| |
Winfried R. Garscha: Staatsvertrag, Neutralität und das „Muster der
Schweiz”
Seit dem Beitritt zur EU sind verstärkt Bemühungen festzustellen,
Österreichs Neutralität auf militärische Bündnisfreiheit zu reduzieren und ihre
Interpretation zu einer innerstaatlichen Angelegenheit zu erklären. Damit wird
die immerwährende Neutralität zu einer Frage außenpolitischer Taktik gemacht.
Vor dem EU-Beitritt lautete die offizielle Linie noch, es gebe zwar „keine
allgemeine Pflicht zu einer ‘wirtschaftlichen Neutralität’”/1/, doch herrsche
„Übereinstimmung darüber, daß ein dauernd neutraler Staat keine [...] Bindung
eingehen darf, die es ihm im Kriegsfall unmöglich machen würde, seine
Neutralitätspflichten zu erfüllen”./2/ In der Zwischenzeit ist man innerhalb
der Bundesregierung offenbar zur Auffassung gelangt, daß mit der Preisgabe der
wirtschaftlichen Neutralität durch den EU-Beitritt auch die militärische
Neutralität überflüssig geworden sei.
Die jetzt anvisierte völlige Preisgabe der Neutralität wird sicherlich damit
begründet werden, daß die 1955 verkündete Bündnisfreiheit sich auf die
militärischen Bündnisse des Kalten Krieges bezogen hätte. Eine Neutralität
dieser Art wäre daher seit dem Zerfall des Warschauer Pakts und dem Ende des
Kalten Krieges „obsolet” (nicht mehr anwendbar) geworden.
Die Schweiz, die 1955 als Muster für die österreichische Neutralität
herangezogen wurde, ist seit 1815 neutral, d. h. ihre Neutralität geht auf eine
Zeit zurück, die mehr als 130 Jahre vor der Gründung von NATO und Warschauer
Pakt liegt.
Zwar ist der Bezug auf das „Muster der Schweiz” im Neutralitätsgesetz vom 26.
Oktober 1955 nicht enthalten, doch ist dieses Gesetz nur der Schlußstein einer
im April 1955 in Moskau in Gang gesetzten Prozedur, deren Höhepunkt der
Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 bildet.
Nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge (Beitritt der Bundesrepublik
Deutschland zur NATO) am 23. Oktober 1955 wuchs die Gefahr der Zerreißung
Österreichs durch die faktische Einbeziehung der westlichen Besatzungszonen in
die NATO. Die Verhinderung der Teilung des Landes mußte im Interesse
Österreichs liegen, ein neutraler Riegel (Schweiz, Österreich) zwischen den
beiden NATO-Staaten BRD und Italien lag im strategischen Interesse der
Sowjetunion. In einer Erklärung vor dem Obersten Sowjet schlug Außenminister
Molotow am 8. Februar 1955 die Entkoppelung der deutschen und österreichischen
Verhandlungen vor. Zwei Monate später fuhr eine österreichische
Regierungsdelegation nach Moskau, die am 15. April 1955 das sogenannte Moskauer
Memorandum unterzeichnete. Darin hieß es, Österreich werde sich international
dazu verpflichten, „immerwährend eine Neutralität in der Art zu üben, wie sie
von der Schweiz gehandhabt wird”./3/ Die Analogie zur Schweiz war keine sowjetische
„Erfindung”. Sie wurde zum erstenmal bei der Berliner Viermächtekonferenz im
Jänner 1954 vom amerikanischen Außenminister John Foster Dulles angesprochen.
Dulles lehnte die von der Sowjetunion vorgeschlagene Neutralisierung
Österreichs ab, meinte aber gleichzeitig, eine frei gewählte Neutralität nach
dem Vorbild der Schweiz würde von den USA respektiert werden./4/
Am 14. Mai 1955 trat in Wien die Konferenz der Außenminister der vier
Besatzungsmächte und Österreichs zusammen. Molotow informierte offiziell über
das Moskauer Memorandum und verlas die Vereinbarungen über den Charakter der
künftigen Neutralität Österreichs. Die Minister der drei Westmächte erklärten,
dagegen keine prinzipiellen Einwände zu erheben. Der österreichische
Außenminister Figl informierte, die Bundesregierung stehe zum Memorandum und
werde dem Parlament eine Neutralitätserklärung vorschlagen. Der von Molotow
verlesene Text wurde wörtlich in das Kommuniqué über die Außenministerkonferenz
übernommen. Es ist daher nicht richtig, die im Moskauer Memorandum
festgehaltenen Vereinbarungen als eine ausschließlich die
österreichisch-sowjetischen Beziehungen betreffende Angelegenheit zu
betrachten. Zur Neutralität nach dem Muster der Schweiz hat sich Österreich
auch gegenüber den übrigen Signatarmächten des Staatsvertrags verpflichtet./5/
Angesichts dieser historischen Fakten ist es zumindest erstaunlich zu nennen,
daß der zitierte Regierungsbericht vom April 1989 zur Schlußfolgerung gelangte,
dem Moskauer Memorandum komme „besonders im Hinblick auf die Bezugnahme auf die
Schweiz keine rechtliche Bedeutung zu, da es nur eine Verwendungszusage der
österreichischen Regierungs-Delegation war”./6/
Die im Moskauer Memorandum angekündigte immerwährende Neutralität Österreichs
wurde bekanntlich durch das Neutralitätsgesetz vom 26. Oktober 1955 feierlich
verkündet. Die „Verwendungszusage” der nach Moskau entsandten
Regierungsmitglieder wurde aber schon vorher „eingelöst”: Am 25. Mai 1955
brachten die Abgeordneten Maleta (ÖVP), Pittermann (SPÖ), Kraus (VdU) und
Koplenig (KPÖ) einen Entschließungsantrag/7/ im Nationalrat ein, in dem die in
Moskau angekündigte Neutralitätserklärung enthalten war. Gleichzeitig mit der
Aufforderung an die Bundesregierung, ein Neutralitätsgesetz auszuarbeiten,
wurden Schritte zur Durchsetzung des österreichischen Aufnahmeantrags in die
UNO verlangt. Der Entschließungsantrag wich insofern vom Moskauer Memorandum
ab, als die Schweiz eine UNO-Mitgliedschaft immer ablehnte. Es gibt aber auch
die Rechtsmeinung, daß die Annahme dieses Entschließungsantrags am 7. Juni de
facto die Ratifizierung des Memorandums bedeutete./8/ Unbestreitbar aber ist,
daß die im April 1955 in Moskau eingegangene Verpflichtung zur Neutralität
„nach dem Muster der Schweiz” durch die Einbeziehung in die
Staatsvertragsverhandlungen in Wien keine ausschließlich bilaterale Abmachung
zwischen Österreich und der Sowjetunion war.
Anmerkungen:
/1/ Stellungnahme
des Völkerrechtsbüros des Bundesministeriums für Auswärtige Angelegenheiten vom
21. November 1988 betr. die Mitgliedschaft Österreichs in den Europäischen
Gemeinschaften und immerwährende Neutralität. In: Bericht der Bundesregierung
an den Nationalrat und den Bundesrat über die zukünftige Gestaltung der
Beziehungen Österreichs zu den Europäischen Gemeinschaften, BKA, GZ
671.171/18-V/5/88, Beilage C, S. 3.
/2/ S. 34 des Berichts der Bundesregierung.
/3/ Text des Memorandums in: Gerald Stourzh, Geschichte des Staatsvertrages
1945-1955. Österreichs Weg zur Neutralität, 3. überarb. Aufl., Graz-Wien-Köln 1985, S. 226 ff.
/4/ „...Austria would be free to choose for itself to be a neutral state like
Switzerland. Certainly
the United States would fully respect its choice in this respect...”, zitiert
in: Ebenda, S. 121.
/5/ Auf Grund einer Mitschrift des österreichischen Außenministeriums (ÖStA/AdR,
BMAA, Zl. 322.267-Pol/55) dokumentiert in: Ebenda, S. 167 f.
/6/ Bericht der Bundesregierung, a. a. O., S. 32.
/7/ Abgedruckt in: Gerald Stourzh, a. a. O., S. 170 f.
/8/ Siehe: Johann J. Hagen, Internationale Wirtschaftsbeziehungen und die
Neutralität Österreichs, in: ÖVDJ-Mitteilungen, Sondernummer 1985, S. 15.
Abkürzungen:
AdR: Archiv der
Republik
BKA: Bundeskanzleramt
BMAA: Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten
ÖStA: Österreichisches Staatsarchiv
ÖVDJ: Österreichische Vereinigung Demokratischer Juristen
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3/1995
|