Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Peter Goller: "... stupide Kritik an den Theorien von Marx!"

Gustav Groß. Ein früher österreichischer Marx-Biograph (1885)

1885 erschien bei Duncker und Humblot in Leipzig eine frühe Marx-Biographie des Privatdozenten für Nationalökonomie an der Universität Wien Gustav Groß (1856 in Reichenberg/Liberec in Böhmen – 1935 in Wien), dem späteren deutschliberalen Reichsratsabgeordneten, Wortführer des „deutschen Schulvereins in Böhmen“, dem 1911 zum Vorsitzenden des „deutschen Nationalverbandes“ gewählten letzten Präsidenten des k.k. Abgeordnetenhauses von 1917/18, dem später so genannten „Kronjuristen der Deutschen“ in Böhmen. (Vgl. Brigitte Deschka: Dr. Gustav Groß, phil. Diss., Wien 1966, hier 6–8.)
Friedrich Engels hatte Gustav Groß mit einigen biographischen Hinweisen ausgeholfen, wie er in einem Schreiben an den russischen Exilsozialisten und vormaligen Pariser Kommunarden Pjotr L. Lawrow am 12. Februar 1885 schrieb: „Die anderen von Groß angegebenen Tatsachen stimmen ebenfalls, soweit ich mich erinnere (Tussy hat mein Exemplar, ich kann es nicht vergleichen). Ich habe selbstverständlich nichts gemein mit seiner stupiden Kritik an den Theorien von Marx. Er war mir von Wiener Sozialisten empfohlen worden, stellte mir einige Fragen biographischen Charakters, und ich habe ihm die Tatsachen mitgeteilt.“ Bereits am 13. Jänner 1885 hatte Engels an Karl Kautsky, der dann eine Rezension der Groß’schen Marx-Biographie in der „Neuen Zeit“ veröffentlichte, geschrieben: „Der Groß scheint ein Rindvieh, aber ein anständiges. Gegen die Biographie kann ich nichts sagen, willst Du seine Theorie-Konfusion verhauen, so beneide ich Dich nicht um die Arbeit.“ (MEW 36, 270, 282f.)
Groß’ Marx-Biographie erschien zu einem Zeitpunkt – das Vorwort ist mit „Schloss Heraletz, Ende Juli 1884“ datiert, als die Repression gegen die Arbeiterklasse verschärft wurde, als mit der Bismarckschen bzw. für Österreich mit der Taaffeschen Sozialpolitik „von oben“ – mit ihrer sehr begrenzt wirksamen Gesetzgebung zum Gewerbeinspektorat (1883), dem Verbot der Fabrikarbeit von Kindern unter 14 Jahren, dem Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Jugendlichen, mit dem Maximalarbeitstag von elf Stunden (1885) oder mit ihrer Regelung der Unfall- und Krankenversicherung Ende der 1880er Jahre – dem politischen Aufstieg der Arbeiterbewegung Einhalt geboten werden sollte: Am 30. Jänner 1884 war nach einer Serie von Streikaktionen und (nicht selten polizeilich provozierten) anarchistischen Attentaten der Ausnahmezustand über Wien, Korneuburg und Wiener Neustadt verhängt worden, um die dort einflussreiche radikal sozialrevolutionäre Arbeiterbewegung – ähnlich dem deutschen „Sozialistenverbot“ – im Wege von Entlassungen, Ausweisungen oder abschreckenden Gerichtsurteilen zu zerschlagen. (Vgl. Hans Hautmann und Rudolf Kropf: Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, Wien 1974, 62–79 und Anna Staudacher: Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiterbewegung vor Hainfeld, Wien 1988, 269–276.)
Gustav Groß, der auch den biographischen Artikel über Karl Marx für die von der bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene „Allgemeine Deutsche Biographie“ (Leipzig 1884, 20. Band, 540–549) verfasst hatte, und der für Gustav Schmollers „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft“ (1886, 10. Jahrgang, 587–596) den zweiten, von Engels redigierten Band des „Kapital“ rezensieren sollte, schrieb die Marx-Biographie 1884 in einem Zeitpunkt, als auch andere österreichische Professoren sich in diesem politischen Zusammenhang der „Marx-Widerlegung“ zuwandten:
Eugen Böhm-Bawerk (1851–1914), mit Carl Menger und Friedrich Wieser Exponent der Wiener „Grenznutzentheorie“, der 1884 als damaliger Innsbrucker Universitätsprofessor im ersten Band von „Kapital und Kapitalzins“ meinte, dass ein großer Teil seiner Rodbertus-Kritik einfach auf Marx übertragen werden kann, der die bisherige auf der „Enthaltsamkeitstheorie“ beruhende Marx-Kritik (von Bastiat oder Roscher) als ungeeignet zur ihm höchst notwendig scheinenden Widerlegung des Sozialismus qualifizierte, der seine Leser durch ausführliche Belege aus Marx’ „Kapital I“ mit „der dialektischen Eigenart des Autors“ vertraut machen will, zitierte auch Marx’sche Abschnitte zur Arbeits- und Mehrwerttheorie, u.a. „Das Kapital ist also nicht nur Kommando über Arbeit, wie A. Smith sagt. Es ist wesentlich Kommando über unbezahlte Arbeit. Aller Mehrwerth, in welcher besonderen Gestalt von Profit, Zins, Rente usw. er sich später krystallisire, ist seiner Substanz nach Materiatur unbezahlter Arbeitszeit. Das Geheimnis von der Selbstverwerthung des Kapitales löst sich auf in seine Verfügung über ein bestimmtes Quantum unbezahlter fremder Arbeit.“ (Marx zitiert nach Böhm-Bawerk 1884, 426) Böhm-Bawerk zitierte Marx, um ihm „gröbere Denkfehler“ und „Leichtfertigkeit im Behaupten und Schließen“, „leichtfertige, beweislose Präsumtionen“ zu unterstellen: „Wir werden somit, ohne Marx irgendwie Unrecht zu thun seinen Versuch, die Wahrheit seiner Lehre auf deduktivem Weg zu erweisen, als vollständig gescheitert bezeichnen dürfen.“
Böhm-Bawerk erklärte 1884 [!] aber auch, dass seine Abwehr der Marx'schen Arbeits- und Mehrwerttheorie – der „sozialistischen Ausbeutungstheorie“ – nicht zuletzt politisch motiviert ist, da es sich hiebei nicht nur um theoretische Fragen des „Kopfes“, sondern auch um philanthropische Angelegenheiten, in denen „das Herz mitzusprechen pflegt“, handle, „denn gerade in unseren Tagen ist jener Satz [vom Arbeitswert – Anm.] im Begriffe, in immer weiteren Kreisen gleich einem Evangelium angenommen zu werden, während er in Wahrheit nichts als eine von einem großen Manne einmal erzählte, und von einer gläubigen Menge seither nachgesprochene Fabel ist“. Und Böhm-Bawerk fährt im Ton der professoralen Verachtung der Arbeiterklasse als „Menge“ fort: „Dass vollends die großen Massen solchen Lehren anhängen, versteht sich von selbst. Ihre Sache kann ja kritische Überlegung nicht sein, sie folgen einfach dem Zuge ihrer Wünsche Sie glauben darum an die Ausbeutungstheorie, weil sie ihnen genehm ist, und obwohl sie falsch ist; und sie würden an sie auch dann glauben, wenn ihre theoretische Begründung noch weit schlechter wäre, als sie es in der That ist.“ (Vgl. Eugen von Böhm-Bawerk: Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorien. (=Kapital und Kapitalzins. Erste Abtheilung), Innsbruck 1884, 418–447.)
Der Czernowitzer Professor der Nationalökonomie und Staatswissenschaften Friedrich Kleinwächter (1838–1927) gestand 1885 dem „wissenschaftlichen Sozialismus“, worunter er in einem Atemzug die Theorien von Rodbertus und Marx verstand, zwar rhetorisch einiges zu, dieser habe „aber dem ungeachtet den Weg für die Unentbehrlichkeit des kollektiven Grund- und Kapitalseigenthum nicht zu erbringen vermocht“. Kleinwächter räumt auch von seinem Katheder herab ein, dass der „wissenschaftliche Sozialismus“ zur Klärung der „sozialen Frage“ beigetragen habe: In „der That wird heute Niemand mehr läugnen wollen, dass der Unternehmer leider in vielen Fällen die Nothlage der Arbeiter benutzt um dieselben mit effektiven Hungerlöhnen abzufinden. (…) Der wissenschaftliche Sozialismus hat endlich die Unhaltbarkeit des Dogma's vom ‚laissez faire‘ in unwiderlegbarer Weise nachgewiesen und damit die Inhaltslosigkeit der manchersterlichen Lehre von der ‚Selbsthilfe‘ und ‚Sparsamkeit‘ dargethan, (…).“
All das bildet den Auftakt zu den Einwänden Kleinwächters gegen die wissenschaftliche Theorie des Sozialismus, beginnend mit einer Ablehnung von Ferdinand Lassalles „Staatshilfe“. Die Kernthesen von Marx’ „Kapital“ wie dessen Werttheorie, dessen Arbeits- und Mehrwerttheorie werden – wie bei Böhm-Bawerk ein Jahr zuvor 1884 – als völlig „unhaltbar“ erklärt: „Ebenso unhaltbar im Prinzip ist – (…) die Rodbertus-Marx’sche Lehre von der Ausbeutung. Kein billig denkender Mensch wird läugnen, dass leider in unzähligen Fällen die Arbeiter vom Unternehmer ausgebeutet werden, dass der Unternehmer sich auf Kosten seiner Arbeiter bereichert, weil er einen Theil des Arbeitsproduktes, der billiger Weise seinen Arbeitern gebühren würde, denselben vorenthält und in seine Tasche wandern läßt, aber daraus folgt noch lange nicht, dass dem Unternehmer (respektive dem Grundbesitzer und dem Kapitalisten) gar nichts gebühre. Es ist eben, wie wir gesehen haben, nicht richtig, dass die sämmtlichen wirtschaftlichen Güter nur durch die eigentlichen ‚Arbeiter‘ hergestellt werden, dass sie daher streng genommen nur diesen Personen allein gehören.“
Kapitals- und Grundrente sind nach Kleinwächter ökonomisch notwendig und rechtlich gedeckt. Da der wissenschaftliche Sozialismus dies weder widerlegen noch die objektive Notwendigkeit des Kollektiveigentums belegen könne, glaubt Kleinwächter feststellen zu müssen, dass der Sozialismus als Wissenschaft über die moralischen Gerechtigkeitsvorstellungen des utopischen Sozialismus von Thomas Morus und Tommaso Campanella nicht hinausgekommen ist: „Das Einzige, was der sog. wissenschaftliche Sozialismus als seine Leistung geltend machen darf, ist, dass er den – allerdings nicht geglückten – Beweis zu erbringen unternahm, dass die Grund- und Kapitalsrente ein ungerechtfertigstes Einkommen sei, während der ältere Kommunismus es als eine keines Beweises bedürftige Thatsache ansah, dass die Reichen ein arbeitsloses Einkommen beziehen. Unsere Untersuchung hat uns zu dem Ergebnisse geführt, dass es dem sog. wissenschaftlichen Sozialismus nicht gelungen ist die Unentbehrlichkeit des kollektiven Grund- und Kapitalseigenthums unwiderleglich zu beweisen.“
Kleinwächter schließt in offener Argumentation gegen die gerade mit den Mitteln der Polizeirepression und der Klassenjustiz bekämpfte Arbeiterbewegung: Nein ohne Privateigentum geht es nicht, auch nicht im „sozialdemokratischen Volksstaat“ der Zukunft, das habe Rodbertus zumindest erkannt, so Kleinwächter, der auch unter Berufung auf Rudolf Jhering „das wesentlichste Mittel“ zur effizienten Gestaltung der Produktion und der Rechtsordnung in der „Institution des Privateigenthums“ sieht: „Wer die Menschen wie sie sind mit nüchternen Blicken betrachtet, der wird wohl mit Rodbertus bescheiden daran zweifeln dürfen, dass das Eigeninteresse und das Privateigenthum als Grundlage für die Organisation der Volkswirthschaft heute schon entbehrt werden könne.“ (Vgl. Friedrich Kleinwächter: Die Grundlagen und Ziele des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus, Innsbruck 1885, 222–232. Dazu auch ungezeichnete Rezension von Friedrich Kleinwächter, Die Grundlagen und Ziele des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus (Innsbruck 1885), in: Neue Zeit 4 (1886), 240.)
Der angehende Innsbrucker Privatdozent Hermann Schullern-Schrattenhofen (1861–1931, später Professor der Nationalökonomie an der Wiener Hochschule für Bodenkultur und ab 1915 an der Universität Innsbruck) polemisiert etwa gleichfalls 1885 in „Conrads Jahrbüchern für Nationalökonomie“ gegen Rodbertus und Marx’ Arbeitswerttheorie vom Standpunkt der „kürzlich begründeten neuen Theorie des Güterwerts, der Theorie des ‚Grenznutzens‘“: „Auf ihr basiert der Sozialismus; ist sie nicht beweisbar, so muß er fallen, und bis jetzt ist sie zum Wenigsten nicht bewiesen.“ (Vgl. Hermann von Schullern-Schrattenhofen: Die Lehre von den Produktionselementen und der Sozialismus, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 44 (1885), 296–325.)
Im gleichen politischen Zusammenhang von Polizeirepression und Taaffescher Sozialreformdebatte eröffnete 1886 der Wiener Zivilrechtsprofessor Anton Menger (1841–1906) von „kathedersozialistischer“ Position aus den Angriff auf Marx und Engels: In seiner viel beachteten Schrift „Recht auf den vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher Darstellung“ (Stuttgart 1886) formulierte Anton Menger eine Art „juristensozialistischen“ Grundrechts-Entwurf, wie Friedrich Engels 1887 zusammenfasst: „Der Herr Professor entdeckt nun, dass dieser ganze Sozialismus sich juristisch auf drei solcher Schlagworte zurückführen lässt, auf drei Grundrechte. Diese sind 1) das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, 2) das Recht auf Existenz, 3) das Recht auf Arbeit.“ Statt der revolutionären Überwindung des Kapitalismus bot Menger eine „neue Ausgabe der Menschenrechte“ an. Friedrich Engels reagierte 1887 mit Spott auf Anton Mengers „Rechtsphilosophie der besitzlosen Volksklassen“, die den Sozialismus unter Bekämpfung der materialistischen Geschichtsauffassung vom Klassenkampf auf den „Rechtsboden“ zurückführen wollte: „Bisher hatten sich diese Herren zu vornehm gehalten, sich mit der theoretischen Seite der Arbeiterbewegung einzulassen. Wir müssen es also großen Dank wissen, wenn endlich einmal ein wirklicher Professor der Rechte, Herr Dr. Anton Menger, sich herablässt, die Geschichte des Sozialismus vom ‚rechtsphilosophischen‘ Standpunkt ‚dogmatisch näher zu beleuchten‘.“
Gegen Menger hält Engels fest, dass dieser den Sozialismus philanthropisch begrüßt und gerade damit verneint, indem er ihn einer „fernen Zukunft“ überantworten will. Marx selbst wird von Menger in das Licht des Unoriginellen (etwa die viel zitierte Abhängigkeit von Lorenz Stein), ja sogar des Plagiats gerückt. Marx verschweige angeblich seine Quellen, William Thompson und andere Frühsozialisten, Engels ironisch: „Auf diese Weise hofft man, mit dem Begründer der proletarischen Weltanschauung und diesem selbst fertig zu werden. Herr Menger hat es unternommen. Man ist nicht Professor für die Katze. Man will auch etwas leisten.“ (Vgl. Friedrich Engels (und Karl Kautsky [?]): Juristen-Sozialismus, in: Neue Zeit 5 (1887), 49–62, jetzt auch in MEW 21, 491–509.)
Karl Kautsky hat die von Friedrich Engels’ angesprochene Groß’sche „Theorie-Konfusion“ unmittelbar nach dem Erscheinen der Marx-Biographie in der „Neuen Zeit“ beschrieben: „Herr Dr. Groß ist Jurist und Dozent an einer deutschen Universität; (…) als deutscher Professor sind ihm die treibenden Kräfte der politischen und sozialen Entwicklung fremd geblieben und jeder Revolutionär erscheint ihm natürlich als ein Scheusal.“ Kautsky konnte schon 1885 bei Groß die später beliebte, etwa von Werner Sombart in seiner Marx-Gedenkschrift von 1908 geübte „Zweiseelentheorie“ in der bürgerlichen Auseinandersetzung mit Marx beobachten, d.h. man verwarf oder lobte je nach Neigung und Bedarf den „Theoretiker“ bzw. den „Agitator“ Marx: „Kein Wunder, dass es Herrn Dr. Groß unmöglich ist, ‚den Parteiführer Marx mit dem gelehrten Marx zu identifizieren. Der Mann, welcher jene aufreizenden, bluttriefenden Manifeste und Adressen verfasst, ist mir nicht derselbe, wie der tiefe Denker, welcher die ‚Kritik der politischen Ökonomie' und das ‚Kapital‘ geschrieben hat.‘Vermöge dieser Zweiseelentheorie theilt der Verfasser die Schriften von Marx in zwei gesonderte Gruppen, die der wissenschaftlichen und die der agitatorischen, eine Theilung nach einem sehr äußerlichen und wenig zutreffenden Gesichtspunkte.“ (Vgl. Karl Kautsky: Rezension von Gustav Groß, Karl Marx (Leipzig 1885), in: Neue Zeit 3 (1885), 281–283.)
Gustav Groß hatte von Friedrich Engels einige schriftliche Hinweise erhalten, so beruft er sich etwa auf Mitteilungen von Engels über die nicht veröffentlichte Abrechnung mit Bruno Bauer, Max Stirner, also die „Deutsche Ideologie“: „Diese Arbeit ist bisher nicht publicirt worden. Engels beabsichtigt jedoch, wie er mir mittheilt, demnächst einen Auszug daraus zu veröffentlichen.“ (Vgl. Gustav Groß [Dr.jur., Privatdocent an der Universität Wien]: Karl Marx. Eine Studie, Leipzig 1885 [82 Seiten], 12, im folgenden kurz: Groß 1885.)
Groß erkannte ferner immerhin an, dass er nicht wirklich über die nötigen biographischen und literarischen Kenntnisse verfügte: „Keineswegs konnte es aber in meiner Absicht liegen, eine abschließende Biographie zu liefern. Hiezu kann niemand anders berufen sein, als Marx' litterarische Testaments-Executoren, seine Tochter Eleanor Marx und sein Freund Friedrich Engels.“ (Groß 1885, V).
In vielem kommentierte Groß Marx vom Standpunkt der kleinbürgerlichen Gesetzes- und Staatstreue, klagte über Marx’ „gehässigen Ton“. (z.B. Groß 1885, 32) Groß wendet gegen Marx’ Beiträge in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“ (1843/44) vom nationalliberalen Standpunkt philisterhaft ein, dass sich „schon hier der Mangel jedes Nationalitätsbewusstseins“ zeigt: „Wenigstens ist nicht anzunehmen, dass jemand, der für seine Nation empfindet, in einer nicht allein für deutsche Leser bestimmten Zeitschrift sich so über dieselbe äußern würde.“ (Groß 1885, 5) Nicht zufällig neigt Groß dann bei der Kommentierung des Marxschen Konflikts mit Ferdinand Lassalle diesem mit seinem „deutschen Nationalbewusstsein“ zu: „Der deutsche Zukunftsstaat, wie er ihn sich vorstellte, erschien ihm als das Prototyp sittlicher Vollendung.“ (Groß 1885, 41)
Der Privatdozent Groß, der Marx unter anderem vorwirft, die Größe eines Friedrich List verkannt zu haben, der Marx' Verhältnis zu Hegel recht unzulänglich als „Loslösung“ bezeichnete, zumal ihm die dialektische Methode nur als Spekulation galt, zeigt sich in hohem Maße irritiert, dass sich Marx „agitatorischen“ Schriften hingegeben hat, wie dem mit Engels verfassten „Manifest der Kommunistischen Partei“. Groß meint, dass mit dem „Kommunistischen Manifest“ „eine gewisse Spaltung im innern Wesen Marx’ herbeigeführt“ wurde. Groß tröstet sich und sein akademisches Lesepublikum damit, dass „dieser Widerspruch einigermaßen gemildert [wird] durch die publicistische Thätigkeit Marx’, denn hier war er gezwungen, einerseits allzu heftige Ausfälle gegen Capitalismus und Bourgeoisie zu vermeiden, andererseits möglichst gemeinverständlich zu sein, und deshalb seine großen Abstractionen mehr den Tagesereignissen anzupassen. Trotzdem bleibt die Kluft zwischen den beiden Richtungen des Auftretens Marx' eine so tiefe, dass sich eine Darstellung derselben kaum zusammenfassen lässt und es mir räthlicher scheint, dieselben zu trennen.“ (Groß 1885, 14)
Bei aller Verteidigung von Marx gegen Kritiker wie Eugen Dühring oder Wilhelm Roscher (Groß 1885, Seite 81f.) und bei allen höflichen Bekenntnissen zum „großen“ Werk von Marx zeigt sich Groß vom Kernstück des Marxismus, von der proletarischen Revolutionstheorie von Marx und Engels abgeschreckt: „Auf Deutschland richten die Communisten ihr Hauptaugenmerk“, weil „die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann“. Groß sieht darin die Schrecken der kommunistischen Revolution angekündigt und beruhigt sich mit dem Gedanken: „Glücklicherweise haben die Verfasser des Manifestes sich in ihrer letzten Prophezeiung geirrt.“ (Groß 1885, 23f.)
Nach Groß haben sich Marx und Engels in den späteren Vorworten zu den Neuauflagen des „Manifests“ 1872 und 1883 von der revolutionären Tendenz verabschiedet und zu Reformisten entwickelt: „Vieles [am Manifest – Anm.] sei allerdings veraltet, so namentlich die vorgeschlagenen revolutionären Maßregeln.“ (Groß 1885, 24)
Groß will seine bürgerlichen Leser auch durch einen Vergleich des „Manifests“ von 1848 mit der maßgeblich von Marx redigierten Adresse der Internationalen Arbeiterassoziation von 1864 beruhigen. Zwar endet auch die „Adresse“ mit dem Ruf „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“: „Aber sonst – welcher Unterschied zwischen den beiden Documenten! Nichts mehr von dem himmelstürmenden Ungestüm von 1847, nichts mehr von jener rückhaltlosen Offenheit, welche ihre letzten Ziele völlig enthüllt. An ihre Stelle ist kluge Zurückhaltung und Gemessenheit getreten“. Über das Lob, das Groß in diesem Zusammenhang Marx spendet, muss sich Friedrich Engels gewundert haben: „Was dort [im ‚Manifest‘ von 1848 – Anm.] offen und unverblümt als das Ziel der communistischen Bewegung angesprochen wurde, wird hier [in der ‚Adresse‘ von 1864] kaum angedeutet, so insbesondere die Aufhebung des bürgerlichen Privateigenthums. Noch mehr hütet sich die Adresse, die religiösen Fragen zu berühren, Kurz, es ist alles vermieden, woran ein Novize, der in der communistischen Lehre noch nicht fest ist, sich stoßen könnte. (…) Auch die Statuten [der IAA – Anm.] sind derartig, dass deutlich daraus zu ersehen ist, wie es keineswegs in der Absicht der Gründer lag, einen Verein zum Anstiften von Verschwörungen ins Leben zu rufen.“ (Groß 1885, 35f.)
Der erste zuverlässige Artikel zu Marx’Biographie erschien erst 1892, verfasst von Friedrich Engels für das „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ (jetzt MEW 22, 337–345), die eigentlich erste zuverlässige wissenschaftliche monographische Marx-Biographie von Franz Mehring erschien gar erst 1918! Deshalb scheint Groß’ Büchlein auch in sozialistischen Kreisen 1885 einige Aufmerksamkeit gewonnen zu haben, wie Andeutungen von Engels zeigen. Auf diese sozialistischen Leser muss diese noch seltene Marx biographische Literatur aber eigenartig gewirkt haben, so wenn sich der harmoniesüchtig ausgewogene Bildungsbürger Groß vom „Gelehrten“ Marx auch eine Distanzierung von den „Greueln“ der Pariser Kommune von 1871 erwartet, wie er mit Hinweis auf Marx’ „Bürgerkrieg in Frankreich“ meint, der noch „einseitiger den Parteistandpunkt hervorkehrt“ als der „18. Brumaire“, gleich wie im „Brumaire“ „einzig und allein die Junikämpfer anerkannt werden, so hier die Aufständischen vom 18. März 1871“: „Die Communards hingegen werden als reine Engel und ihr Terrorismus in Paris während des Aufstandes als das Musterbild einer Regierung dargestellt. Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch von Seiten der Regierungspartei viel, sehr viel geschehen ist, was in keiner Weise gebilligt werden kann, aber dass ein Mann wie Marx für die thatsächlich verübten Greuel der Communards auch nicht ein Wort des Tadels findet, muss Jeden, der ihn als Gelehrten hochhalten gelernt hat, mit dem tiefsten Bedauern erfüllen. Die Niederwerfung der Vendomesäule verherrlicht er mit folgenden Worten: ‚Und, um ganz unverkennbar die neue geschichtliche Aera zu bezeichnen, die sie einzuleiten sich bewusst war, warf die Commune, unter den Augen der hier siegreichen Preußen, dort der von bonapartistischen Generalen geführten bonapartistischen Armee, das kolossale Symbol des Kriegsruhms nieder, die Vendomesäule.‘ – Die Verbrennung eines großen Theiles von Paris wird als eine bloße Vertheidigungsmaßregel hingestellt (…).“ (Groß 1885, 39)
An Marx’ „Kritik der politischen Ökonomie“ will Groß nur die formale Größe akzeptieren, ansonsten lehnt er dessen Werttheorie mit folgenden Worten ab: Marx „übersieht gänzlich die subjective Natur des Werthes, den daraus resultirenden Unterschied zwischen individuellem und gesellschaftlichem Werth, während sich doch aus diesem allein die wirtschaftliche Bedeutung des Tauschprocesses im allgemeinen erklären lässt.“ Gegen die Arbeitswerttheorie wendet Groß ein: „Wenn [Marx] hiebei nicht die thatsächlich auf eine Waare verwendete, sondern nur die ‚gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit‘ als werthbestimmend erachtet, so ist dieser Gedanke an sich unzweifelhaft richtig. Allein damit er wirksam werde, müsste vor allem die Reduction verschiedenartiger Arbeit auf einen gemeinsamen Nenner factisch durchführbar sein; und diese Durchführbarkeit ist bisher m.E. in keiner Weise erwiesen, nicht von Marx und auch nicht von Rodbertus. (…) Am schärfsten kommen die Mängel der rein objectiven Werththeorie Marx’ dort zum Vorschein, wo aus diesem Arbeitswerthe der Preis abgeleitet werden soll.“
Weiter bestreitet Groß die Relevanz der Mehrwerttheorie: „Die Mehrwerttheorie, welche in gewissem Sinne die Krönung des Gebäudes bildet, basirt einerseits auf dem Satze der ausschließenden Productivität der Arbeit, anderntheils auf der unbestreitbaren Thatsache, dass der Capitalist aus dem Productionsprocesse mehr Werthe herauszieht als er verwendet hat. Dieses Plus nun setzt Marx ausschließlich auf Rechnung der lebendigen, vom Capitalisten erkauften Arbeit, während es thatsächlich zum guten Theil ein Product der sachlichen Productionsmittel, welche ja auch verkörperte Arbeit sind, bildet.“
Die „ursprüngliche Akkumulation“ des Kapitals, dessen blutige Genesis will Groß auf jeden Fall etwas harmonischer gedeutet wissen. Besonders scharf wendet sich Gross deshalb gegen das Marx' Kapitel über die „ursprüngliche Akkumulation“, „so treffend und glänzend die historische Schilderung der Accumulation ist“, bildet dieser Abschnitt von „Kapital I“ nach Groß „doch theoretisch vielleicht den schwächsten Theil“. Warum? Marx „scheut hier offenbar vor dem Zugeständnisse zurück, dass der eigentliche Ursprung des Capitals denn doch ‚erworbenes, erarbeitetes, selbstverdientes Eigenthum‘ gewesen sein muss. Dass er sich aber dieser Wahrheit nicht gänzlich verschließen konnte, das beweist unter anderem sein Zugeständniß, dass auch manche Zunftmeister sich zu Capitalisten emporgearbeitet haben.“ (Groß 1885, 78–80)
Groß verteidigt Marx gegen die „Schwefelbanden“-Vorwürfe, gegen die verschwörungstheoretische Darstellung, das Büro der Internationale habe unter Marx’ und Engels’ Anleitung die Pariser Kommune angestiftet. Nein, Marx hat nach Groß nichts mit den „Gefahren“ des Anarchismus eines Bakunin zu tun. Gegenüber dem „im Publicum viel verbreiteten Irrthume“ stellt Groß 1885 fest, dass „die von Marx begründete Partei mit den sogenannten Anarchisten“ zu Unrecht verwechselt werde: „Mit jenen wahnwitzigen Fanatikern, welche gegenwärtig wieder die Welt mit ihren zweck- und planlosen Mordthaten in Schrecken versetzen, hat Marx nichts gemein. Es sind dies die Adepten jenes Bakunin, welchem er gerade energisch entgegengetreten ist.“
Trotzdem droht nach Groß’ Einschätzung jede von Marx und Engels beeinflusste Arbeiterpartei auf die Bahn der Revolution zu geraten, da „nämlich jede revolutionäre Partei sich auf einem abschüssigen Weg befindet. Es ist deshalb mehr als wahrscheinlich, dass immer mehr Mitglieder der Arbeiterpartei sich den Anarchisten anschließen werden.“
Wegen dieser drohenden Gefahren der proletarischen Revolution fordert Groß eine Sozialpolitik nach deutschem Vorbild: „Um dies zu verhindern, ist es unbedingt nothwendig, dass man energisch daran gehe, den wichtigsten Beschwerden der Arbeiter Abhülfe zu schaffen. Dies kann aber nur erreicht werden durch eine weit ausgreifende Socialreform, wie sie dermalen im Deutschen Reiche geplant wird. Die Durchführung derselben bildete eine nothwendige Voraussetzung für den gesicherten Bestand der Gesellschaft und des Staates.“ (Groß 1885, 42f.)

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 4/2004

 

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