| |
Erinnerungen Félix Kreisslers an seine Widerstandstätigkeit in Frankreich
Ich bin in Meidling, einem Wiener Arbeiterbezirk aufgewachsen, wo ich sehr
schnell mit dem Leben der einfachen und armen Leute Bekanntschaft machte. Mein
Vater stammt aus dem Arbeitermilieu. Er war in seiner Jugend Straßenbahner
gewesen und hatte im Jahre 1911 an dem berühmten Straßenbahnerstreik
teilgenommen. Er wurde, wie das damals eben üblich war, wenn man sich an einem
Streik beteiligt hatte, hinausgeworfen. Als ich heranwuchs, war mein Vater
Kaufmann. Die zwanziger Jahre wurden von heftigen politischen Kämpfen
beherrscht. Jede Woche gab es Demonstrationen und Aufmärsche. Ich schaute mit
das an, bekam von den Nöten und dem Kampf dieser Leute um Gerechtigkeit einen
sehr starken Eindruck und stellte mich auf ihre Seite.
Im Mittelschülerbund
Mein Widerstand hat nicht erst 1938 begonnen, sondern 1933, im Moment der
Ausschaltung des Parlaments. Ich war zwar schon 1931 zum Sozialistischen
Mittelschülerverbund gestoßen, aber richtig aktiv wurde ich erst im Jahre 1933,
als den Mittelschülern in Österreich per Dekret verboten wurde, sich politisch
zu betätigen. Da dachte ich – wie viele andere: „Das können wir uns nicht
gefallen lassen!“ Und wir begannen erst recht, jetzt, als es verboten war, unter
den Mittelschülern zu werben, und zwar nicht in erster Linie für den
Sozialismus, sondern gegen den Faschismus. Im Februar 1934 wurde unsere
Illegalität sozusagen noch schärfer, denn nun war es uns nicht nur als
Mittelschüler verboten, uns politisch zu betätigen, sondern auch als
Sozialisten. Wir antworteten mit der Gründung des Antifaschistischen
Mittelschülerbundes. Damit versuchten wir, möglichst viele Mittelschüler von der
Notwendigkeit des Kampfes gegen den Faschismus zu überzeugen. Unsere illegalen
Aktivitäten bestanden in Schulungsarbeit, zum Beispiel auf Ausflügen im Wiener
Wald, in der Herausgabe und Verbreitung einer Zeitung, die „Roter Schulkampf“
hieß, und die wir natürlich nur konspirativ und äußerst vorsichtig an den
Schulen vertreiben konnten; schließlich setzten wir unsere Arbeit in legalen
Vereinigungen fort: wir meldeten uns in Volksbildungsorganisationen zu Wort oder
hielten selbst Vorträge. Konkret erinnere ich mich an solche Aktivitäten in der
Völkerbundliga, in der Paneuropabewegung und in einer zionistischen Vereinigung.
1936 flog unsere Organisation auf. – Offensichtlich war ein Spitzel unter uns.
Der Antifaschistische Mittelschülerbund hatte an die fünfhundert Mitglieder
umfasst. Davon wurden mit einem Schlag an die dreihundert Buben und Mädchen
verhaftet. Eine Bemerkung am Rande: Erst unlängst, also mehr als vierzig Jahre
nach den Ereignissen, wurde mir aus Italien ein Dokument zugesandt, aus dem
hervorgeht, dass ein italienischer Polizeikommissär über unsere Aktivitäten nach
Rom berichtet hatte, damit die Gestapo davon informiert werde. Dieser Umweg nach
Rom wäre eigentlich nicht notwendig gewesen, weil die Gestapo in Wien bereits
damals genug Leute hatte. Außerdem konnte man über unsere Verhaftung in allen
österreichischen Zeitungen lesen. Offensichtlich wollten die Italiener ihren
Fleiß unter Beweis stellen. Es sollte uns der Prozess gemacht werden, wozu es
allerdings nicht kam, da wir am 11. Juli aufgrund einer Amnestie entlassen
wurden. In dem „berühmten“ Juliabkommen zwischen Schuschnigg und Hitler war ein
Punkt enthalten, dem nach alle Nationalsozialisten amnestiert werden mussten. Da
die legale und die illegale Gewerkschaftsbewegung mit Generalstreik drohten,
wurden auch die Linken befreit. Übrigens haben wir unseren Kampf gleich nach
unserer Entlassung fortgesetzt. Allen dreihundert Mittelschülern, die verhaftet
worden waren, machte man mehr oder minder Schwierigkeiten bei der
Wiederzulassung an einer österreichischen Schule. So fanden viele Wiener Schüler
nur Aufnahme an einem Gymnasium in Tirol oder Vorarlberg. Drei allerdings wurden
überhaupt nicht mehr zugelassen, weil sie als die Führer betrachtet wurden.
Unter ihnen war auch ich. Ich stand knapp vor dem Abschluss der Mittelschule,
als ich verhaftet wurde. Ein Jahr lang machte ich Ansuchen und Rekurse. –
Vergebens. Mir blieb die Zulassung zur Matura versagt.
Auswanderung nach Frankreich
1937 entschloss ich mich, nach Frankreich auszuwandern, um dort meine Studien
fortzusetzen. Zwar lernte man damals in Österreich viel besser Französisch als
heute, aber es bedurfte doch einer harten Vorbereitungszeit, dass ich zum
Baccalaureat antreten konnte. Meine Auswanderung war ein großes Glück, denn
bereits am 13. März 1938 tauchte bei uns zu Hause die Gestapo auf, um mich zu
suchen und zu holen, wahrscheinlich durch den italienischen Polizeikommissär
alarmiert.
Frankreich galt als das Land der Freiheit – diesen Ruf hat es sich bis heute
bewahrt – sowie als das Land der Volksfront. Dass die Volksfront schon im
Abklingen war, erkannte ich erst, als ich mich in Frankreich befand. Nur von
Österreich aus gesehen, war das noch ein „rotes Land“. Damals proklamierte Leon
Blum die „Pause“. Bei den sozialen Reformen wurde in Wirklichkeit nicht nur eine
„Pause“ eingeschaltet, sie wurden völlig aufgegeben. Dann machte die Regierung
Blum die Nichteinmischungspolitik mit, weil sie sich bedingungslos an England
gebunden hatte. England war damals auf appeasement aus. Die demokratischen
Westmächte schlugen eine Nichtinterventionspolitik vor, der Hitler und Mussolini
laut zustimmten. Während sie aber weiter ihre Armeen nach Spanien schickten,
hielten sich die demokratischen Länder an die Nichteinmischung und schauten zu.
1938 verloren die Linken die Regierungsgewalt, Daladier kam an die Macht, der
dann auch das Münchner Abkommen mit Hitler abschloss. Das bedeutete
Kapitulation. Damit war der beste Verbündete Frankreichs, die Tschechoslowakei,
an Hitler ausgeliefert und der erste Schritt zum Zweiten Weltkrieg gemacht. Das
waren für mich sehr enttäuschende Entwicklungen.
Gleich 1937 setzte ich mich in Frankreich für Österreich ein. Ich gründete zum
Beispiel die „Freie Österreichische Jugendgruppe“, womit ich trachtete, die nach
1938 von Österreich nach Frankreich kommenden Jugendlichen zu organisieren, um
sie vor einem moralischen Niedergang zu bewahren.
Bei Kriegsbeginn wurden alle Österreicher interniert. Wie die Behörden es
verlangten, meldeten wir Österreicher uns und kamen in ein Lager. Wir waren ja
damals alle noch sehr legal! Ich musste zunächst in ein Fußballstadion bei
Paris, wo fruchtbare Bedingungen herrschten. Man sagte uns: „Kommt mit einer
Decke“, und wir kamen mit bloß einer Decke, ohne Verpflegung. Wir wurden auf den
Bänken des Stadions untergebracht, ohne Dach über dem Kopf, ohne sanitäre
Anlagen. Ich erinnere mich gut, wie da manche regelrecht wahnsinnig wurden. Wir,
die wir aus der linken Bewegung gekommen sind, wir waren das schon eher gewöhnt.
Jedoch „einfache“ Bürger, wenn ich das so sagen kann, die nie mit dem Gesetz in
Konflikt gekommen waren, fanden sich plötzlich, über Nacht, in einer Lage, wie
sie es sich nie hätten träumen lassen. Die Bewachung war teils menschlich, teils
bekam man mit dem Gewehrkolben Hiebe, wann man sich widersetzlich zeigte oder
aufmuckte, wie diese Leute, die einfach nicht verstanden, dass sie in einem
Fußballstadion interniert waren. Bald wurden wir in Züge verfrachtet und in die
Bretagne, in die Nähe von Le Mans, in das Lager Meslay sur Maine gebracht. Das
Lager bestand aus nichts außer einer Fläche. Es gab überhaupt nichts. Noch dazu
ist die Gegend dort sehr feucht. Wir mussten unsere Unterkünfte mühsam selbst
bauen. Die Franzosen machten keinen Unterschied zwischen Österreichern und
Deutschen, und daher waren die beiden Nationen gemeinsam in diesem Lager
interniert. Übrigens unterscheidet die Bevölkerung Frankreichs auch heute
weitgehend noch nicht zwischen Deutschland und Österreich. Aber wir, die
Internierten, machten diese Unterscheidung. Die Österreicher gingen von sich aus
zusammen in Baracken – ohne theoretische Diskussionen, ob es eine
österreichische Nation gäbe. Das war sozusagen die erste Konstitution der
österreichischen Nation zur Emigration.
Zunächst gab es noch die Möglichkeit, inapte au camp erklärt zu werden. Mein
steifes Bein, das ich auch heute noch habe, war der Grund, weswegen ich nach
viereinhalb Monaten aus dem Lager entlassen wurde. Die vier, fünf Monate, die
bis zur Invasion Frankreichs durch die Deutsche Armee blieben, nützte ich mit
Studienvorbereitungen. Mit vielen Tausenden ging ich dann unter Bombardements,
zu Fuß, auf Exode.
Später studierte ich in Toulouse und gründete wiederum auf eigene Faust
Studentengruppen. Wir veranstalteten Diskussionen und stellten Flugblätter her.
Im Dezember 1941 wurde ich neuerlich verhaftet und vor einem Militärgericht der
Vichyregierung in Toulouse gestellt. Über meine Aktionen bei Studenten war das
Gericht nicht informiert. Man warf mir andere subversive Tätigkeiten vor, konnte
mir aber nichts nachweisen, sodass ich freigesprochen wurde. Das bedeutete aber
nicht, freigelassen zu werden. Jeder, der damals freigesprochen wurde, wurde
sofort interniert. – so auch ich. Im Winter darauf, 1942, gelang es mir,
hospitalisiert zu werden und mich operieren zu lassen. Die Operation wäre an und
für sich nicht notwendig gewesen. Nun ist es so, dass ich immer schon an
Schmerzen gelitten hatte, sodass es für mich keine Kunst ist, diese Schmerzen
besonders zu unterstreichen, wenn sie da sind. Nach der Operation wurde ich in
einen riesigen Gips gelegt, und acht Tage nachdem ich aus dem herausgekommen
war, sollte ich vom Spital weg deportiert werden. Dank der Hilfe einer
Französin, die dann später meine Frau wurde, schaffte mich ein Priester bei
einem Seitenausgang des Spitals hinaus, wo sonst nur die Toten abtransportiert
wurden. Der Haupteingang war schon von der Polizei bewacht. Als ich entflohen
war, sah ich in den Straßen von Toulouse bereits deutsche Panzer, denn die
Deutschen waren auch schon in der ehemals freien Zone.
Gegen die deutschen Besatzer
Nun stellte sich die Alternative: Entweder man versteckt sich irgendwo in den
Bergen, um zu überleben, oder man bleibt in der Stadt und unternimmt irgendwas
gegen die Nazis. Die Frage war nur, was. So einfach ist das ja nicht, dass man
sagt: „Also wir machen jetzt Widerstand.“ Die Formen mussten erst gefunden
werden. Wegen meines steifen Beines kam für mich ein Einsatz bei den Partisanen
nicht in Frage. Da kam die Idee auf, die Deutsche Armee zu demoralisieren. Ich
selbst arbeitete an der Soldatenzeitung „Soldat am Mittelmeer“ mit. Ich konnte
nicht viel machen, da ich ja erst 22, 23 Jahre alt war. Mein Beitrag bestand
darin, dass ich Informationen überbrachte und Verbindungen hielt. Als wir dann
dazu übergingen, Flugblätter herzustellen, machte ich mich nützlich, indem ich
die Texte schrieb und abzog. Vor allem nach Stalingrad war bei den Deutschen
eine gewisse Entmutigung festzustellen. Besonders beeindruckte mich, als ich
sah, dass die Truppen in Lyon immer nur unter Schutz vor der Bevölkerung
ausrückten. Die marschierende Truppe war von Soldaten seitlich flankiert, die
die Gewehre auf das Publikum gerichtet hielten. Das war ein eindeutiges Zeichen
von Angst.
Im Zusammenhang mit meiner Kuriertätigkeit möchte ich eine Episode erzählen, die
zeigt, an welch dünnen Faden damals das Leben hing. In Nimes sollte ich einmal
einen Kontaktmann, den Österreicher Paul Jelinek, treffen, der dort, als
Franzose getarnt, in einer Dienststelle der deutschen Wehrmacht arbeitete. Aus
dem Gefühl heraus, dass irgendetwas nicht stimmt, ging ich nicht in seine
Wohnung. Ich kann bis heute nicht sagen, wo dieses Gefühl herrührte. –
Stattdessen besuchte ich ein Restaurant, wo Paul, ein Kontaktmann in der Armee,
und ich früher gegessen hatten. Als ich das Lokal verließ, ging mir eine mir
völlig unbekannte Französin nach, stellt mich und warnte: „Es ist besser, wenn
Sie nicht nach Hause gehen, denn man wartet dort schon auf Sie.“ Sie meinte
natürlich die Gestapo. Wie ich später erfuhr, war Paul Jelinek tatsächlich schon
verhaftet worden. Ich weiß bis heute nicht, wie diese Frau dazukam, mich zu
warnen und vor der Verhaftung zu retten. Ich musste schnell von Nimes weg und
reiste nach Lyon. Mit falschen Papieren konnte man reisen. Fragen Sie mich
nicht, welche falschen Namen ich hatte. Es waren so viele, dass ich sie gar
nicht mehr weiß. Die Bahn hat selbst unter der Kollaborationsregierung
funktioniert. Es haben ja bekanntlich die Züge auch im besetzten Polen
funktioniert, in eine Richtung haben sie dort ja sogar sehr gut funktioniert.
Dann musste ich aus Sicherheitsgründen schnell nach Grenoble, wo die Italiener
waren. – Allerdings nicht mehr lange. Denn bald ist auch dort die Deutsche Armee
eingezogen. Ich war in Grenoble in einer Buchhandlung als Verkäufer
untergetaucht, als ich eines Tages für die gaullistische Widerstandsbewegung
rekrutiert wurde. Sie nannte sich MNPGD, Mouvement National des Prisoniers de
Guerre et Deportes. Der Leiter war ein Neffe von de Gaulle, unter vielen, vielen
anderen arbeitete auch der heutige Präsident, Mitterand, mit. Das alles wusste
ich damals natürlich nicht. Meine Arbeit bestand zunächst darin, Flugblätter zu
verfassen und zu vertreiben. Ich baute ein Netz von Gruppen in verschiedenen
Städten auf. Dabei half mir meine Frau in sehr tapferer Weise. Sie trug zum
Beispiel gefährliche Dokumente von einem Ort zum anderen. Aber allein, dass sie
mit mir reiste, war eine enorme Hilfe. Wir transportierten damals in Koffern mit
doppeltem Boden Flugblätter und ein reisendes Liebespaar ist immer geschützter
als ein einzelner. Um Ihnen einen Eindruck zu geben, wie sich das in der Praxis
darstellte, ein Beispiel: Zu Beginn des Jahres 1944 machten meine Frau und ich
eine große Tour an die Cote d'Azur, um in verschiedenen Städten Flugblätter
unseren Verbindungsleuten zu übergeben. Wir reisten mit einem riesigen Koffer
mit doppeltem Boden, worunter die in deutscher Sprache verfassten Flugblätter
versteckt waren. Wir verhielten uns wie spleenige Briten. Ich hatte ein
Schnurrbärtchen, wie man es von einem Engländer erwarten konnte. Statt uns zu
verstecken, traten wir völlig „frech“ auf, in Cannes zum Beispiel verließen wir
den Bahnhof und nahmen einen Fiaker. Ich setzte mich neben den Kutscher auf den
Bock, meine Frau nahm hinten Platz und neben ihr stand, für jeden sichtbar, der
riesige Koffer, der auffallen musste, Ich glaube, die beste Tarnung war, dass
man offen auftrat. Hätte man Angst gezeigt, wäre man verraten gewesen.
Eine weitere Aufgabe innerhalb der MNPGD bestand darin, in Pakete für
Kriegsgefangene Flugblätter hineinzugeben. Die wurden dann, sozusagen legal,
durch das rote Kreuz in die Kriegsgefangenenlager geschickt. Wir erfuhren, dass
sie gegen die Deutschen tatsächlich eingesetzt wurden. Für diese Arbeit war ich
der Verantwortliche. In dieser Eigenschaft fuhr ich unter anderem mehrere Male
nach Paris, wo wir Tagungen der MNPGD abhielten. Das war besonders gefährlich,
weil wir jedes Mal die Demarkationslinie zweimal passieren mussten, einmal auf
dem Hinweg und das andere Mal auf dem Rückweg. Frankreich war ja nach dem
Waffenstillstand vom Juni 1940 in zwei, eigentlich in drei Zonen aufgeteilt
worden. Es gab eine frei Zone, eine Besetzte und eine zone interdite. Alle
Grenzzonen waren verbotene Zonen, wo man nur mit speziellen Papieren reisen
konnte. Nach dem November 1942 kamen die Deutschen überall hin, also auch in die
Freie Zone. Die Demarkationslinie aber bestand weiter. Warum? Um die Fiktion der
Souveränität der Vichyregierung, die in der Freien Zone theoretisch die Macht
hatte, aufrechtzuerhalten. Die Kontrollen an der Demarkationslinie stellten ein
hohes Risiko dar.
Wenn ich gerade erzählte, dass ich die Demarkationslinien auch überqueren
musste, um an Leitungstagungen der MNPGD teilzunehmen, dann muss man sich vor
Augen halten, dass solch ein Treffen nur unter Beachtung strengster
Vorsichtsregeln abgehalten werden durfte. Ich kann mich noch genau daran
erinnern, dass diese Leitungstagung an drei verschiedenen Orten stattfand. Einer
dieser Orte war eine Villa im 14. Pariser Gemeindebezirk, die beiden anderen
waren im 10. und 18. Bezirk. Da ich zur zentralen Leitung in der Funktion als
Bearbeiter der deutschen Fragen gehörte, musste ich an allen drei Tagungsorten
mein Referat halten, das klarlegte, wie wir die Arbeit mit den deutschen
Soldaten organisierten. Es waren damals an einem Ort zehn bis zwölf Leute
versammelt. Unter diesen Umständen war das schon eine Massenveranstaltung. Ich
muss sagen, dass sich die Gaullisten sehr unvorsichtig benahmen, weil sie eben
überhaupt keine Erfahrung in illegaler Arbeit hatten. Ich hatte ja noch in
Österreich schon als Mittelschüler einiges auf diesem Gebiet lernen können. Die
Schwierigkeit jeder illegalen Arbeit liegt darin, dass man viele Menschen
organisieren muss, dass aber möglichst wenige voneinander wissen dürfen. Es
waren höchstens drei, meisten zwei, die miteinander arbeiteten. Eine Gruppe
verfasste die Flugzettel, eine andere stellte sie her und eine dritte streute
sie. Auf keinen Fall durfte bekannt sein, wo sich eine Zentrale befand. Der Sitz
der Zentralen wurde immer wieder geändert. Ich möchte das eine fliegende
Organisation nennen. Leider ist es menschlich, dass man sich nicht genau an
Regeln hält. Daher wurden manchmal auch die konspirativen Regeln missachtet,
sodass mancher mehr wusste, als nötig war. Wurde dann solch einer verhaftet und
von der Gestapo gefoltert, und hielt er nicht stand, kam es zu Verhaftungen von
Kameraden, gleich bis zu zwölf Leuten und mehr.
Verhaftung und Folter
Am 31. März 1944 wurden meine Frau und ich von der Gestapo in Lyon verhaftet.
Ein junger Mitarbeiter, den wir treffen sollten, war bereits festgenommen worden
und gab den Platz unseres Rendezvous an. Als wir dort hinkamen, wurden wir von
vier, fünf Franzosen umringt und in das berüchtigte Gefängnis der Lyoner Polizei
gebracht. Damals war Barbie Chef der Gestapo von Lyon, was ich zu dieser Zeit
noch nicht wusste.
Wir kamen also in den Gestapokeller in Lyon, wo wir furchtbar gefoltert wurden.
Die Gestapo wollte einfach alles wissen: Wer meine Verbindungsmänner waren, wie
die Organisation hieß, einfach alles! – Der Junge Mitarbeiter, der vor uns
verhaftet worden war, gab mich als Verantwortlichen an, der ich ja auch wirklich
war. Da wussten sie natürlich, dass ich über sehr viele wichtige Informationen
verfügte. Ich glaube, dass ich durch mein Schweigen die Verhaftung von sehr
vielen Widerstandskämpfern verhindert habe. Ich verriet niemanden bei meiner
Verhaftung in Toulouse und ich verriet niemanden im Gestapokeller in Lyon. Da
ich nichts sagte, folterten sie mich furchtbar, die „berühmte“ Badewanne, die
„berühmten“ Schläger usw. Ich habe bis heute auf dem Rücken Zeichen davon. Auf
mein Bein hatten sie es besonders abgesehen, weil es leicht beschädigt ist. Ich
will über diese Folterung nicht weiter reden.
Das Gefängnis von Monluc wird jetzt in der Literatur als besonders furchtbar
bezeichnet. Es war streng, und man wurde misshandelt. Aber mir, nachdem ich drei
Wochen unter ununterbrochener Folter im Gestapogefängnis verbracht hatte, ist
dieses Gefängnis fast wie das Paradies vorgekommen. In der Gestapohölle waren
wir von SD, Gestapo und SS bewacht und gefoltert worden, in Monluc bestand die
Wachmannschaft aus Wehrmachtssoldaten, die bei weitem nicht so brutal waren. Die
hatten sich ja auch nicht freiwillig gemeldet, und die haben eben nicht so
leicht gelernt, was man ihnen beibringen wollte, nämlich dass man zu den
französischen „Untermenschen“ brutal sein muss. Ich hieß damals übrigens Henri
Lebrun, wie der französische Präsident, der von Pétain abgesetzt worden war. Ich
verriet durch nichts, wer ich wirklich war, sodass man mich für einen Franzosen
hielt.
In Monluc gab es auf den Gängen in Abständen Wachposten. Ich erinnere mich
genau, dass es immer wieder vorkam, wenn ich an ihnen vorbeiging, dass sie
sagten: „Na, der geht ein.“ – So sah ich nach der Folter aus, vom Tode
gezeichnet. Die Soldaten wussten ja nicht, dass ich sie verstand, dass ich
Deutsch konnte. Dieses Kommentare waren für mich ein „Anreiz“, nicht einzugehen.
Die Freud' wollte ich denen nicht machen!
Mitten im Gefängnis von Monluc leisteten wir einen großen Akt des Widerstandes.
Von Zeit zu Zeit wurden einige von uns abtransportiert. Man wusste nicht wohin,
man wusste nur, dass es in das Unglücklichste geht. Immer wenn Kameraden zum
Abtransport im Hof antreten mussten, sangen alle Franzosen die Marseillaise im
Angesicht der Gestapo, der Soldaten und der SS. Sie müssen sich vorstellen, dass
zwei-, dreihundert Mann die Marseillaise singen. Das war sehr beeindruckend. Es
beeindruckte auch die Nazis. Sie trauten sich gar nicht, gegen uns
einzuschreiten. Das war ein schöner Akt des Widerstandes, auch deshalb, weil man
uns außerhalb der Gefängnismauern hörte.
Abtransport nach Buchenwald
Auch meine Frau und ich wurden bald deportiert. Meine Frau kam zuerst nach
Romaineville, in ein Lager bei Paris. Von dort wurde sie in das
Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Ich kam von Monluc in das Lager in
Compiegne. Von dort wurde ich in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert.
Der Transport erfolgte unter bekannten Umständen, das heißt, achtzig Menschen in
einem Waggon. Jeder bekam ein Stück Wurst und ein Stück Brot, aber kein Wasser.
Das war eine besonders sadistische Angelegenheit. Und am Anfang war es ziemlich
heiß, in Buchenwald nicht mehr. Dort schneite es bei unserer Ankunft. Buchenwald
war ja von den Nazis wegen seines schlechten Klimas ausgewählt worden. Der Durst
war einfach furchtbar. Während der Fahrt starben ungefähr achtzig Menschen. Die
wurden in Buchenwald ganz einfach rausgeschaufelt. Als wir ankamen, waren von
uns mindestens dreihundert Menschen durstverrückt. Ich habe dort Leute gesehen,
die auf der Reise von drei Tagen um dreißig bis vierzig Jahre älter geworden
sind. Es war ganz einfach furchtbar, wie diese Reise sadistisch organisiert war.
Dann gab es noch eine teuflische Falle. Als wir in das Lager kamen, fanden wir
riesige Bottiche mit Wasser vor. Die meisten stürzten sich auf die Bottiche.
Natürlich waren so gut wie alle bald als Folge darauf schwer krank.
Im Buchenwald gab es ein illegales internationales Lagerkomitee. Sein Chef war
übrigens ein Franzose, der berühmte Marcel Paul. Er wurde nach der Befreiung
Industrieminister in Frankreich, eine hochgeehrte, große Persönlichkeit, der die
Leute im Lager, alle, nicht nur die Franzosen, zusammenschweißte. Auch im
Buchenwald war Österreich als Nation vertreten. Es gab, was ich erst später
erfuhr, im Rahmen des Internationalen Lagerkomitees auch ein österreichisches
Komitee, wie auch ein deutsches, französisches und so weiter. Man spürte eine
eigene Solidarität unter den Österreichern. Man half einander. Ich erinnere mich
gut, dass ich mit vielen Deutschen über die Berechtigung der Österreicher, einen
eigenen Staat zu gründen, diskutieren musste. Die deutschen Antifaschisten sahen
Österreich gar nur als einen Unterbezirk an. Mit der echt deutschen
Überheblichkeit gestanden sie Österreich nicht einmal einen Bezirk oder eine
Provinz zu. Österreich könne höchstens ein Unterbezirk des zukünftigen,
natürlich demokratischen Deutschlands sein.
Eine Widerstandstätigkeit, die ich in Buchenwald vollbrachte, forderte den
meisten Mut von mir. Ich war all die sechzehn Monate als Franzose, als Henri
Lebrun, dort. Wenn sie mich umgebracht hätten, wüsste niemand, was mit dem Felix
Kreissler passiert ist. Ich gab als Beruf Deutschlehrer an. Also wurde ich als
Dolmetscher eingesetzt. Für die Franzosen unter den Häftlingen gab man über
Lautsprecher Wehrmachtsberichte durch. Meine Aufgabe während mehrerer Wochen war
es, die Wehrmachtsberichte in das Französische zu übersetzen. Ich übersetzte
aber nicht, ich interpretierte und kommentierte, immer in einem Sinn, der den
Gefangenen Mut und Kraft zum Überleben geben sollte. Wenn da ein Spitzel unter
den Franzosen gewesen wäre, der angezeigt hätte, dass der Lebrun nicht
übersetzt, sondern interpretiert, wäre es mit mir sofort aus gewesen. Ein
Menschenleben war in Buchenwald überhaupt nichts wert. Und ich war mir der
Gefahr vollkommen bewusst. Vollkommen. Heute habe ich noch rückblickend Angst,
das ich diese Widerstandsakte setzte.
Was nun die Zeit nach meiner Befreiung betrifft, möchte ich lediglich
herausgreifen, dass ich in Rouen eine Professur für Civilisation Autrichienne
innehabe. Es ist der einige Lehrstuhl für österreichische Landeskunde in
Frankreich.
Da nun der Fall Barbie aktuell ist, will ich in diesem Zusammenhang einige
Bemerkungen machen. Es ergab sich die Tatsache, dass der französische
Staatsanwalt Barbie nur wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Anklage
stellen will, nicht wegen Kriegsverbrechen, weil die nach so langer Zeit nicht
mehr verfolgt werden können. Unter Kriegsverbrechen fallen auch all jene
Verbrechen, die gegen Juden begangen wurden, die eingesperrt, verfolgt oder
ermordet wurden, eben, weil sie als Juden betrachtet wurden. Nun muss man die
Frage stellen, unter welche Kategorie ich falle. Ich nahm in Frankreich als
Österreicher jüdischer Herkunft am Widerstand teil. Von der Gestapo wurde ich
mit einer französischen Identität verhaftet. Wie ich schon sagte, war ich auch
als Henri Lebrun in Buchenwald und viele erinnern sich noch an diesen Namen. Ich
wurde von der Gestapo furchtbar gefoltert, unter anderem auch daraufhin
gefoltert, dass ich meine wahre Identität preisgebe, denn die Gestapo wusste
natürlich, dass man falsche Papiere hatte. Wäre ich unter Folter schwach
geworden und hätte erklärt, dass ich Felix Kreissler heiße, hätte mich die
Gestapo natürlich als ehemaligen Österreicher jüdischer Herkunft identifiziert.
Es erhebt sich nun die Frage: In welchen Moment verwandelt sich ein
Kriegsverbrechen in ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Sind die
Folterungen, die an derselben Person begangen wurden, einmal Kriegsverbrechen,
wenn sie nichts gesteht, und wenn sie gesteht, was ihre Überlebenschance, die
schon so gut wie null war, noch einmal reduzierte, ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit? Wie die Dinge jetzt stehen, kann ich im Prozess gegen Barbie und
seine Kumpanen nicht als Zeuge auftreten, weil er gegen mich „nur“
Kriegsverbrechen beging. Gegen diesen Umstand, der ja in Frankreich für viele
zutrifft, führen die hiesigen Widerstandsorganisationen eine Aktion, die darauf
hinausläuft, dass auch diese Form der Barbarei bei dem Prozess gegen Barbie zur
Sprache kommen wird.
Ursprünglich als Beitrag Félix Kreisslers erschienen
unter dem Titel „Der geht ein!“, in: Franz Richard Reiter (Hrsg.), Unser Kampf.
In Frankreich für Österreich. Interviews mit Widerstandskämpfern, Wien-Köln-Graz
1984, S. 155–169
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 4/2004
|