unproduktivem Ballast“ wie LehrerInnen, StudentInnen, PensionistInnen und SozialhilfeempfängerInnen in den letzten Jahren drastisch erleben müssen. Sie gilt es vorrangig zu bekämpfen. Nur so kann man an konkrete Bedürfnisse, Ängste, Sorgen, Wünsche der Menschen an der Basis der Gesellschaft anknüpfen, dadurch etwas in Bewegung bringen und ihr Ohnmachtsgefühl überwinden. Erfüllen alle antiimperialistischen Kräfte ihre Aufgaben zuerst im eigenen Haus, wird das der wirksamste Beitrag zur Renaissance des Prinzips der internationalen Solidarität sein.
Anmerkungen:
1/ So der konservative deutsche Historiker Michael Stürmer in: Die Welt, 4. August 2004
2/ So der amerikanische Historiker David Fromkin in: Die Zeit, 29. Juli 2004
3/ So der deutsche Historiker Stefan Troebst in: Die Zeit, 29. Juli 2004
4/ So der österreichische Publizist Alexander Marinovic in: Die Presse, 24. Juli 2004
5/ So der österreichische Sozial- und Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber in: Die Presse, 24. Juli 2004
6/ Der Autor bereitet darüber schon seit längerem eine Monographie vor. An bisherigen Veröffentlichungen sind zu nennen: Hans Hautmann, Bemerkungen zu den Kriegs- und Ausnahmegesetzen in Österreich-Ungarn und deren Anwendung 1914-1918, in: Zeitgeschichte, Heft 2, Wien-Salzburg 1975; Kriegsgesetze und Militärjustiz in der österreichischen Reichshälfte 1914–1918, in: Erika Weinzierl/Karl R. Stadler (Hrsg.), Justiz und Zeitgeschichte = Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 1, Wien-Salzburg 1977; Prozesse gegen Defätisten, Kriegsgegner, Linksradikale und streikende Arbeiter im Ersten Weltkrieg, in: Karl R. Stadler (Hrsg.), Sozialistenprozesse. Politische Justiz in Österreich 1870-1936, Wien-München-Zürich 1986; Blutgemütliches Etwas. Die Habsburgermonarchie, in: Fin de siècle. Hundert Jahre Jahrhundertwende. Bilder-Lese-Buch Elefanten Press, Berlin 1988; Als die k.k. Österreicher über die Serben herfielen, in: Weg und Ziel, Nr. 10, Wien 1991; Zum Sozialprofil der Militärrichter im Ersten Weltkrieg, in: Erika Weinzierl/Oliver Rathkolb/Siegfried Mattl/Rudolf G. Ardelt (Hrsg.), Richter und Gesellschaftspolitik. Symposion Justiz und Zeitgeschichte. 12. und 13. Oktober 1995 in Wien = Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft, Wien-Salzburg, Band 28, Innsbruck-Wien 1997; Die Verbrechen der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg und ihre Nicht-Bewältigung nach 1918. Referat auf der 23. Jahrestagung der amerikanischen „German Studies Association“ in Atlanta/USA 1999, in: www.doew.at/thema/
content.html , download August 2004; gemeinsam mit Claudia Kuretsidis-Haider: Judical Crimes as an Instrument of Internal Warfare and Subject of Post-War Justice in Austria: a Comparison of WWI and II, in: The Second World War in 20th Century History. Oslo – August 11-12, 2000. 19th International Congress of Historical Sciences = Bulletin du Comité international d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale, n° 30/31 – 1999/2000, Cachan 2000; Die österreichisch-ungarische Armee auf dem Balkan, in: Franz W. Seidler/Alfred M. de Zayas (Hrsg.), Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert, Hamburg-Berlin-Bonn 2002. Das Thema behandeln mehr oder weniger ausführlich auch: Claus Gatterer, Unter seinem Galgen stand Österreich. Cesare Battisti. Porträt eines „Hochverräters“, Wien-Frankfurt-Zürich 1967; Christoph Führ, Das k.u.k. Armeeoberkommando und die Innenpolitik in Österreich 1914-1917, Graz-Wien-Köln 1968; Eduard Rabofsky/Gerhard Oberkofler, Verborgene Wurzeln der NS-Justiz. Strafrechtliche Rüstung für zwei Weltkriege, Wien-München-Zürich 1985; Gerhard Oberkofler/Eduard Rabofsky, Tiroler Kaiserjäger in Galizien, in: Historische Beiträge. Festschrift für Johann Rainer = Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 25, Innsbruck 1988; Rudolf Jerabek, Potiorek. General im Schatten von Sarajevo, Graz-Wien-Köln 1991; Michael Pesendorfer, Die Militärjustiz Österreich-Ungarns im 1. Weltkrieg, Diss., Salzburg 1994; Oswald Überegger, Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002; Martin Moll, Kein Burgfrieden. Studien zum deutsch-slowenischen Nationalkonflikt in der Steiermark vor dem und im Ersten Weltkrieg, Graz 2002; Anton Holzer, Augenzeugen. Der Krieg gegen Zivilisten. Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 22. Jg., Heft 85/86, Marburg 2002
7/ Hans Hautmann, Die Verbrechen der österreichisch-ungarischen Armee, a.a.O.
8/ Siehe dazu: Claudia Kuretsidis-Haider, Die von der Moskauer Konferenz 1943 verabschiedete „Erklärung über die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Gräueltaten“. Genese, Kontext, Auswirkungen und Stellenwert, in: Alfred Klahr Gesellschaft. Mitteilungen, 10. Jg., Nr. 4, Wien 2003, S. 7-14
9/ www.inidia.de/internationaler_strafgerichtshof.htm, download August 2004
10/ Karl Kraus, In dieser großen Zeit, in: Die Fackel, Nr. 404, 5. Dezember 1914, S. 8
11/ Ebenda, S. 4
12/ Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 1. Teil: Die Logik, in: Werke, Band 6, Berlin 1840, S. 249. Hervorhebung im Original. Die Erstauflage dieses Werks und mithin das Zitat stammen aus dem Jahr 1812.
13/ W.I. Lenin, Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale, in: W.I. Lenin, Gegen den Revisionismus, Berlin 1959, S. 273
14/ Eine marxistische Analyse dazu legte schon vor zwanzig Jahren Hans Kalt vor, damals Mitglied des Politbüros der KPÖ: Hans Kalt, Das Finanzkapital in Österreich, Wien 1985
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3/2004
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