Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Peter Fleissner: Naturwissenschaften im Blickpunkt von Philosophie, Geschichte und Politik. Werk und Wirkung von Gerhard Harig (1902–1966) und Walter Hollitscher (1911–1986)

Aus Anlass des neunzigsten Geburtstages von Walter Hollitscher veranstaltete die Rosa Luxemburg-Stiftung Sachsen am 13. Mai 2002 in Leipzig ein Kolloquium über zwei Persönlichkeiten, die sich in der DDR besonders um die Förderung der Naturwissenschaften und die Propagierung sozialistischer Ideen verdient gemacht haben. Dabei ging es beiden nicht nur um die „reine“ Naturwissenschaft, sondern um die vielfältigen Verzahnungen von Wissenschaft und Technik mit der gesellschaftlichen Praxis. Wie man den Ausführungen aller Referenten entnehmen konnte, war beiden die Interdisziplinarität gelebte Wirklichkeit, nicht bloß ein theoretischer Vorsatz. Die Veranstaltung versammelte eine Reihe prominenter Wissenschaftler und Forscher aus verschiedenen Disziplinen, die den breiten wissenschaftlichen Horizont und das praktische Engagement von Hollitscher und Harig belegten, unter ihnen Herbert Hörz (Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften als Einheit von Logischem und Historischem – Bemerkungen zum wissenschaftsphilosophischen Wirken von Harig und Hollitscher), Hubert Laitko (Renaissance der Naturdialektik? Walter Hollitschers Berliner Jahre), Dieter Wittich (Gemeinsames und Spezifisches mit anderen Pionieren der DDR-Philosophie), H. Bernhardt (Gerhard Harig – Leben und Werk in schwerer Zeit), S. Prokop (Gerhard Harig – erster Staatssekretär für das Hochschulwesen der DDR) (alle Berlin), D. Goetz (Potsdam, Erinnerungen an Gerhard Harig), S. Kätzel (Leipzig, Bemerkungen zu Walter Hollitscher und zur Psychoanalyse-Diskussion in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR).

Die Persönlichkeiten und Lebenswege von Hollitscher und Harig weisen viele Ähnlichkeiten auf: beide waren Naturwissenschaftler und Dialektiker, schon frühzeitig Aktivisten der kommunistischen Bewegung. Beide waren vom Faschismus verfolgt und flohen ins Exil, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedliche Länder, Hollitscher über die Schweiz nach England, Harich in die Sowjetunion. Beide hatten in der Ära Stalin Probleme in der kommunistischen Partei, beide wirkten in bestimmten Perioden ihres Lebens in Leipzig und Berlin, und beide erreichten schließlich die verdiente Anerkennung ihrer Leistungen.

Harig, der Physiker und Antifaschist, wurde 1948 nach neun Jahren Haft in Buchenwald als Professor für Dialektischen und Historischen Materialismus an die Universität Leipzig berufen. 1957 erhielt er die Position eines Professors für Geschichte der Naturwissenschaften. Zeitweilig war er als Staatssekretär im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen tätig. Von 1957 bis zu seinem Tod leitete er das renommierte Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, das älteste medizinhistorische Institut der Welt (siehe http://www.uni-leipzig.de/~ksi/ksi10.htm). Bis heute erscheint die von ihm und Alexander Mette im Jahr 1960 gegründete Zeitschrift NTM (Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin) im deutschen Birkhäuser-Verlag (siehe http://www.birkhauser.ch/journals/4800/4800_aim.htm).

Da bereits hervorragende Darstellungen des Lebens und Wirkens von Walter Hollitscher erschienen sind (z.B. auch der Beitrag von Thomas Schönfeld in den vorliegenden Mitteilungen vom Dezember 1996), beschränke ich mich auf einige spezifische Aspekte der Diskussion, die sich insbesondere um die sogenannte „Berliner Debatte“ rankte. Sie fand am 23. Dezember 1950 in Berlin unter Leitung von Kurt Hager im Beisein von etwa 30 prominenten Parteimitgliedern über Hollutschers philosophisches Konzept statt. Unter den Teilnehmern befanden sich einige wenige Naturwissenschaftler, wie eben Gerhard Harig, der sich still verhielt, aber auch Robert Havemann, Georg Klaus, Hermann Ley und Robert Rompe. Das wahrscheinlich schon vor der Debatte feststehende Ergebnis, die Drucklegung einer populärwissenschaftlichen Fassung von Hollitschers Vorlesungsreihe zur Dialektik der Natur im Aufbau-Verlag zu verhindern,  bedeutete für ihn eine schmerzliche Erfahrung. Dennoch wurde seine zunächst auf ein Jahr begrenzte Professur in eine ständige umgewandelt, und 1951 erhielt er eine ordentliche Professur am neu eingerichteten Lehrstuhl für „Logik und Erkenntnistheorie“ an der Humboldt-Universität. Seine Karriere fand 1953 mit seiner Verhaftung durch sowjetische Dienststellen und seine Ausweisung nach Österreich ein jähes Ende.

Die Diskussion beschäftigte sich ausführlich mit dieser Phase seines Lebens, konnte aber auch keine Klarheit schaffen, da weder Walter noch Violetta mit irgendjemandem der Anwesenden je darüber gesprochen hatten. Ich hatte Gelegenheit, kurz das Wirken Walter Hollitschers in Österreich darzustellen, und auf seine wichtige Rolle für die linken Intellektuellen in diesem Lande hinzuweisen. Wie Sie wissen, war er ein geschätzter Diskussionspartner, nicht nur innerhalb der kommunistischen Zirkel, sondern auch in Kreisen der Sozialdemokratie und der großen Religionsgemeinschaften. Ich konnte Herbert Hörz, dem Präsidenten der Leibniz-Sozietät (http://www.leibniz-sozietaet.de), aus gegebenem Anlass die Kopie einer Postkarte überreichen, die mir Paul Feyerabend (ich hatte ihn über die Hollitschers kennengelernt) kurz nach dem Tod von Violetta und Walter übersandt hatte, mit den folgenden Zeilen „...ich habe auf Umwegen vom Tod Walters und Violettas erfahren und Du kannst mir glauben, das war ein schwerer Schlag für mich...“. Paul Feyerabend hat Walter Hollitscher (und auch seinen späteren Förderer Karl Popper, den Feyerabend in späteren Werken heftig kritisieren sollte) 1948 in Alpbach beim Österreichischen College kennengelernt. Wie Feyerabend selbst, damals noch ein „begeisterter Positivist“, in seinem Buch „Erkenntnis für freie Menschen“ (Science in a Free Society, London: New Left Books, 1978, p. 113) hervorhebt, hat ihn Hollitscher vom „Realismus“ überzeugt, indem er darauf verwies, dass die Naturwissenschaft ohne die Annahme einer Außenwelt nicht existieren würde, und dass sich diese Annahme höchst produktiv auf die Wissenschaftsentwicklung ausgewirkt hat (siehe http://plato.stanford.edu/entries/feyerabend). Den politischen Argumenten Hollitschers hat er sich allerdings aufgrund seines „jugendlichen Elitismus“ und einer „beinahe instinktiven Abneigung gegen das Gruppendenken“ (‘youthful elitism’ ... ‘an almost instinctive aversion to group thinking’, p.73) verschlossen. 

Es ist das Verdienst der Rosa Luxemburg Stiftung, der Leibniz-Sozietät und einer Handvoll Wissenschaftler und Forscher aus Deutschland, die Erinnerung and das Wirken von großen und einflussreichen Persönlichkeiten in der sozialistischen Ära wachzuhalten und an die nächsten Generationen weiterzugeben. Eine Publikation der Referate ist geplant.

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3/2002

 

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