Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Erinnerungen Félix Kreisslers an seine Widerstandstätigkeit in Frankreich

Ich bin in Meidling, einem Wiener Arbeiterbezirk aufgewachsen, wo ich sehr schnell mit dem Leben der einfachen und armen Leute Bekanntschaft machte. Mein Vater stammt aus dem Arbeitermilieu. Er war in seiner Jugend Straßenbahner gewesen und hatte im Jahre 1911 an dem berühmten Straßenbahnerstreik teilgenommen. Er wurde, wie das damals eben üblich war, wenn man sich an einem Streik beteiligt hatte, hinausgeworfen. Als ich heranwuchs, war mein Vater Kaufmann. Die zwanziger Jahre wurden von heftigen politischen Kämpfen beherrscht. Jede Woche gab es Demonstrationen und Aufmärsche. Ich schaute mit das an, bekam von den Nöten und dem Kampf dieser Leute um Gerechtigkeit einen sehr starken Eindruck und stellte mich auf ihre Seite.

Im Mittelschülerbund

Mein Widerstand hat nicht erst 1938 begonnen, sondern 1933, im Moment der Ausschaltung des Parlaments. Ich war zwar schon 1931 zum Sozialistischen Mittelschülerverbund gestoßen, aber richtig aktiv wurde ich erst im Jahre 1933, als den Mittelschülern in Österreich per Dekret verboten wurde, sich politisch zu betätigen. Da dachte ich – wie viele andere: „Das können wir uns nicht gefallen lassen!“ Und wir begannen erst recht, jetzt, als es verboten war, unter den Mittelschülern zu werben, und zwar nicht in erster Linie für den Sozialismus, sondern gegen den Faschismus. Im Februar 1934 wurde unsere Illegalität sozusagen noch schärfer, denn nun war es uns nicht nur als Mittelschüler verboten, uns politisch zu betätigen, sondern auch als Sozialisten. Wir antworteten mit der Gründung des Antifaschistischen Mittelschülerbundes. Damit versuchten wir, möglichst viele Mittelschüler von der Notwendigkeit des Kampfes gegen den Faschismus zu überzeugen. Unsere illegalen Aktivitäten bestanden in Schulungsarbeit, zum Beispiel auf Ausflügen im Wiener Wald, in der Herausgabe und Verbreitung einer Zeitung, die „Roter Schulkampf“ hieß, und die wir natürlich nur konspirativ und äußerst vorsichtig an den Schulen vertreiben konnten; schließlich setzten wir unsere Arbeit in legalen Vereinigungen fort: wir meldeten uns in Volksbildungsorganisationen zu Wort oder hielten selbst Vorträge. Konkret erinnere ich mich an solche Aktivitäten in der Völkerbundliga, in der Paneuropabewegung und in einer zionistischen Vereinigung. 1936 flog unsere Organisation auf. – Offensichtlich war ein Spitzel unter uns. Der Antifaschistische Mittelschülerbund hatte an die fünfhundert Mitglieder umfasst. Davon wurden mit einem Schlag an die dreihundert Buben und Mädchen verhaftet. Eine Bemerkung am Rande: Erst unlängst, also mehr als vierzig Jahre nach den Ereignissen, wurde mir aus Italien ein Dokument zugesandt, aus dem hervorgeht, dass ein italienischer Polizeikommissär über unsere Aktivitäten nach Rom berichtet hatte, damit die Gestapo davon informiert werde. Dieser Umweg nach Rom wäre eigentlich nicht notwendig gewesen, weil die Gestapo in Wien bereits damals genug Leute hatte. Außerdem konnte man über unsere Verhaftung in allen österreichischen Zeitungen lesen. Offensichtlich wollten die Italiener ihren Fleiß unter Beweis stellen. Es sollte uns der Prozess gemacht werden, wozu es allerdings nicht kam, da wir am 11. Juli aufgrund einer Amnestie entlassen wurden. In dem „berühmten“ Juliabkommen zwischen Schuschnigg und Hitler war ein Punkt enthalten, dem nach alle Nationalsozialisten amnestiert werden mussten. Da die legale und die illegale Gewerkschaftsbewegung mit Generalstreik drohten, wurden auch die Linken befreit. Übrigens haben wir unseren Kampf gleich nach unserer Entlassung fortgesetzt. Allen dreihundert Mittelschülern, die verhaftet worden waren, machte man mehr oder minder Schwierigkeiten bei der Wiederzulassung an einer österreichischen Schule. So fanden viele Wiener Schüler nur Aufnahme an einem Gymnasium in Tirol oder Vorarlberg. Drei allerdings wurden überhaupt nicht mehr zugelassen, weil sie als die Führer betrachtet wurden. Unter ihnen war auch ich. Ich stand knapp vor dem Abschluss der Mittelschule, als ich verhaftet wurde. Ein Jahr lang machte ich Ansuchen und Rekurse. – Vergebens. Mir blieb die Zulassung zur Matura versagt.

Auswanderung nach Frankreich

1937 entschloss ich mich, nach Frankreich auszuwandern, um dort meine Studien fortzusetzen. Zwar lernte man damals in Österreich viel besser Französisch als heute, aber es bedurfte doch einer harten Vorbereitungszeit, dass ich zum Baccalaureat antreten konnte. Meine Auswanderung war ein großes Glück, denn bereits am 13. März 1938 tauchte bei uns zu Hause die Gestapo auf, um mich zu suchen und zu holen, wahrscheinlich durch den italienischen Polizeikommissär alarmiert.
Frankreich galt als das Land der Freiheit – diesen Ruf hat es sich bis heute bewahrt – sowie als das Land der Volksfront. Dass die Volksfront schon im Abklingen war, erkannte ich erst, als ich mich in Frankreich befand. Nur von Österreich aus gesehen, war das noch ein „rotes Land“. Damals proklamierte Leon Blum die „Pause“. Bei den sozialen Reformen wurde in Wirklichkeit nicht nur eine „Pause“ eingeschaltet, sie wurden völlig aufgegeben. Dann machte die Regierung Blum die Nichteinmischungspolitik mit, weil sie sich bedingungslos an England gebunden hatte. England war damals auf appeasement aus. Die demokratischen Westmächte schlugen eine Nichtinterventionspolitik vor, der Hitler und Mussolini laut zustimmten. Während sie aber weiter ihre Armeen nach Spanien schickten, hielten sich die demokratischen Länder an die Nichteinmischung und schauten zu. 1938 verloren die Linken die Regierungsgewalt, Daladier kam an die Macht, der dann auch das Münchner Abkommen mit Hitler abschloss. Das bedeutete Kapitulation. Damit war der beste Verbündete Frankreichs, die Tschechoslowakei, an Hitler ausgeliefert und der erste Schritt zum Zweiten Weltkrieg gemacht. Das waren für mich sehr enttäuschende Entwicklungen.
Gleich 1937 setzte ich mich in Frankreich für Österreich ein. Ich gründete zum Beispiel die „Freie Österreichische Jugendgruppe“, womit ich trachtete, die nach 1938 von Österreich nach Frankreich kommenden Jugendlichen zu organisieren, um sie vor einem moralischen Niedergang zu bewahren.
Bei Kriegsbeginn wurden alle Österreicher interniert. Wie die Behörden es verlangten, meldeten wir Österreicher uns und kamen in ein Lager. Wir waren ja damals alle noch sehr legal! Ich musste zunächst in ein Fußballstadion bei Paris, wo fruchtbare Bedingungen herrschten. Man sagte uns: „Kommt mit einer Decke“, und wir kamen mit bloß einer Decke, ohne Verpflegung. Wir wurden auf den Bänken des Stadions untergebracht, ohne Dach über dem Kopf, ohne sanitäre Anlagen. Ich erinnere mich gut, wie da manche regelrecht wahnsinnig wurden. Wir, die wir aus der linken Bewegung gekommen sind, wir waren das schon eher gewöhnt. Jedoch „einfache“ Bürger, wenn ich das so sagen kann, die nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren, fanden sich plötzlich, über Nacht, in einer Lage, wie sie es sich nie hätten träumen lassen. Die Bewachung war teils menschlich, teils bekam man mit dem Gewehrkolben Hiebe, wann man sich widersetzlich zeigte oder aufmuckte, wie diese Leute, die einfach nicht verstanden, dass sie in einem Fußballstadion interniert waren. Bald wurden wir in Züge verfrachtet und in die Bretagne, in die Nähe von Le Mans, in das Lager Meslay sur Maine gebracht. Das Lager bestand aus nichts außer einer Fläche. Es gab überhaupt nichts. Noch dazu ist die Gegend dort sehr feucht. Wir mussten unsere Unterkünfte mühsam selbst bauen. Die Franzosen machten keinen Unterschied zwischen Österreichern und Deutschen, und daher waren die beiden Nationen gemeinsam in diesem Lager interniert. Übrigens unterscheidet die Bevölkerung Frankreichs auch heute weitgehend noch nicht zwischen Deutschland und Österreich. Aber wir, die Internierten, machten diese Unterscheidung. Die Österreicher gingen von sich aus zusammen in Baracken – ohne theoretische Diskussionen, ob es eine österreichische Nation gäbe. Das war sozusagen die erste Konstitution der österreichischen Nation zur Emigration.
Zunächst gab es noch die Möglichkeit, inapte au camp erklärt zu werden. Mein steifes Bein, das ich auch heute noch habe, war der Grund, weswegen ich nach viereinhalb Monaten aus dem Lager entlassen wurde. Die vier, fünf Monate, die bis zur Invasion Frankreichs durch die Deutsche Armee blieben, nützte ich mit Studienvorbereitungen. Mit vielen Tausenden ging ich dann unter Bombardements, zu Fuß, auf Exode.
Später studierte ich in Toulouse und gründete wiederum auf eigene Faust Studentengruppen. Wir veranstalteten Diskussionen und stellten Flugblätter her. Im Dezember 1941 wurde ich neuerlich verhaftet und vor einem Militärgericht der Vichyregierung in Toulouse gestellt. Über meine Aktionen bei Studenten war das Gericht nicht informiert. Man warf mir andere subversive Tätigkeiten vor, konnte mir aber nichts nachweisen, sodass ich freigesprochen wurde. Das bedeutete aber nicht, freigelassen zu werden. Jeder, der damals freigesprochen wurde, wurde sofort interniert. – so auch ich. Im Winter darauf, 1942, gelang es mir, hospitalisiert zu werden und mich operieren zu lassen. Die Operation wäre an und für sich nicht notwendig gewesen. Nun ist es so, dass ich immer schon an Schmerzen gelitten hatte, sodass es für mich keine Kunst ist, diese Schmerzen besonders zu unterstreichen, wenn sie da sind. Nach der Operation wurde ich in einen riesigen Gips gelegt, und acht Tage nachdem ich aus dem herausgekommen war, sollte ich vom Spital weg deportiert werden. Dank der Hilfe einer Französin, die dann später meine Frau wurde, schaffte mich ein Priester bei einem Seitenausgang des Spitals hinaus, wo sonst nur die Toten abtransportiert wurden. Der Haupteingang war schon von der Polizei bewacht. Als ich entflohen war, sah ich in den Straßen von Toulouse bereits deutsche Panzer, denn die Deutschen waren auch schon in der ehemals freien Zone.

Gegen die deutschen Besatzer

Nun stellte sich die Alternative: Entweder man versteckt sich irgendwo in den Bergen, um zu überleben, oder man bleibt in der Stadt und unternimmt irgendwas gegen die Nazis. Die Frage war nur, was. So einfach ist das ja nicht, dass man sagt: „Also wir machen jetzt Widerstand.“ Die Formen mussten erst gefunden werden. Wegen meines steifen Beines kam für mich ein Einsatz bei den Partisanen nicht in Frage. Da kam die Idee auf, die Deutsche Armee zu demoralisieren. Ich selbst arbeitete an der Soldatenzeitung „Soldat am Mittelmeer“ mit. Ich konnte nicht viel machen, da ich ja erst 22, 23 Jahre alt war. Mein Beitrag bestand darin, dass ich Informationen überbrachte und Verbindungen hielt. Als wir dann dazu übergingen, Flugblätter herzustellen, machte ich mich nützlich, indem ich die Texte schrieb und abzog. Vor allem nach Stalingrad war bei den Deutschen eine gewisse Entmutigung festzustellen. Besonders beeindruckte mich, als ich sah, dass die Truppen in Lyon immer nur unter Schutz vor der Bevölkerung ausrückten. Die marschierende Truppe war von Soldaten seitlich flankiert, die die Gewehre auf das Publikum gerichtet hielten. Das war ein eindeutiges Zeichen von Angst.
Im Zusammenhang mit meiner Kuriertätigkeit möchte ich eine Episode erzählen, die zeigt, an welch dünnen Faden damals das Leben hing. In Nimes sollte ich einmal einen Kontaktmann, den Österreicher Paul Jelinek, treffen, der dort, als Franzose getarnt, in einer Dienststelle der deutschen Wehrmacht arbeitete. Aus dem Gefühl heraus, dass irgendetwas nicht stimmt, ging ich nicht in seine Wohnung. Ich kann bis heute nicht sagen, wo dieses Gefühl herrührte. – Stattdessen besuchte ich ein Restaurant, wo Paul, ein Kontaktmann in der Armee, und ich früher gegessen hatten. Als ich das Lokal verließ, ging mir eine mir völlig unbekannte Französin nach, stellt mich und warnte: „Es ist besser, wenn Sie nicht nach Hause gehen, denn man wartet dort schon auf Sie.“ Sie meinte natürlich die Gestapo. Wie ich später erfuhr, war Paul Jelinek tatsächlich schon verhaftet worden. Ich weiß bis heute nicht, wie diese Frau dazukam, mich zu warnen und vor der Verhaftung zu retten. Ich musste schnell von Nimes weg und reiste nach Lyon. Mit falschen Papieren konnte man reisen. Fragen Sie mich nicht, welche falschen Namen ich hatte. Es waren so viele, dass ich sie gar nicht mehr weiß. Die Bahn hat selbst unter der Kollaborationsregierung funktioniert. Es haben ja bekanntlich die Züge auch im besetzten Polen funktioniert, in eine Richtung haben sie dort ja sogar sehr gut funktioniert. Dann musste ich aus Sicherheitsgründen schnell nach Grenoble, wo die Italiener waren. – Allerdings nicht mehr lange. Denn bald ist auch dort die Deutsche Armee eingezogen. Ich war in Grenoble in einer Buchhandlung als Verkäufer untergetaucht, als ich eines Tages für die gaullistische Widerstandsbewegung rekrutiert wurde. Sie nannte sich MNPGD, Mouvement National des Prisoniers de Guerre et Deportes. Der Leiter war ein Neffe von de Gaulle, unter vielen, vielen anderen arbeitete auch der heutige Präsident, Mitterand, mit. Das alles wusste ich damals natürlich nicht. Meine Arbeit bestand zunächst darin, Flugblätter zu verfassen und zu vertreiben. Ich baute ein Netz von Gruppen in verschiedenen Städten auf. Dabei half mir meine Frau in sehr tapferer Weise. Sie trug zum Beispiel gefährliche Dokumente von einem Ort zum anderen. Aber allein, dass sie mit mir reiste, war eine enorme Hilfe. Wir transportierten damals in Koffern mit doppeltem Boden Flugblätter und ein reisendes Liebespaar ist immer geschützter als ein einzelner. Um Ihnen einen Eindruck zu geben, wie sich das in der Praxis darstellte, ein Beispiel: Zu Beginn des Jahres 1944 machten meine Frau und ich eine große Tour an die Cote d'Azur, um in verschiedenen Städten Flugblätter unseren Verbindungsleuten zu übergeben. Wir reisten mit einem riesigen Koffer mit doppeltem Boden, worunter die in deutscher Sprache verfassten Flugblätter versteckt waren. Wir verhielten uns wie spleenige Briten. Ich hatte ein Schnurrbärtchen, wie man es von einem Engländer erwarten konnte. Statt uns zu verstecken, traten wir völlig „frech“ auf, in Cannes zum Beispiel verließen wir den Bahnhof und nahmen einen Fiaker. Ich setzte mich neben den Kutscher auf den Bock, meine Frau nahm hinten Platz und neben ihr stand, für jeden sichtbar, der riesige Koffer, der auffallen musste, Ich glaube, die beste Tarnung war, dass man offen auftrat. Hätte man Angst gezeigt, wäre man verraten gewesen.
Eine weitere Aufgabe innerhalb der MNPGD bestand darin, in Pakete für Kriegsgefangene Flugblätter hineinzugeben. Die wurden dann, sozusagen legal, durch das rote Kreuz in die Kriegsgefangenenlager geschickt. Wir erfuhren, dass sie gegen die Deutschen tatsächlich eingesetzt wurden. Für diese Arbeit war ich der Verantwortliche. In dieser Eigenschaft fuhr ich unter anderem mehrere Male nach Paris, wo wir Tagungen der MNPGD abhielten. Das war besonders gefährlich, weil wir jedes Mal die Demarkationslinie zweimal passieren mussten, einmal auf dem Hinweg und das andere Mal auf dem Rückweg. Frankreich war ja nach dem Waffenstillstand vom Juni 1940 in zwei, eigentlich in drei Zonen aufgeteilt worden. Es gab eine frei Zone, eine Besetzte und eine zone interdite. Alle Grenzzonen waren verbotene Zonen, wo man nur mit speziellen Papieren reisen konnte. Nach dem November 1942 kamen die Deutschen überall hin, also auch in die Freie Zone. Die Demarkationslinie aber bestand weiter. Warum? Um die Fiktion der Souveränität der Vichyregierung, die in der Freien Zone theoretisch die Macht hatte, aufrechtzuerhalten. Die Kontrollen an der Demarkationslinie stellten ein hohes Risiko dar.
Wenn ich gerade erzählte, dass ich die Demarkationslinien auch überqueren musste, um an Leitungstagungen der MNPGD teilzunehmen, dann muss man sich vor Augen halten, dass solch ein Treffen nur unter Beachtung strengster Vorsichtsregeln abgehalten werden durfte. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass diese Leitungstagung an drei verschiedenen Orten stattfand. Einer dieser Orte war eine Villa im 14. Pariser Gemeindebezirk, die beiden anderen waren im 10. und 18. Bezirk. Da ich zur zentralen Leitung in der Funktion als Bearbeiter der deutschen Fragen gehörte, musste ich an allen drei Tagungsorten mein Referat halten, das klarlegte, wie wir die Arbeit mit den deutschen Soldaten organisierten. Es waren damals an einem Ort zehn bis zwölf Leute versammelt. Unter diesen Umständen war das schon eine Massenveranstaltung. Ich muss sagen, dass sich die Gaullisten sehr unvorsichtig benahmen, weil sie eben überhaupt keine Erfahrung in illegaler Arbeit hatten. Ich hatte ja noch in Österreich schon als Mittelschüler einiges auf diesem Gebiet lernen können. Die Schwierigkeit jeder illegalen Arbeit liegt darin, dass man viele Menschen organisieren muss, dass aber möglichst wenige voneinander wissen dürfen. Es waren höchstens drei, meisten zwei, die miteinander arbeiteten. Eine Gruppe verfasste die Flugzettel, eine andere stellte sie her und eine dritte streute sie. Auf keinen Fall durfte bekannt sein, wo sich eine Zentrale befand. Der Sitz der Zentralen wurde immer wieder geändert. Ich möchte das eine fliegende Organisation nennen. Leider ist es menschlich, dass man sich nicht genau an Regeln hält. Daher wurden manchmal auch die konspirativen Regeln missachtet, sodass mancher mehr wusste, als nötig war. Wurde dann solch einer verhaftet und von der Gestapo gefoltert, und hielt er nicht stand, kam es zu Verhaftungen von Kameraden, gleich bis zu zwölf Leuten und mehr.

Verhaftung und Folter

Am 31. März 1944 wurden meine Frau und ich von der Gestapo in Lyon verhaftet. Ein junger Mitarbeiter, den wir treffen sollten, war bereits festgenommen worden und gab den Platz unseres Rendezvous an. Als wir dort hinkamen, wurden wir von vier, fünf Franzosen umringt und in das berüchtigte Gefängnis der Lyoner Polizei gebracht. Damals war Barbie Chef der Gestapo von Lyon, was ich zu dieser Zeit noch nicht wusste.
Wir kamen also in den Gestapokeller in Lyon, wo wir furchtbar gefoltert wurden. Die Gestapo wollte einfach alles wissen: Wer meine Verbindungsmänner waren, wie die Organisation hieß, einfach alles! – Der Junge Mitarbeiter, der vor uns verhaftet worden war, gab mich als Verantwortlichen an, der ich ja auch wirklich war. Da wussten sie natürlich, dass ich über sehr viele wichtige Informationen verfügte. Ich glaube, dass ich durch mein Schweigen die Verhaftung von sehr vielen Widerstandskämpfern verhindert habe. Ich verriet niemanden bei meiner Verhaftung in Toulouse und ich verriet niemanden im Gestapokeller in Lyon. Da ich nichts sagte, folterten sie mich furchtbar, die „berühmte“ Badewanne, die „berühmten“ Schläger usw. Ich habe bis heute auf dem Rücken Zeichen davon. Auf mein Bein hatten sie es besonders abgesehen, weil es leicht beschädigt ist. Ich will über diese Folterung nicht weiter reden.
Das Gefängnis von Monluc wird jetzt in der Literatur als besonders furchtbar bezeichnet. Es war streng, und man wurde misshandelt. Aber mir, nachdem ich drei Wochen unter ununterbrochener Folter im Gestapogefängnis verbracht hatte, ist dieses Gefängnis fast wie das Paradies vorgekommen. In der Gestapohölle waren wir von SD, Gestapo und SS bewacht und gefoltert worden, in Monluc bestand die Wachmannschaft aus Wehrmachtssoldaten, die bei weitem nicht so brutal waren. Die hatten sich ja auch nicht freiwillig gemeldet, und die haben eben nicht so leicht gelernt, was man ihnen beibringen wollte, nämlich dass man zu den französischen „Untermenschen“ brutal sein muss. Ich hieß damals übrigens Henri Lebrun, wie der französische Präsident, der von Pétain abgesetzt worden war. Ich verriet durch nichts, wer ich wirklich war, sodass man mich für einen Franzosen hielt.
In Monluc gab es auf den Gängen in Abständen Wachposten. Ich erinnere mich genau, dass es immer wieder vorkam, wenn ich an ihnen vorbeiging, dass sie sagten: „Na, der geht ein.“ – So sah ich nach der Folter aus, vom Tode gezeichnet. Die Soldaten wussten ja nicht, dass ich sie verstand, dass ich Deutsch konnte. Dieses Kommentare waren für mich ein „Anreiz“, nicht einzugehen. Die Freud' wollte ich denen nicht machen!
Mitten im Gefängnis von Monluc leisteten wir einen großen Akt des Widerstandes. Von Zeit zu Zeit wurden einige von uns abtransportiert. Man wusste nicht wohin, man wusste nur, dass es in das Unglücklichste geht. Immer wenn Kameraden zum Abtransport im Hof antreten mussten, sangen alle Franzosen die Marseillaise im Angesicht der Gestapo, der Soldaten und der SS. Sie müssen sich vorstellen, dass zwei-, dreihundert Mann die Marseillaise singen. Das war sehr beeindruckend. Es beeindruckte auch die Nazis. Sie trauten sich gar nicht, gegen uns einzuschreiten. Das war ein schöner Akt des Widerstandes, auch deshalb, weil man uns außerhalb der Gefängnismauern hörte.

Abtransport nach Buchenwald

Auch meine Frau und ich wurden bald deportiert. Meine Frau kam zuerst nach Romaineville, in ein Lager bei Paris. Von dort wurde sie in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Ich kam von Monluc in das Lager in Compiegne. Von dort wurde ich in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Der Transport erfolgte unter bekannten Umständen, das heißt, achtzig Menschen in einem Waggon. Jeder bekam ein Stück Wurst und ein Stück Brot, aber kein Wasser. Das war eine besonders sadistische Angelegenheit. Und am Anfang war es ziemlich heiß, in Buchenwald nicht mehr. Dort schneite es bei unserer Ankunft. Buchenwald war ja von den Nazis wegen seines schlechten Klimas ausgewählt worden. Der Durst war einfach furchtbar. Während der Fahrt starben ungefähr achtzig Menschen. Die wurden in Buchenwald ganz einfach rausgeschaufelt. Als wir ankamen, waren von uns mindestens dreihundert Menschen durstverrückt. Ich habe dort Leute gesehen, die auf der Reise von drei Tagen um dreißig bis vierzig Jahre älter geworden sind. Es war ganz einfach furchtbar, wie diese Reise sadistisch organisiert war. Dann gab es noch eine teuflische Falle. Als wir in das Lager kamen, fanden wir riesige Bottiche mit Wasser vor. Die meisten stürzten sich auf die Bottiche. Natürlich waren so gut wie alle bald als Folge darauf schwer krank.
Im Buchenwald gab es ein illegales internationales Lagerkomitee. Sein Chef war übrigens ein Franzose, der berühmte Marcel Paul. Er wurde nach der Befreiung Industrieminister in Frankreich, eine hochgeehrte, große Persönlichkeit, der die Leute im Lager, alle, nicht nur die Franzosen, zusammenschweißte. Auch im Buchenwald war Österreich als Nation vertreten. Es gab, was ich erst später erfuhr, im Rahmen des Internationalen Lagerkomitees auch ein österreichisches Komitee, wie auch ein deutsches, französisches und so weiter. Man spürte eine eigene Solidarität unter den Österreichern. Man half einander. Ich erinnere mich gut, dass ich mit vielen Deutschen über die Berechtigung der Österreicher, einen eigenen Staat zu gründen, diskutieren musste. Die deutschen Antifaschisten sahen Österreich gar nur als einen Unterbezirk an. Mit der echt deutschen Überheblichkeit gestanden sie Österreich nicht einmal einen Bezirk oder eine Provinz zu. Österreich könne höchstens ein Unterbezirk des zukünftigen, natürlich demokratischen Deutschlands sein.
Eine Widerstandstätigkeit, die ich in Buchenwald vollbrachte, forderte den meisten Mut von mir. Ich war all die sechzehn Monate als Franzose, als Henri Lebrun, dort. Wenn sie mich umgebracht hätten, wüsste niemand, was mit dem Felix Kreissler passiert ist. Ich gab als Beruf Deutschlehrer an. Also wurde ich als Dolmetscher eingesetzt. Für die Franzosen unter den Häftlingen gab man über Lautsprecher Wehrmachtsberichte durch. Meine Aufgabe während mehrerer Wochen war es, die Wehrmachtsberichte in das Französische zu übersetzen. Ich übersetzte aber nicht, ich interpretierte und kommentierte, immer in einem Sinn, der den Gefangenen Mut und Kraft zum Überleben geben sollte. Wenn da ein Spitzel unter den Franzosen gewesen wäre, der angezeigt hätte, dass der Lebrun nicht übersetzt, sondern interpretiert, wäre es mit mir sofort aus gewesen. Ein Menschenleben war in Buchenwald überhaupt nichts wert. Und ich war mir der Gefahr vollkommen bewusst. Vollkommen. Heute habe ich noch rückblickend Angst, das ich diese Widerstandsakte setzte.
Was nun die Zeit nach meiner Befreiung betrifft, möchte ich lediglich herausgreifen, dass ich in Rouen eine Professur für Civilisation Autrichienne innehabe. Es ist der einige Lehrstuhl für österreichische Landeskunde in Frankreich.
Da nun der Fall Barbie aktuell ist, will ich in diesem Zusammenhang einige Bemerkungen machen. Es ergab sich die Tatsache, dass der französische Staatsanwalt Barbie nur wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Anklage stellen will, nicht wegen Kriegsverbrechen, weil die nach so langer Zeit nicht mehr verfolgt werden können. Unter Kriegsverbrechen fallen auch all jene Verbrechen, die gegen Juden begangen wurden, die eingesperrt, verfolgt oder ermordet wurden, eben, weil sie als Juden betrachtet wurden. Nun muss man die Frage stellen, unter welche Kategorie ich falle. Ich nahm in Frankreich als Österreicher jüdischer Herkunft am Widerstand teil. Von der Gestapo wurde ich mit einer französischen Identität verhaftet. Wie ich schon sagte, war ich auch als Henri Lebrun in Buchenwald und viele erinnern sich noch an diesen Namen. Ich wurde von der Gestapo furchtbar gefoltert, unter anderem auch daraufhin gefoltert, dass ich meine wahre Identität preisgebe, denn die Gestapo wusste natürlich, dass man falsche Papiere hatte. Wäre ich unter Folter schwach geworden und hätte erklärt, dass ich Felix Kreissler heiße, hätte mich die Gestapo natürlich als ehemaligen Österreicher jüdischer Herkunft identifiziert. Es erhebt sich nun die Frage: In welchen Moment verwandelt sich ein Kriegsverbrechen in ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Sind die Folterungen, die an derselben Person begangen wurden, einmal Kriegsverbrechen, wenn sie nichts gesteht, und wenn sie gesteht, was ihre Überlebenschance, die schon so gut wie null war, noch einmal reduzierte, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Wie die Dinge jetzt stehen, kann ich im Prozess gegen Barbie und seine Kumpanen nicht als Zeuge auftreten, weil er gegen mich „nur“ Kriegsverbrechen beging. Gegen diesen Umstand, der ja in Frankreich für viele zutrifft, führen die hiesigen Widerstandsorganisationen eine Aktion, die darauf hinausläuft, dass auch diese Form der Barbarei bei dem Prozess gegen Barbie zur Sprache kommen wird.

Ursprünglich als Beitrag Félix Kreisslers erschienen unter dem Titel „Der geht ein!“, in: Franz Richard Reiter (Hrsg.), Unser Kampf. In Frankreich für Österreich. Interviews mit Widerstandskämpfern, Wien-Köln-Graz 1984, S. 155–169

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 4/2004

 

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