Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

Drechslergasse 42, A–1140 Wien

Tel.: (+43–1) 982 10 86, E-Mail: klahr.gesellschaft@aon.at


 

Home
AKG
Veranstaltungen
Mitteilungen
Publikationen
Geschichte
Links

 

Das Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft zum 100. Geburtstag und 60. Todestag von Alfred Klahr

Unter dem Titel „Alfred Klahr (1904–1944) und die ‚Erfindung‘ der österreichischen Nation. Deutschnationale, Austrofaschisten und Kommunisten im Kampf um die österreichische Identität“ fand am 16. Oktober 2004 in der „ehemaligen Kapelle“ im Campus der Universität Wien ein Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft statt, das dem Begründer der marxistischen Theorie der österreichischen Nation gewidmet war. Referenten waren Prof. Dr. Wolfgang Häusler (Universität Wien), Dr. Winfried Garscha (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes) und Prof. Dr. Félix Kreissler (Paris). Der Vortrag bei diesem Symposium war der letzte öffentliche Auftritt Felix Kreisslers vor seinem Tod.
In seiner Eröffnungsrede „Alfred Klahr und Österreich wie es ist und wie es sein sollte“ führte der Präsident der Alfred Klahr Gesellschaft, Univ.Prof. Dr. Hans Hautmann, unter anderem aus:
„Die Alfred Klahr Gesellschaft, deren Präsident ich seit der Gründung im Jahr 1993 bin, sieht es als ihre Verpflichtung an, das Gedenkjahr des 100. Geburtstages und 60. Todestages von Alfred Klahr zum Anlass zu nehmen, um diesen Vordenker der österreichischen Nation zu würdigen. Das offizielle Österreich hat das nicht getan, obwohl es dazu allen Grund hätte. Zum Ausdruck kam diese Haltung, eine Mischung von Gleichgültigkeit, Indolenz und Abneigung, in der Ablehnung unseres Antrags, im Jahr 2004 eine Sonderbriefmarke Alfred Klahr herauszugeben, ein Antrag, der von einer ganzen Reihe namhafter Historikerinnen und Historiker sowie Politiker unterstützt wurde, so von Erika Weinzierl, Lorenz Mikoletzky, Ernst Bruckmüller, Wolfgang Häusler, Félix Kreissler, Wolfgang Neugebauer, Bürgermeister Michael Häupl und anderen. Die Begründung der Ablehnung seitens der zuständigen Stelle der Postverwaltung erschöpfte sich in dubiosen Formalkriterien; die wahre Ursache liegt aber auf der Hand: in der nach wie vor unüberwindbaren Aversion, einen Kommunisten zu ehren. Umso mehr obliegt es allen jener, die um die Bedeutung Alfred Klahrs für die Erkämpfung eines Bildes der wahren österreichischen Identität Bescheid wissen, dem gegenzusteuern. Unser Symposium soll dazu einen Beitrag leisten.
(...) Im Jahr 1828 erschien ein Buch mit dem Titel ,Austria as it is‘, das eine beißende Kritik am Metternich-Regime des Vormärz enthielt. Der Verfasser war Karl Postl, ein Deutschmährer, der 1823 in die USA emigrierte und dort unter dem Namen Charles Sealsfield zu einem berühmten Schriftsteller wurde. Der Titel ,Österreich wie es ist‘ und der Inhalt, die kritische Analyse des Herrschaftssystems in Österreich, haben mich inspiriert, meine Ausführungen über Alfred Klahr und die Aktualität seiner Grundanschauungen ähnlich zu benennen.
Welche Bedeutung hat die Konzeption Alfred Klahrs für uns heute, in einer Situation, in der sich gegenüber 1937, als er seine theoretische Studie verfasste, so vieles in Österreich und um Österreich herum in Europa und der Welt verändert hat?
Alfred Klahr hat das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, Österreichs Befreiung und das Wiedererstehen unseres Staates nicht mehr erlebt. Er ist, aus dem Konzentrationslager Auschwitz geflohen, im Sommer 1944 von der SS in Warschau erschossen worden. Er konnte es nicht wissen, aber wir wissen es heute, dass seine Ideen einen Prozess in Gang gesetzt haben, der in der Zeit der Auslöschung Österreichs ein identitätsstiftendes Bewusstsein schuf, das dem Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur eine historische Perspektive gab und in der 2. Republik jenen demokratischen Konsens ermöglichte, der Österreich politische Irrwege wie die nach 1918 ersparte.
Alfred Klahr war Kommunist, und seine Äußerung aus dem Jahr 1937, die wir als Motto dem Tagungsprogramm vorangestellt haben, nämlich dass „Österreich der Staat des österreichischen Volkes ist, das eine selbständige staatliche und nationale Entwicklung hinter sich hat, das sein weiteres Schicksal selbst bestimmt und aus eigener Kraft seine Lebensfähigkeit sichern will“, muss sicherlich so verstanden werden, dass er damit ein soziales Österreich meinte, und in weiterer Perspektive ein Österreich auf sozialistischer Grundlage. Dieses Österreich gibt es noch wie vor nicht. Trotzdem hätte er es gewiss begrüßt, dass die gewaltigen Errungenschaften, die durch den antifaschistischen Befreiungskampf der Völker im zweiten Weltkrieg erwirkt wurden, auch in Österreich ihre spezifische Ausprägung fanden: in Form der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, in Form des Staatsvertrages vom 15. Mai 1955 und in Form des Neutralitätsgesetzes vom 26. Oktober 1955. Denn die darin festgeschriebenen Grundsätze stehen in einem unauflöslichen politischen und rechtlichen Zusammenhang und lauten: Staatliche Unabhängigkeit, Demokratie, Antifaschismus und Neutralität. Sie bilden die tragende Säule des staatsrechtlichen Fundaments der 2. Republik und sind Ausdruck der Weiterentwicklung der formal-demokratischen Bundesverfassung der 1. Republik zu einer demokratisch-antifaschistischen Verfassungsordnung nach 1945. Darunter fallen insbesondere die Artikel 6 (über die Menschenrechte), 7 (über die Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheiten), 8 (über die demokratischen Einrichtungen) und 9 (über die Auflösung nazistischer Organisationen) des Staatsvertrages, die 1964 zu Verfassungsgesetzen erhoben wurden und damit Bestandteil des geltenden österreichischen Verfassungsrechts sind. Alfred Klahr hätte es sicherlich mit Genugtuung gesehen, dass die österreichische Verfassungsordnung der 2. Republik also keinem abstrakten Pluralismus verpflichtet ist, sondern eine eindeutig demokratisch-antifaschistische Struktur aufweist. Es wird für alle, die sich dem verpflichtet fühlen, eine Aufgabe sein, darauf zu achten und dafür einzutreten, dass bei der Ausarbeitung der neuen österreichischen Verfassung diese Grundsätze erhalten bleiben und nicht verwässert werden.
Denn diese demokratisch-antifaschistische Grundorientierung samt dem Status der Neutralität hatte und hat ihre offenen wie heimlichen Feinde. Es ist hier nützlich, daran zu erinnern, dass der Vorläufer der Freiheitlichen, der „Verband der Unabhängigen“ (VdU), am 26. Oktober 1955 im Nationalrat gegen das Neutralitätsgesetz stimmte, womit die FPÖ für sich beanspruchen kann, immer schon gegen die Neutralität gewesen zu sein. Und es hat immer Kräfte bei uns gegeben, die die Neutralität als eine ausschließlich militärische ansahen und alternative Konzepte zur Abrüstung, Entmilitarisierung und Friedenssicherung, wie sie von der Friedensbewegung vorgeschlagen wurden, unberücksichtigt ließen. Ein Hauptstützpunkt dieser Kräfte war das Offizierskorps des Bundesheeres, das konsequenterweise nach dem Verschwinden der europäischen kommunistischen Staaten 1989/91 der vehementeste Befürworter der Aufgabe der Neutralität und des Beitritts zur NATO ist.
Die heimlichen Gegner sind unter jenen zu finden, die sich als eigentliche „Stützen der Gesellschaft“ verstehen. Es sind das die Wirtschaftsmächtigen in unserem Land. Um deren Motive klarzulegen, muss man bis zum Epochenjahr 1918 zurückgehen. In diesem Jahr des Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie verlor die real herrschende Schicht, das deutschösterreichische Industrie- und Bankkapital, mit einem Schlag seine ökonomische Führungsposition im Rahmen einer europäischen Großmacht. Diesen Sturz von den wirtschaftlichen Kommandohöhen in Mittel- und Südosteuropa hat das österreichische Großkapital nie verwunden. Von daher stammt das Gerede von der „Lebensunfähigkeit“ Österreichs, das die gesamte 1. Republik durchzieht, stammen die diversen „Donaukonföderations“-Pläne, die Anschlusspropaganda, die „Mitteleuropa“-Idee, das Wort vom „Verhungern in der Neutralität“, und schließlich die erfolgreich durchgezogene Kampagne für den Vollbeitritt zur EU.
Was für diese Kreise schlecht war, war für die breite Masse der Menschen in unserem Land naturgemäß gut. Niemals haben die Österreicherinnen und Österreicher bessere Jahre erlebt als in den Dezennien nach 1955, in denen sich unsere Machtinhaber genötigt sahen, Staatsvertrag und Neutralität zu achten, als auf dieser Basis der Kleinstaat Österreich eine weltweit anerkannte friedenserhaltende und friedensvermittelnde Rolle spielte, als die Systemkonkurrenz zwischen Ost und West das heimische Unternehmertum zwang, Österreich als Schaufenster einzurichten, auf das die Menschen hinter dem so genannten „eisernen Vorhang“ sehnsüchtig blicken sollten wegen des hohen Lebensstandards. Und dieser Systemkonkurrenzdruck brachte den Österreichern das ein, was nun Stück für Stück in Trümmer geschlagen wird: sichere Arbeitsplätze, ein dichtes soziales Netz und permanente, beträchtliche Reallohnzuwächse.
Wie man sieht, gehen die Angriffe gegen die sozialen Errungenschaften organisch Hand in Hand mit den Attacken gegen den Neutralitätsstatus. Beide haben nämlich eine gemeinsame Wurzel: den – wie behauptet wird – „unnatürlichen“ Zustand zu beenden, in dem sich Österreich seit 1918 und, erneuert und international festgeschrieben, seit 1955 befand, einen Zustand, der deshalb als „unnatürlich“ und „durch die Geschichte überholt“ hingestellt wird, weil er der freien Entfaltung der tatsächlichen ökonomischen Potenzen des österreichischen Großkapitals hemmend im Wege stand. Mit dem EU-Beitritt und der EU-Osterweiterung will man jetzt wieder dort anknüpfen, wo der Faden gerissen ist, an jenen Zustand vor dem Ersten Weltkrieg, als die Führungsschichten des Habsburgerreiches im Konkurrenzkampf der imperialistischen Mächte erfolgreich mitmischten, expandierten, Einflusssphären hatten, Machtpositionen in Mittel- und Südosteuropa besaßen.
Sind die Behauptungen, dass die Neutralität nach dem Ende der Konfrontation der beiden Weltsysteme überholt sei, richtig? Sie sind es ganz und gar nicht. Wir leben nach wie vor in einer friedlosen Welt, in einer Zeit, in der die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, die Gegensätze zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft wie in der internationalen Weltarena fortbestehen, und in der sie sich durch Kriege wie den der USA gegen den Irak sogar verschärfen.
Mit der Propaganda für das „europäische Sicherheitssystem“ steht es nicht anders. Mit diesem Begriff wird etwas vorgegaukelt, was dem Einzelnen persönliche Sicherheit verspricht, der aber in der Realität neue Aufrüstung und neue militärische Strategien beinhaltet. Alle Österreicherinnen und Österreicher, die sich den Idealen einer friedlichen und gerechten Weltordnung verpflichtet fühlen, sind deshalb aufgerufen, den Versuchen der Zertrümmerung eines Hauptfundaments unseres staatlichen Seins entgegenzutreten und die Neutralität unseres Landes zu bewahren.
Handeln sie so, dann handeln sie sicherlich im Sinne Alfred Klahrs und eines Österreichs, wie es sein sollte, denn wahrer österreichischer Patriotismus heißt Bekenntnis zur Neutralität als jener Orientierung, die dem Status unseres Landes als Kleinstaat wie auf den Leib geschneidert ist und deren Proklamation am 26. Oktober 1955 endlich das war, wohin man nach langen Irrungen und Wirrungen gelangte: der Weg Österreichs zu sich selbst, zu seiner eigentlichen Bestimmung unter den europäischen Völkern, als Land der Nichtpaktgebundenheit mit friedenserhaltender und friedensvermittelnder Rolle, abhold allen kriegerischen Abenteuern.
Dieses Österreich, wie es sein sollte und wie es von der großen Mehrheit der österreichischen Bevölkerung gefühlsmäßig befürwortet wird – denken wir nur an die breite Zustimmung zur Neutralität – ist heute zuhöchst gefährdet. Denn in wenigen Wochen soll in Rom die europäische Verfassung unterzeichnet werden, die eine militärische Beistandsverpflichtung enthält, die sogar strikter ist als die entsprechende Klausel im NATO-Vertrag. Diese Bestimmung steht in offenem Widerspruch zur Neutralität. Es ist daher zu fordern, dass darüber – so wie in Frankreich, Großbritannien, Spanien, Polen und weiteren insgesamt 11 Mitgliedsländern der EU – auch in Österreich eine Volksabstimmung durchgeführt wird.
Alfred Klahrs Vermächtnis zu erfüllen heißt heute Eintreten für die Unabhängigkeit Österreichs, für die Neutralität unseres Landes und gegen die EU-Verfassung. Es ist das kein bornierter, rückwärtsgewandter Nationalismus, den es in Österreich auch gibt und den wir kennen gelernt haben, als im Jahr 2000 die Europäische Union wegen der Bildung der schwarzblauen Regierung Sanktionen über Österreich verhängte, als das, was man als falsches österreichisches Nationalbewusstsein, falsche österreichische Identität, falschen österreichischen Patriotismus zu kennzeichnen hat, förmlich überschwappte und uns damals tagtäglich aus den Leserbriefseiten der „Kronen-Zeitung“ entgegenblickte. Klahrs Konzeption ist das gerade Gegenteil davon, denn sie fußt auf den progressiven Traditionen unserer Geschichte, sie knüpft an jene Bewegungen an, die ein anderes, ein von Unterdrückung und Ausbeutung freies, ein demokratisches und soziales Österreich wollten. Und Klahrs Konzeption einer wahren österreichischen Identität ist damals wie heute nur möglich und realisierbar als sozialer Kampf jener, die den gesellschaftlichen Reichtum in unserem Land schaffen, gegen jene, die ihn sich aneignen. Will man in diese Richtung etwas weiterbringen, so liegt es auf der Hand, sich auch heute von den Erkenntnissen leiten zu lassen, die aus dem Werk Alfred Klahrs gewonnen werden können.“
Wolfgang Häusler beleuchtete in seinem Beitrag die persönliche und politische Entwicklung Ernst Karl Winters. Winter, von der austrofaschistischen Führung nach den Februarkämpfen des Jahres 1934 zum Vizebürgermeister von Wien ernannt und mit dem Versuch eines Brückenschlags zur besiegten Arbeiterschaft betraut, wird in der wissenschaftlichen Forschung neben Alfred Klahr als der zweite wichtige Theoretiker der eigenständigen nationalen Entwicklung des österreichischen Volkes genannt. In mehreren Aufsätzen und in einer zweibändigen Studie über den Habsburger-Herzog Rudolf den Stifter kämpfte er, indem er den Nachweis einer eigenständigen Entwicklung der österreichischen Länder seit dem Hochmittelalter erbrachte, gegen die Vorherrschaft des Deutschnationalismus in der österreichischen Geschichtsschreibung an. Häusler zeigte in seinem Referat, dass diese theoretische Leistung E. K. Winters erst möglich wurde, nachdem er die antisemitischen und antisozialistischen Vorurteile seiner Jugend aufgegeben hatte. Obwohl „kaltgestellt“, weil er sich vehement gegen eine „Verständigung“ des Regimes mit den illegalen Nazis wehrte, versuchte E. K. Winter bis in die Märztage 1938 hinein, die Führung des Ständestaates um Schuschnigg zum Widerstand gegen den drohende Annexion zu bewegen.
Winfried R. Garscha zeichnete in seinem Referat die theoretischen Diskussionen in der kommunistischen Bewegung (vor allem auf dem VII. Weltkongress der Komintern) nach. Klahr stützte sich auf Stalins „Marxismus und nationale Frage“, trug aber zur Weiterentwicklung der marxistischen Theoriebildung insofern bei, als er der Herausbildung des Nationalbewusstseins größere Bedeutung beimaß und sie als dynamischen, von der Politik beeinflussbaren Prozess ansah.
Félix Kreissler zeigte als dritter Referent am Beispiel österreichischer und französischer Publikationen auf, welchen Einfluss die Erkenntnisse Alfred Klahrs während des zweiten Weltkriegs und in der Zeit danach auf die Auseinandersetzungen zur nationalen Frage selbst dort hatten, wo nicht ausdrücklich auf ihn Bezug genommen wurde. Einen besonderen Stellenwert räumte Kreissler Kurt Blaukopf ein, dessen Text „Nationale Probleme der österreichischen Geschichte“1944 von Willy Verkauf vom „Free Austrian Movement“ in Palästina publiziert worden war.
In der abschließenden einstündigen Diskussion wurden Ergänzungen inhaltlicher Art gebracht, Forschungslücken thematisiert und Fragen der Aktualität der Konzeptionen Alfred Klahrs für das Österreich der Gegenwart aufgeworfen. Sie verlief lebhaft und anregend.
Das von 10 bis 14 Uhr dauernde Symposium war ausgezeichnet besucht, was verdeutlicht, wie sehr die Tätigkeit der Alfred Klahr Gesellschaft ihren Mitgliedern – und über sie hinaus SympathisantInnen aus einem breiteren Kreis der Öffentlichkeit – am Herzen liegt.

Hans Hautmann

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 4/2004

 

Zurück Home Nach oben Weiter