Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Hans Hautmann: „Macht ohne Herrschaft“

Über Georg Kneplers letzte Schrift und meine Begegnung mit ihm.

Georg Knepler war mir seit den siebziger Jahren ein Begriff. Damals fiel mir der Sonderdruck eines von ihm verfassten Aufsatzes in die Hand, dessen Lektüre mich sehr bewegte, geradezu in einen Zustand der Aufregung versetzte. Er trug den Titel „Karl Kraus und die Bürgerwelt“. /1/ Von Karl Kraus hatte ich zu dem Zeitpunkt schon vieles gelesen, manches begriffen, etliches aber noch nicht. Denn er ist ein Autor, dessen Inhalte und sprachliche Formen sich einem nicht auf Anhieb erschließen. Das Verständnis seiner Schriften muss man sich im wahrsten Sinne des Wortes erkämpfen – mühselig und über Jahre hinweg. Was ich bis dahin von Karl Kraus vage, zerrissen, schattenhaft, unartikulierbar im Kopf hatte, fügte sich durch Georg Kneplers Aufsatz plötzlich zur Erkenntnis eines entscheidenden Aspekts seiner Weltauffassung zusammen: „Er war ein Bürger seiner Herkunft und seiner Denkart nach, und manche bürgerlichen Kategorien hat er in seinem Denken nie überwunden. Aber wenn man seinen zeitweiligen Ausbruch aus der bürgerlichen politischen Position – und erst recht aus seinem bürgerlichen Verhalten – nicht sieht, hat man ihn nicht verstanden /2/ (...) Die sich formierende Welt des Sozialismus versteht, dass Parteinahme für die großen Entwicklungszüge hin zur Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Verdummung Voraussetzung objektiver Betrachtung ist. Bürger können das weder verstehen, noch gar nachahmen. Da sie für etwas Unaussprechbares Partei nehmen, nämlich für den Weiterbestand des Kapitalismus, den sie nicht zuletzt eben durch verlogene Phrasen schützen, steckt hinter dem, was sie Objektivität nennen, selbst dort, wo es nicht auf nackte Fälschung hinausläuft, der Bürger. Karl Kraus wusste das; man kann es nur um den Preis des Ausbruchs aus der Bürgerwelt lernen /3/ (...) Was Karl Kraus denkend, Anstöße gebend, anklagend, kämpfend, Künftiges vorwegnehmend, schrieb, sprach und sang, wird noch postum an jener großen revolutionären Aufgabe mitwirken, die ihm vorschwebte.“ /4/
An Georg Knepler ist damals, im April 1974, die Einladung ergangen, an einem Symposium anlässlich des 100. Geburtstages von Karl Kraus in Wien teilzunehmen und zu referieren. Die Veranstaltung war darauf angelegt, „das kulturelle Ansehen Österreichs – was im heutigen Österreich so ziemlich auf Fremdenverkehr hinausläuft – durch Karl Kraus’ hundertsten Geburtstag zu heben“ und „Karl Kraus in die Bürgerwelt zu integrieren“. /5/ Kneplers Beitrag, bewusst in grellem Kontrast zu diesem Streben gehalten, machte Furore. Seiner hohen Qualität musste man jedoch widerwillig Anerkennung zollen. So schrieb der Kulturredakteur der Presse, Edwin Hartl: „Gott sei’s geklagt, dass der glänzend versierte Sprecher der DDR mehr hergab als sein oberflächlich belfernder Widersacher aus der Bundesrepublik: Der Kommunist Georg Knepler hatte auf weit höherem Niveau Unrecht als der alles versimpelnde Marcel Reich-Ranicki.“ /6/
Kneplers Kommentar dazu: „Warum eigentlich soll dieser Tatbestand ‚Gott geklagt‘ werden? Der Stoßseufzer enthüllt Herrn Hartls – nein, auch seiner Umgebung – Vorurteil, dass es die kapitalistische Bundesrepublik ist, oder doch sein müsste, die für das wahre Kraus-Verständnis prädestiniert ist. Wäre es, ein rundes halbes Jahrhundert, nachdem Karl Kraus über den ‚reineren ideellen Zweck‘, die ‚größere Konstruktion‘ der ‚geistigen Welt des Kommunismus‘ schrieb, nicht Zeit darüber nachzudenken, dass ein sozialistisches Land, in dem das ‚Erzgesindel‘ zum Teufel gejagt wurde, für die ‚revolutionäre Tat‘ auch auf kulturellem Gebiet mehr geleistet hat als ein kapitalistisches? Vielleicht ist es weder Zufall, noch eine persönliche Errungenschaft, dass ein Kommunist, wenn er über Karl Kraus spricht, ‚mehr hergibt‘, und vielleicht ist, was er da ‚auf weit höherem Niveau‘ hat, nicht ‚Unrecht‘“. /7/
Das „Karl Kraus liest 
Offenbach“-Buch
Kneplers Referat auf dem Wiener Symposium 1974 hatte – neben der politischen Neuinterpretation – für die Karl-Kraus-Forschung insofern grundsätzliche Bedeutung, als er darin erstmals seine Tätigkeit als Klavierbegleiter sowie charakteristische Details aus seiner Bekanntschaft mit Karl Kraus schilderte. Diesen Aspekt baute er zu einer Buchpublikation aus, die zu den wichtigsten Veröffentlichungen über Karl Kraus zählt und mittlerweile zu einem „Klassiker“ geworden ist. /8/ Inhaltlich geht das Buch weit über persönliche Erinnerungen hinaus. Knepler schrieb dazu im Vorwort: „Die Beschäftigung mit Offenbach, der dieser außerordentliche Mann Karl Kraus einen großen Teil seiner Darstellungs- und Schaffenskraft gewidmet hat, gibt nämlich in unerwarteter Weise Aufschluss über sein eigenes Werk und Wirken, seine Zeit und ihre Probleme. Immer schon war mir klar: Was Offenbach für Karl Kraus bedeutete, kann man nur verstehen, wenn man Karl Kraus, sein Leben und Wirken einigermaßen kennt. Aber die aufdämmernde Erkenntnis kam hinzu, dass auch die Umkehrung gilt: Man wird Kraus nicht ganz verstehen, wenn man seine Offenbach-Begeisterung nicht versteht. Schon die äußerlichen Dimensionen, in denen sie zutage trat, lassen das ahnen. Nicht weniger als 124 Mal hat Kraus abendfüllende Offenbach-Lesungen veranstaltet (...) Dazu kamen die vielen Anspielungen und Beziehungen auf Offenbach in den Schriften, auf die Offenbachsche Figurenwelt und deren Konstellationen, zwei größere Essays und Dutzende von Glossen, die von Offenbach ausgehen oder in Hinweisen auf seine Überlegenheit münden.“ /9/
Als großer Musikwissenschaftler und gleichzeitig profunder Karl-Kraus-Kenner war Georg Knepler wie geschaffen dafür, in die ganze Tiefe des Verhältnisses von Karl Kraus gegenüber der bürgerlichen Geisteswelt und der Idee des Sozialismus vorzustoßen und Innovatives über Offenbachs Genie auszusagen. Nachhaltigen Eindruck hinterließ bei mir ein kurzes Kapitel über die Geschichte der Operette, in dem Knepler darlegte, dass „eine ganze Theaterwelt voll Witz, Humor, Ausgelassenheit, Derbheit, Anmut, Parodie und Kritik Zehntausende Jahre hindurch die Menschheitsentwicklung begleitet und mitgestaltet hat“ /10/ und das „Lachtheater“ in Form der Operette gerade bei Offenbach und mit ihm als Höhepunkt Gesellschaftskritik beinhaltete. „Es wäre ein eigenes Thema, das hier nicht ausgeführt werden kann, zu zeigen, wie aus der heiter-ironischen Distanz zur Bürgerwelt des Zweiten Kaiserreiches, die Offenbachs beste Operetten formulieren, die völlige Verstrickung im Ungeist der Bürgerwelt in ihrer imperialistischen Phase wurde, wie sie für die Operetten der Lehár, Kálmán e tutti quanti charakteristisch ist. Auch wäre es ein lohnendes Thema zu analysieren, auf welchen Wegen Offenbachsche Grundmuster weitergebildet und ‚aufgehoben' wurden, etwa ‚Pariser Leben‘ in ‚Mahagonny‘ oder ‚Die Briganten‘ in der ‚Dreigroschenoper‘“. /11/
Auf solche Gedanken muss einer erst kommen. Nur einem Wissenschaftler mit Phantasie und sozialistischem Klassenbewusstsein wie Georg Knepler konnte es vergönnt sein, die bisher nicht ausgesprochene, aber einfache und naheliegende Antwort auf den Krausschen Offenbach-Enthusiasmus zu geben: deren gemeinsame kritische „Distanz zur Bürgerwelt“.
Unser Briefwechsel
Im Studienjahr 1998/99 hielt ich an der Universität Linz eine Lehrveranstaltung über Marx und Engels ab, die, herausgegeben vom Bildungsarbeitskreis beim Bundesvorstand der KPÖ, veröffentlicht wurde. /12/ Ich war ziemlich überrascht, als ich im Mai 2000 von Georg Knepler aus Berlin einen Brief erhielt, in dem stand: „Ich schreibe, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihre Geschichte des Marxismus schätze! Ich habe mir auf Grund einer Anzeige ein Exemplar bestellt, dann weitere drei für Freunde, die sich dafür interessieren und lese mit großem Interesse und Gewinn, wie Sie das Thema anpacken. Sehr gut finde ich es, dass Sie die Entwicklung der Ideen mit den Biographien von Marx und Engels in Verbindung darstellen, auf diese Weise werden sie lebendiger als wenn sie, wie so oft, als von reinem Geist geboren dargestellt werden. Auch der Anhang ist, wie ich meine, sehr gelungen. Ich kann mir denken, dass Ihre Arbeit der Schulung sehr nützlich ist und hoffe, dass sie viele Benützer finden wird.“ Am Schluss des Briefes lud er mich ein, nach Berlin zu kommen, um mit mir über die eine oder andere Frage, die ich aufgeworfen hatte, zu sprechen.
Kneplers lobende Worte machten mich sehr verlegen, denn tatsächlich ist die Publikation, die nunmehr in Buchform vorliegt, /13/ nicht mehr als ein aus der vorhandenen Literatur zusammengestellter Leitfaden, der aus didaktischen Gründen einer Überblicksvorlesung kaum Anspruch auf theoretischen Tiefgang bei der Diskussion der zahlreichen Probleme marxistischen Denkens und einer zeitgemäßen marxistischen Praxis erheben kann.
Georg Knepler legte gegen diese Selbsteinschätzung im Folgebrief, in dem er zum „Du“ überging, Protest ein: „,Nur ein Leitfaden‘, nur! Als ob es dergleichen Leitfäden gäbe und auch noch in der Qualität! Ich habe Deine Methode übernommen, Marx’ Gedankenentwicklung chronologisch-biographisch anzulegen und finde sie fruchtbar.“ Daraufhin habe ich mir gedacht: also gut, akzeptiert, denn zeitweilig kann auch ruhig der Spruch „Bescheidenheit ist eine Zier, doch kommt man weiter ohne ihr“ gelten.
Im nächsten Brief vom 10. August 2000 enthüllte mir Knepler dann, warum er zu mir den Kontakt gesucht hatte: Er schreibe an einem Buch, das ihn seit Jahren beschäftige und das er nun abzuschließen gedenke. „Es hat den Titel ‚Macht ohne Herrschaft – die Realisierung einer Möglichkeit‘ und ist ein groß angelegter Versuch, ganz ähnlich Deinem, die Leistungen von Marx und Engels, und was seither an Alternativen zum Kapitalismus versucht wurde, zusammenfassend darzustellen. In mancher Hinsicht, auch bei der Beurteilung Engels', komme ich zu etwas anderen Ergebnissen als Du. Viel liegt mir daran zu hören, was Du dazu zu sagen hast.“
Unsere Begegnung in Berlin
Schließlich ergab sich für mich dann doch die Gelegenheit, nach Berlin zu fahren, weil der 26. Oktober 2000 als Nationalfeiertag sehr günstig auf einen Donnerstag fiel und für einen Aufenthalt vier Tage blieben. Da auch meine Lebensgefährtin und meine beiden Söhne Berlin gerne kennenlernen wollten, reisten wir zu viert an und wurden am Nachmittag des Samstag, 28. Oktober 2000, im Hause Georg Kneplers und seiner Frau gastfreundlich empfangen. Die Begegnung, an der auch ein junger Vertrauter der Kneplers, Stefan Huth, teilnahm und ihnen während des Besuchs hilfreich zur Hand ging, ist uns allen unvergessen. Georg Knepler, damals im 94. Lebensjahr stehend, war geistig voll da und entwickelte uns mit seltener Klarheit seine Überlegungen zu dem Buch, an dem er arbeitete. Zur Sprache kamen Fragen wie die nach dem Beitrag von Friedrich Engels zum marxistischen Gedankengebäude, zur Rolle von Moses Heß bei der Einflussnahme auf den jungen Marx und zu den Schriften Walter Benjamins, die Knepler als anregend empfand und hoch einschätzte. Diskutiert wurden aber auch Fragen, die uns interessierten: Seine Meinung über Karl Kraus, über Offenbach, Mozart, /14/ Schubert (einen Komponisten, den Knepler punkto Reichtum an melodischen Einfällen über alle anderen stellte), Richard Wagner und die Musik der französischen Revolution. Er hinterließ uns den Eindruck eines Gelehrten und Denkers, für den das zutraf, was Engels einst über Marx gesagt hatte: dass er „höher stand, weiter sah, mehr und rascher überblickte als wir anderen alle“.
Georg Knepler und ich setzten den Briefwechsel auch nach dem Treffen in Berlin noch einige Zeit fort, und ich gab ihm auf seine Bitte hin Informationen bibliographischer Art zu den Texteditionen der Werke von Moses Heß und zur „Russland-Schrift“ von Karl Marx („Enthüllungen über die Geschichte der Diplomatie des 18. Jahrhunderts“), die man in der Zeit des Realsozialismus wissentlich nicht in die Marx-Engels-Werkausgabe aufgenommen hatte. /15/
„Macht ohne Herrschaft“
Knepler hatte mir brieflich mehrmals die Zusendung des ersten Teils seines Buches „in zwei, drei Wochen“ angekündigt, um meine Meinung darüber zu erfahren. Dazu ist es nicht mehr gekommen, was ich dahingehend interpretierte, dass ihm die Arbeit altersbedingt immer schwerer fiel und sein Vorhaben zu einem Torso zu werden drohte. 
Am 14. Jänner 2003 verstarb Georg Knepler 96jährig. Umso erstaunter war ich, als ich einen Monat später ein sorgfältig erstelltes Manuskript im Umfang von 102 Seiten in der Post vorfand. Im Begleitbrief schrieb Stefan Huth: „Ich habe die traurige Aufgabe übernommen, Ihnen nach Georg Kneplers Ableben den schon lange angekündigten Vorabdruck der ersten drei Kapitel seines Buches ‚Macht ohne Herrschaft. Die Realisierung einer Möglichkeit‘ zuzusenden. Es war sein Wunsch, dass Sie ein Exemplar erhalten. Da an eine alsbaldige Veröffentlichung des gesamten vorliegenden Textes gedacht ist, wäre das Herausgeberkollektiv für die Übermittlung kritischer Reaktionen (...) dankbar.“ Ich antwortete ihm: „Den Vorabdruck seines letzten Werks, für dessen Zusendung ich Ihnen sehr danke, habe ich gelesen. Meiner Überzeugung nach ist es ein wichtiger, origineller, Denkanstöße gebender Beitrag für die unbedingt notwendige theoretische Orientierung von Marxisten unter den Bedingungen, wie sie seit 1989/91 in der Welt herrschen. Ich würde keinen Satz und kein Wort des Manuskripts verändert wissen wollen, denn gerade die Eigenwilligkeit mancher seiner Sichtweisen wird positive Auswirkungen auf eine fruchtbare Diskussion haben. Ich hoffe, dass die Drucklegung bald gelingt und wünsche dem Buch vollen Erfolg und weite Verbreitung.“
Georg Kneplers „Macht ohne Herrschaft“ ist nichts weniger als der Versuch einer Gesamtschau der Menschheitsentwicklung. Im Vorwort heißt es: „Menschen sind auf dem Planeten Erde die einzigen Lebewesen, die Verhältnisse herbeigeführt haben, unter denen ein bis zwei Prozent der Gesamtpopulation die Macht haben, über alle anderen zu verfügen. Das Thema dieses Buches ist der Nachweis, dass diese barbarischen Verhältnisse überwindbar sind, die Methode des Buches ist es, der Entstehungsgeschichte der Barbarei und der Menschlichkeit nachzugehen.
In allen Regionen der Erde haben Menschen (...) ihre zunächst sehr kleinen Welten verändert und zu verstehen gesucht. Die Fähigkeit zu werten, was der Bewahrung und Förderung des eigenen Lebens nützlich ist, was schädlich, ist jedem Lebewesen genetisch angelegt. Hingegen sind unter gesellschaftlichen Verhältnissen neuartige Fähigkeiten erarbeitet worden: das Verständnis für kausale Zusammenhänge, Willensbildungen zur Erreichung formulierter Zwecke, die Einsicht, dass es der Förderung des eigenen Lebens nützen kann, das Leben anderer zu fördern. Seither gibt es in der Menschenwelt zweierlei durchaus antagonistische Arten von Verhaltensweisen: kooperative und konfrontative. Die konfrontativen Verhaltensweisen werden von ungehemmten Aggressions-, Fress-, Kopulations-, Dominanz-, und Territorialinstinkten generiert, die kooperativen Verhaltensweisen von der Herausbildung neuer Fähigkeiten und Bedürfnisse, von der Hemmung und Sublimierung jener, die die Kooperation stören.
Über die Jahrhunderttausende hin haben sich beide Verhaltensweisen weitergebildet und gefestigt. Zur Konfrontation entschlossene Menschen haben Klassengesellschaften geschaffen, die während der rund fünftausend Jahre der jüngeren Geschichte zu durchorganisierten Staatsgebilden geworden sind, in denen die Herrschenden ihren Willen durchsetzten, Herrschaftssysteme weltweit zu stützen. Zur Kooperation entschlossene Menschen haben klassenlose Vereinigungen nicht-blutsverwandter Menschengruppen geschaffen und, innerhalb von Klassengesellschaften im Kampf gegen und zum Schutz vor den Herrschenden, organisierte Assoziationen verschiedener Art (...) Während der rund zweieinhalb Jahrhunderte der jüngsten Geschichte haben neue Faktoren den Antagonismus verschärft. Der virulenteste Faktor dürfte die bewusst gemachte Einsicht sein, dass Menschen von Natur aus gleichberechtigt sind, über Naturgegebenes zu verfügen. Seit der Französischen Revolution von 1789 ist die Kunde von der Egalité (...) bis in den letzten Winkel der Erde gedrungen. (...)
Die Erarbeitung eines Vokabulars, in dem sich klar und verständlich sagen lässt, dass Konfrontation Raub und Krieg braucht, Kooperation hingegen friedlichen Austausch, ist ein relevanter Faktor bei der Realisierung der Möglichkeit, die barbarischen Verhältnisse, unter denen die Menschheit heute lebt, zu überwinden.“ /16/
In dem mir zugesandten Vorabdruck von „Macht ohne Herrschaft“ sind die ersten drei Kapitel „Darwins Evolutionstheorie“, „Marx’ Theorie von der Assoziation freier Produzenten“ und „Menschwerdung“ (S. 7 bis 78) fertig erarbeitet, von den anderen sind kurze Inhaltsangaben ausformuliert. Stefan Huths Begleitschreiben ist aber zu entnehmen, dass es Georg Knepler noch gelungen ist, auch die letzteren für die Buchausgabe weitgehend zu vollenden. Es handelt sich dabei um die Kapitel 4) „Die Herausbildung ethischer und ästhetischer Wertkriterien“, 5) „Die Herausbildung von Herrschaftsformen“, 6) „Der Kapitalismus“ und 7) „Gleichberechtigung. Kämpfe, Schwierigkeiten, Erfolge bei ihrer Realisierung“ mit den Unterabschnitten „Die Amerikanische Revolution“, „Die Französische Revolution“, „Ein Zyklus von Revolutionen“ und „Die Situation heute und die nächsten Schritte“.
Auch im hohen Alter noch ungebrochen befähigt, seine Phantasie spielen zu lassen, eröffnet Georg Knepler in „Macht ohne Herrschaft“ eine Vielzahl von neuen, verblüffenden und gerade deshalb anregenden Sichtweisen auf Dinge, von denen wir glauben, über sie nicht weiter nachdenken zu müssen. Nicht alle seine Auffassungen kann und muss man teilen. Wenn er beispielsweise im Kapitel über Marx schreibt, dass dessen theoretisches Kernstück, die Assoziation freier Produzenten, von ihm „überhaupt keine detaillierte Darstellung erfuhr, weder im 1. Band des ‚Kapital‘ noch in populärwissenschaftlichen Formen“ und „klassenlose Formationen nirgendwo sein Hauptthema“ gewesen seien, was zur Folge gehabt habe, dass „Marx’ Gesamtkonzept, nur wenigen Fachleuten bekannt, kaum ins Allgemeinbewusstsein gedrungen ist“, /17/ so ist das nur bedingt richtig. Denn Marx hat darüber in der „Kritik des Gothaer Programms“ von 1875 sehr wohl Ausführungen gemacht und sie deshalb auf das Grundzughafte beschränkt, weil er es als realitätsfern empfand, in der Manier der utopischen Sozialisten eine kommunistische Gesellschaft in all ihren Einzelheiten auf dem Reißbrett zu entwerfen und künftigen Generationen aufzuoktroyieren, dass sie so und nicht anders aussehen müsse.
Eine solche Kritik an einzelnen Punkten in Kneplers letzter Schrift verblasst aber vor der Tatsache, dass sie ein großer Wurf ist, durchtränkt vom Optimismus eines Kommunisten. Enden wir deshalb mit Georg Kneplers Worten am Schluss seiner Ausführungen und nehmen wir sie als sein Vermächtnis: „Der Kampf geht nicht nur gegen die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus. Der Kampf geht nicht gegen Individuen, auch nicht gegen individuelle Kapitalisten, ob sie den modernen Kapitalismus stützen oder ihn (...) modifizieren. Erst recht nicht geht der Kampf gegen Individuen aus den Reihen derer, die der Menschheit Frieden sichern wollen. Der Kampf geht vor allem darum, das kapitalistische System endgültig abzuschaffen.“ /18/

Anmerkungen
1/ Georg Knepler, Karl Kraus und die Bürgerwelt, in: Text + Kritik. Sonderband Karl Kraus, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1975, S. 58-87
2/ Ebenda, S. 70
3/ Ebenda, S. 86
4/ Ebenda, S. 87
5/ Ebenda, S. 83
6/ Die Presse, 18. April 1974
7/ G.Knepler, Karl Kraus und die Bürgerwelt, a.a.O., S. 83. Die Zitate innerhalb der Passage sind, soweit sie sich nicht auf Edwin Hartl beziehen, Formulierungen von Karl Kraus.
8/ Georg Knepler, Karl Kraus liest Offenbach. Erinnerungen. Kommentare. Dokumentationen, Berlin-Wien 1984
9/ Ebenda, S. 7
10/ Ebenda, S. 197
11/ Ebenda, S. 199
12/ Hans Hautmann, Geschichte des Marxismus 1841-1895, Wien-Linz 1999
13/ Hans Hautmann, Karl Marx – Friedrich Engels. Ein Vademekum über ihr Leben und Werk = Alfred Klahr Gesellschaft. Quellen & Studien, Sonderband 1, Wien 2001
14/ Über ihn hat Knepler ebenfalls eine grundlegende Studie verfasst: Georg Knepler, Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen, Berlin 1991 (als Fischer-Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1993)
15/ Warum, wird von mir in der genannten Sonderband 1-Veröffentlichung auf den Seiten 152 bis 155 erklärt.
16/ Georg Knepler, Macht ohne Herrschaft. Die Realisierung einer Möglichkeit, Vorabdruck, Berlin, Herbst 2002, S. 1f.
17/ Ebenda, S. 42f.
18/ Ebenda, S. 102

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 2/2003

 

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