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Hans Hautmann: Die Bedeutung des verstaatlichten Wirtschaftssektors für die
Entwicklung der 2. Republik
Als erster Referent unseres Symposiums habe ich die Aufgabe übernommen, in
allgemeiner Form in das Thema einzuführen. Der Überblick, den ich biete,
konzentriert sich auf vier große Fragengebiete: 1) Was waren die Gründe für die
umfangreiche Verstaatlichung in Österreich nach 1945? 2) Wie sahen die
verschiedenen Etappen des verstaatlichten Wirtschaftssektors von 1946 bis heute
aus und welche Merkmale kennzeichneten sie? 3) Wie kämpfte die österreichische
Bourgeoisie und das Auslandskapital gegen sie, und welche Methoden wurden dabei
angewandt? Und 4) Was waren die Stärken und Schwächen der verstaatlichten
Industrie, worin bestand ihr Positivsaldo für die soziale Entwicklung in der 2.
Republik und wo lagen ihre strukturellen Unzulänglichkeiten, an denen
schlussendlich der Hebel angesetzt werden konnte für den radikalen Rückbau des
staatlichen Eigentumsbereichs auf die gegenwärtigen kümmerlichen Reste?
Das alles sich vor Augen zu führen ist lehrreich, nicht nur aus historischem
Interesse an unserer Vergangenheit, sondern auch und primär als Erfahrungs- und
Erkenntnisgewinn für die ökonomischen und politischen Fragen der Gegenwart und
Zukunft aus der Sicht der arbeitenden Menschen. Gerade das hatten wir von der
Alfred Klahr Gesellschaft gemeinsam mit dem KPÖ-Bildungsverein Steiermark im
Sinn, als wir die heutige Veranstaltung hier in Leoben planten und
organisatorisch vorbereiteten.
Es ist gleichermaßen auffällig wie symptomatisch, dass wir die Einzigen sind,
die dazu eine Initiative setzen. Schon während des – hochtrabend als
„Gedankenjahr“ titulierten – staatsoffiziellen Rummels von 2005 hat man dies und
das gewürdigt und groß in den Vordergrund gerückt, nur nicht die eminente
Bedeutung, die dem verstaatlichten Wirtschaftssektor in der 2. Republik zukam.
Man sollte meinen, dass wenigstens zum 60. Jahrestag des ersten
Verstaatlichungsgesetzes vom 26. Juli 1946 dieses Versäumnis gerade von jenen
wieder gutgemacht wird, denen die „Gemeinwirtschaft“ stets ein Kernpunkt ihrer
Programmatik war, von der SPÖ, vom ÖGB, von den Kammern für Arbeiter und
Angestellte. Aber auch hier weit gefehlt. Was anderes ist das als der Ausdruck
dessen, dass sich die Sozialdemokratie der Offensive des Großkapitals gegen das
öffentliche Eigentum längst unterworfen hat, ja nicht einmal an diese Tradition
ihrer eigenen Vergangenheit erinnert werden möchte?
Ursachen
Beginnen wir mit der Frage nach den Ursachen für die – verglichen mit anderen
kapitalistischen Ländern – in Inhalt und Umfang einzig dastehende, weil derart
weit ausgreifende Verstaatlichungsaktion in Österreich nach 1945.
Die erste Ursache und überhaupt die fundamentale Voraussetzung war die
allgemeine politische Situation des Jahres 1945 nach dem Sieg über den
Faschismus, der Aufstieg der Sowjetunion zu einer Weltmacht, die sprunghafte
Stärkung des Einflusses der kommunistischen Parteien und damit auch der
Arbeiterbewegung und des Ideenguts des Sozialismus insgesamt. So wie 1918/19 in
Deutschland und Österreich die Sozialisierungsforderungen der Arbeiterschaft
undenkbar waren ohne den Einfluss der russischen Oktoberrevolution und das
Vorbild der dort vollzogenen Maßnahmen, so undenkbar waren 1945 die
Verstaatlichungsforderungen der europäischen Arbeiterbewegung ohne die
politischen Veränderungen in der Weltarena zugunsten des Sozialismus.
Die zweite Ursache war ebenfalls allgemeiner Art und in allen europäischen
Ländern bemerkbar, in denen der Faschismus geherrscht hatte: Der Zusammenhang
zwischen Kapitalismus und Faschismus, die Tatsache, dass das Monopolkapital und
die Großbanken den Faschismus gefördert und ihn an die Macht gebracht hatten,
die Erkenntnis, dass sich dadurch der Kapitalismus krass und deutlich wie kaum
zuvor als Feind der Arbeiterklasse gezeigt hatte. Die Forderung nach Bestrafung
der Schuldigen, auch in der Weise, dass man deren Unternehmungen enteignete und
verstaatlichte, war 1945 ein wesentlicher Faktor, der sich z.B. in Frankreich in
der Nationalisierung der Renault-Automobilwerke niederschlug, deren Besitzer zu
den übelsten Kollaborateuren mit den deutschen Besatzern gehört hatte.1
Diese allgemeine Erfahrung bekam in Österreich eine spezifische Dimension, die
als dritte Ursache gekennzeichnet werden kann: Das Faktum, dass das deutsche
Auslandskapital in der 1. Republik einen übermäßigen und unheilvollen Einfluss
auf die Wirtschaft und Politik ausgeübt hatte. Das größte Unternehmen der
damaligen österreichischen Schwerindustrie, die Alpine-Montan, war seit 1926 in
deutscher Hand und entpuppte sich nicht nur als aggressivster Flügel, als
Speerspitze der Kapitalisten gegen die Positionen der Arbeiterbewegung, sondern
auch als Schaltzentrale, von der hochverräterische Machenschaften gegen
Österreich mit dem Ziel der Einverleibung in das Deutsche Reich ausgingen. Das
Streben nach Beseitigung der Machtpositionen des deutschen Auslandskapitals
durch Nationalisierung hatte deshalb 1945 quer durch die politischen Kräfte in
Österreich einen breiten Konsens, bis hinein in die ÖVP, die als Sprecherin der
österreichischen Bourgeoisie darauf abzielte, durch Verstaatlichung den Druck
der Konkurrenz des deutschen Kapitals abzuschwächen und für sich selbst in
Zukunft Nutzen aus der Nationalisierung der früheren deutschen Unternehmen zu
ziehen.2
Mit dem deutschen Eigentum ist auch die vierte Ursache für die so umfangreiche
Verstaatlichungsaktion in Österreich verbunden, jedoch in anderer Weise, mit
einer anderen, nämlich antisowjetischen Schlagseite. Es wären gewiss nicht so
viele Unternehmen und Betriebe auf der Verstaatlichungsliste zu finden gewesen,
wenn nicht die Sowjetunion aufgrund der Potsdamer Beschlüsse Anspruch auf die
Beschlagnahme des ehemaligen deutschen Eigentums in ihrer Besatzungszone erhoben
hätte. Dieses dort befindliche ehemals deutsche Eigentum umfasste nicht nur eine
Reihe stattlicher Großbetriebe, sondern auch so gut wie das ganze Erdöl. Mit der
Verstaatlichung fast aller wichtigen Unternehmen in Ost-Österreich, die die
Sowjetunion in Erfüllung des Potsdamer Abkommens beanspruchte, wollte man sich
eine propagandistisch wirksame Basis verschaffen, um sich selbst als Wahrer der
nationalen österreichischen Interessen gegen die – wie man durchklingen ließ –
großmachtimperialistische Vorgangsweise der Sowjetunion darzustellen. Die
SPÖ-Führung ging sogar so weit, die Sowjetunion zu beschuldigen, dass sie damit
den Aufbau des Sozialismus in Österreich verhindere. Das alles geschah, obwohl
man österreichischerseits genau wusste, dass deren Ansprüche rechtens waren und
der Potsdamer Beschluss den Zweck hatte, der Sowjetunion eine gewisse
Entschädigung für die riesigen Zerstörungen und barbarischen Verwüstungen zu
geben, die Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg dort angerichtet hatte. Das
Moment der antisowjetischen Stoßrichtung hat daher für die ÖVP und SPÖ bei der
Beschlussfassung über die Verstaatlichung und deren Umfang eine bedeutende Rolle
gespielt.
Als fünfte Ursache ist anzuführen, dass sich die meisten österreichischen
Industriebetriebe nach Kriegsende in einen desolaten Zustand befanden und nur
mit Staatshilfe wieder aufgebaut werden konnten. Die dafür notwendigen großen
Mittel waren aber nur dann zu mobilisieren, wenn es sich um verstaatlichte
Betriebe handelte. Die Zerstörungen beispielsweise der Hermann-Göring-Werke und
Stickstoffwerke in Linz, der Böhlerwerke in Kapfenberg, der Schmidhütte Krems
u.a. waren derart, dass man damals ernsthaft erwog, sie überhaupt zu schleifen.3
Außerdem hielt man sie für deutsche Rüstungs- und Kriegszwecke zugeschnitten und
in der Größe für österreichische Bedürfnisse weit überdimensioniert. In dieser
Situation übernahm die Arbeiterschaft auf eigene Faust die Initiative und begann
unter schwierigsten Bedingungen, ohne ausreichende Ernährung und ohne den
Rückhalt eines geordneten Wirtschaftsablaufs unmittelbar nach dem Ende der
Kampfhandlungen mit den Instandsetzungs- und Wiederaufbauarbeiten. In keinem der
damaligen Verstaatlichungsappelle der Gewerkschaften fehlte deshalb die Berufung
auf diese Leistung, die noch dazu in aller Regel ohne die Mitwirkung der
ehemaligen Unternehmungsleitungen zustande gekommen war. Man sagte, dass die
Arbeiter und Arbeiterinnen es nie verstehen würden, wenn die von ihnen wieder
aufgebauten Betriebe erneut in private Hand zurückfallen und sprach sogar vom
Recht der Arbeitenden auf ihre Betriebe, das sie sich durch die Instandsetzung
erworben hätten.4
Die sechste Ursache lag im Streben, durch Verstaatlichung der Krisenanfälligkeit
der kapitalistischen Wirtschaft zu begegnen. Im Motivenbericht zum 1.
Verstaatlichungsgesetz von 1946, erstellt von den Fraktionen der SPÖ und ÖVP
ohne Beteiligung der Kommunisten, hieß es dazu:
„Die Übereignung von bestimmten Unternehmungen an den Staat findet seine
sachliche Begründung darin, dass diese Wirtschaftszweige vielfach einer sehr
tief greifenden Reorganisation und umfassenden Planung unterzogen werden müssen,
um ihre in der Vergangenheit so verhängnisvolle Krisenempfindlichkeit zu
überwinden. Diese Aufgabe kann nur in einer Reihe von Maßnahmen bewältigt
werden, die im Rahmen der Privatwirtschaft nicht bewältigt werden können. Der
vorliegende Gesetzentwurf stellt so den ersten, bedeutsamen Schritt zur
Schaffung einer gesunden, krisenfreien Wirtschaftsverfassung dar, die
Vollbeschäftigung gewährleistet. Es gliedert somit auch Österreich in die
allgemeine, in Europa sich vollziehende Entwicklung ein.“5
Hier ist also von „Planung“, von „krisenfreier Wirtschaft“, von
„Vollbeschäftigung“ die Rede, Begriffe, die gewiss nicht von der ÖVP in den Text
hineinreklamiert wurden. Sie verdeutlichen, dass 1945/46 weit über die
kommunistische Anhängerschaft hinaus die gesamte Arbeiterklasse und große Teile
der SPÖ von einer tief greifenden antikapitalistischen Haltung erfasst waren.
Diese Stimmung drückte der damalige Wiener Vizebürgermeister Paul Speiser aus,
als er auf dem SP-Parteitag 1946 erklärte:
„Nur Blinde und solche, die absichtlich blind sein wollen, können es nicht
sehen, dass die Zeit der bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaft (...) in Europa
vorbei ist. Dieses privatwirtschaftliche, dieses kapitalistische System hat
versagt. Das Menschengeschlecht verdankt ihm hundertjähriges Elend, Hunger, Not
und Unsicherheit des Lebens. Zum Schluss verdankt ihm das Menschengeschlecht auf
der ganzen Erde zwei kriegerische mordende Weltkatastrophen. Dieses System muss
weg!“6
So viel zu den Ursachen für die ungewöhnlich umfangreiche Verstaatlichungsaktion
in Österreich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Ergebnis
Wie hat nun das Ergebnis ausgesehen? Die 70 auf der Liste der verstaatlichten
Unternehmen stehenden Firmen hatten folgende volkswirtschaftliche Dimensionen:
Verstaatlicht wurden
99 % der Eisenerz-Förderung
99 % der Roheisen-Produktion
95 % der Rohstahl-Produktion
100 % der Kupfer- und Bleizinkerz-Förderung
69 % der Aluminium-Produktion
93 % der Erdöl-Förderung
99 % der Erdgas-Förderung
85 % der Steinkohlen-Förderung
96 % der Braunkohlen-Förderung
85 % der Elektrizitäts-Erzeugung
90 % der Walzwarenerzeugung7
46 % der Elektroindustrie8
31 % der Maschinen- und Stahlbauindustrie9
Diese imponierenden Zahlen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass
wesentliche Forderungen der Arbeiterbewegung unberücksichtigt blieben, nämlich
die nach Einbeziehung der Automobilindustrie, Baustoffindustrie, Textilindustrie
und Nahrungsmittelindustrie, hier insbesondere der Zuckerindustrie. Diese
Sparten mit ihren damals überlebenswichtigen Produkten zu verstaatlichen stieß
auf heftigen Widerstand der ÖVP, weil in der Konsumgüterindustrie die
mächtigsten heimischen Kapitalgruppen der Nachkriegszeit engagiert waren: die
Schoellergruppe, deren Imperium von der Zucker-, Mehl- und Brotherstellung zur
Textil- und Zementindustrie reichte; Mautner-Markhof (Lebensmittel-,
Getränkeindustrie), Mayr-Melnhof (Holzindustrie) und die Vorarlberger
Textilfamilien Rhomberg, Hämmerle und Ganahl.10
Mit einem Wort: die weiterverarbeitende und Finalindustrie wurde fast zur Gänze
ausgeklammert, und wenn ja, dann waren es solche Betriebe, die als ehemaliges
deutsches Eigentum in der sowjetischen Besatzungszone lagen – aus eben dem
politischen Kalkül, das ich vorhin beschrieben habe.
Aber auch bei der Grundstoffindustrie blieb man inkonsequent. Hier hat man die
hochwertige Magnesitindustrie, deren Stellenwert sich daran ermessen lässt, dass
in den 1960er Jahren ein Viertel der gesamten Weltproduktion an Magnesit in
Österreich erzeugt wurde, von der Verstaatlichung ausgenommen, weil sie sich vor
dem Krieg in amerikanischen und französischen Händen befunden hatte und diese
beiden Besatzungsmächte gegen deren Verstaatlichung intervenierten.11
Ein anderes Beispiel aus dem Grundstoffbereich ist der Graphitbergbau, der
ursprünglich auf der Liste der zu verstaatlichenden Unternehmen sehr wohl zu
finden war. Auch er hatte mit 15 % der Weltproduktion in den 1960er Jahren eine
beträchtliche Dimension. Angeblich vergaß man, wie einer der damaligen
Verhandler der SPÖ, Dr. Alfred Migsch, beteuerte, die Graphitförderung im
Verlauf der Diskussionen über die zahlreichen Abänderungsanträge zum
Gesetzentwurf und bemerkte nicht, dass sie aus der Vorlage verschwunden war, die
dann vom Nationalrat beschlossen wurde. Das kann man glauben oder nicht. Für das
Zweite spricht, dass der Graphitbergbau mit seinen ergiebigsten Lagerstätten in
der Steiermark zum Familienkonzern der Mayr-Melnhofs gehörte.12
Trotzdem kann man behaupten, dass durch das Verstaatlichungsgesetz von 1946 die
wirtschaftliche und soziale Struktur Österreichs im Vergleich zur 1. Republik
entscheidend zum Guten hin geändert wurde. Auch dazu einige Ziffern:
Im Jahr 1953 gehörten dem Bund Aktiengesellschaften mit 42,6 % des gesamten
Aktiengesellschaftskapitals, anderen Körperschaften der öffentlichen Hand
(Ländern und Gemeinden) 15,2 % und den drei verstaatlichten Banken 10,5 %. 68 %,
also mehr als zwei Drittel des Gesellschaftskapitals der österreichischen
Unternehmen in AG-Form, waren im Besitz der öffentlichen Hand.13
Was die Produktion anlangt, ist in den 1960er Jahren auf diese so genannte
Gemeinwirtschaft etwa ein Drittel der gesamten österreichischen
Industrieproduktion entfallen.14
Die verstaatlichten Betriebe haben damals Güter zu einem Betrag exportiert, der
über ein Viertel der österreichischen Gesamtausfuhr ausmachte.15
Die Produktion der verstaatlichten Betriebe konnte durch Planung und
Investitionen aus ERP-Mitteln stark vermehrt werden. Es stieg von 1946 bis 1959:
Die Eisenerz-Förderung auf das 6fache; die Roheisen-Produktion auf das 22fache;
die Rohstahl-Produktion auf das 3,6fache; die Walzwaren-Produktion auf das
9,1fache; die Kohlen-Förderung auf das 2,5fache; die Strom-Erzeugung auf das
3,9fache.16
In der verstaatlichten Industrie waren 1957 ungefähr 125.000 Arbeiter und
Arbeiterinnen sowie Angestellte beschäftigt. Nimmt man den Staatsapparat, andere
Bundesbetriebe wie Eisenbahn, Post usw. und die Landes- und Gemeindebetriebe
hinzu, so kommt man auf eine Zahl von mehr als einer halben Million. Rechnet man
die schätzungsweise150.000 Arbeiter und Angestellten der Konzernbetriebe der
verstaatlichten Banken hinzu, dann heißt das, dass von den damals 2,2 Millionen
in Österreich Beschäftigten fast 30 % in Betrieben und Unternehmungen
arbeiteten, die mit dem Staat in Zusammenhang standen.17
Die verstaatlichte Industrie benötigte bis 1979 keine Zuschüsse oder Hilfen
ihres Eigentümers, der Republik Österreich; sie führte ihr im Gegenteil
beträchtliche Einnahmen zu: von 1970 bis 1981 112 Milliarden Schilling an
Steuern und weitere 4 Milliarden an Dividenden.18
Entwicklung
Wie entwickelte sich nun die verstaatlichte Industrie in der 2. Republik? Wie
sahen die wesentlichen Etappen aus?
Die ersten drei Jahre stand ein ÖVP-Minister, Peter Krauland, der
Verstaatlichten vor, der alles andere als zu den Sympathisanten von ihr zählte,
jedoch aus Gründen des allgemeinen politischen Kräfteverhältnisses keine
Möglichkeit vorfand, gegen sie Quertreibereien in Gang zu setzen. Es war das die
Periode des Wiederaufbaus der zerstörten Betriebe, gekennzeichnet durch ein
vorerst noch verhältnismäßig langsames Wachstumstempo der österreichischen
Wirtschaft. Erst 1949 hat die Produktion in Österreich das Vorkriegsniveau von
1937 erreicht.19
Die nächste Periode, die 1950er, 1960er und frühen 1970er Jahre, waren dann aber
die Zeit noch nie da gewesener hoher Zuwachsraten, in der Österreich von einem
Platz unter den schwächer entwickelten Industriestaaten zu einem unter den zehn
höchstentwickelten in der Welt aufstieg.20 Begriffe wie Vollbeschäftigung,
kontinuierliches Wirtschaftswachstum, steigende Reallöhne und Verbesserung der
materiellen wie sozialen Lage der arbeitenden Menschen waren damals Realität.
Diese Erscheinungen resultierten in erster Linie aus der besonders dynamischen
Rolle der verstaatlichten Industrie und der Investitionstätigkeit der
öffentlichen Hand. Der Großteil der zweiten Ära ist verbunden mit dem Namen des
SPÖ-Ministers Karl Waldbrunner, der nicht nur in bestimmten Bereichen der
Verstaatlichten planerische Elemente einführte und massiv die Marshallplan- und
ERP-Gelder für Investitionen in der verstaatlichten Industrie einsetzte, sondern
auch sozialpolitisch initiativ wurde. Dazu zählten Maßnahmen wie die
betriebliche Zuschussrente, der Wohnbau für die Belegschaften, zahlreiche
freiwillige Sozialleistungen und die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte.
Darüber hinaus wurde unter Waldbrunners Ministerschaft im Jahr 1953 – erstmals
in der österreichischen Wirtschaftsgeschichte – für die verstaatlichte Industrie
der Grundsatz formuliert, dass bei konjunkturellen Schwierigkeiten das Ziel der
Arbeitsplatzsicherung Vorrang haben sollte.21 Ein enger Mitarbeiter Waldbrunners
im Ministerium, Rupert Zimmermann, schätzte damals die Wirkung dieser Maßnahmen
richtigerweise so ein: „Die entscheidende Tat lag aber nicht darin, dass für den
eigenen Bereich Verbesserungen erreicht wurden, sondern dass die Kraft der
Beispielwirkung auf das gesamte soziale Leben der Republik einwirkte. Wenn auch
widerwillig, aber durch die Macht der Tatsachen gezwungen, glich sich die übrige
Wirtschaft an soziale Errungenschaften der verstaatlichten Industrie an.“22
Andererseits darf man aber nicht außer Acht lassen, dass in der Ära Waldbrunner
der Einfluss der ÖVP, und damit der österreichischen Bourgeoisie, auf die
Verstaatlichte ungebrochen stark blieb durch die fortlaufende Bestätigung der
proporzmäßigen Aufteilung der Leitungsorgane, dass er es war, der das „duale
Preissystem“ einführte, durch das sich die Privatindustrie deutliche
Preisvorteile bei den von der Verstaatlichten bezogenen Produkten und
Grundstoffen verschaffte und damit die verstaatlichte Industrie zum Motor eines
kapitalistischen Wiederaufbaus wurde.23 Mehr noch: Unter ihm kam es zur
Einbettung der verstaatlichten Industrie in die Mechanismen der
Sozialpartnerschaft. Die Verstaatlichte selbst wurde zu einem materiellen
Ausdruck der Klassenzusammenarbeit und erfüllte eine wichtige ideologische
Funktion, nämlich die Versöhnung breiter Schichten der Arbeiterschaft mit der
fortdauernden Existenz der privatkapitalistischen Strukturen. Mit seinen
sozialpolitischen Errungenschaften diente der verstaatlichte Sektor geradezu als
schlagender Beweis für die Berechtigung und den Nutzen sozialpartnerschaftlicher
Zusammenarbeit, was tiefe, bis heute nicht überwundene Wirkungen im Bewusstsein
der arbeitenden Menschen hinterließ.
Obwohl in den 1960er Jahren mehrere Umstrukturierungen bei der Verwaltung der
verstaatlichten Industrie stattfanden und in der Zeit der ÖVP-Alleinregierung
der Einfluss des Privatkapitals auf die Verstaatlichte wuchs, blieb deren
wirtschaftliche Entwicklung bis zur Mitte der 1970er Jahre noch im Großen und
Ganzen gesund. Auch die am Anfang der Kreisky-Ära vorgenommene Umgruppierung der
Verstaatlichten in mehrere Großkonzerne wie die Fusionierung von VÖEST und
Alpine, die Buntmetall- und die Edelstahlfusion der Jahre 1973 bis 1975, waren
aus ökonomischer Sicht sicherlich sinnvoll.24
Die große Wende zum Schlechten hin erfolgte aber schon kurz danach, einerseits
aus Gründen, die weltwirtschaftlich bedingt waren, andererseits aus Gründen, die
eine Mischung von eigenen Fehlern und Versäumnissen mit immer energischer
werdenden Angriffen des österreichischen Privatkapitals gegen den
verstaatlichten Sektor darstellten. Ein wichtiges Moment war hier das
ÖIAG-Gesetz von 1970, dessen inhaltlicher Kern darin bestand, dass die ÖIAG die
Eigentumsrechte der Republik Österreich nicht mehr treuhändisch verwaltete,
sondern ihr diese Eigentumsrechte direkt übertragen wurden. Damit wurde der
jahrzehntelange Wunsch der Gegner der Verstaatlichten verwirklicht, den direkten
staatlichen Einfluss möglichst zurückzudrängen und die parlamentarischen
Kontrollrechte über die verstaatlichte Industrie einzuschränken. Kreisky hat
diese gravierende Veränderung, eine der letzten Maßnahmen der Regierung Klaus,
nicht rückgängig gemacht.25
Die von außen kommende Ursache des ab der Mitte der 1970er Jahre beginnenden
Abstiegs der Verstaatlichten war die weltweite Krise der Grundstoffindustrie,
vor allem der Stahlbranche mit ihren immer problematischer werdenden
Überkapazitäten.26 Man hat es verabsäumt, die Fusionierungen der Jahre 1973 bis
1975 durch Kapitalaufstockungen abzusichern, was zur Folge hatte, dass die
verstaatlichte Stahlindustrie für die Finanzierung ihrer Tätigkeit auf die
teuren internationalen Kapitalmärkte ausweichen musste, was bald hohe
Verschuldungsraten nach sich zog.27 Vom Eigentümer ÖIAG nicht oder nur minimal
gestützt, während die wichtigsten Stahlkonkurrenten in der Europäischen
Gemeinschaft von ihren Regierungen in der Krise hoch subventioniert wurden,
schlitterte das Prunkstück der verstaatlichten Industrie, die Vöest-Alpine, in
das Debakel von 1985/86.
Eine Schlüsselrolle spielte dabei das Scheitern des Versuchs, aus der
Vöest-Alpine einen international tätigen Konglomerat-Konzern zu machen, und als
letzter Auslöser die katastrophal endenden Erdölspekulationen der Vöest-Tochter
„Intertrading“.28 Schon vorher war aus dem verstaatlichten Sektor als dem
wichtigsten Instrument staatlicher Vollbeschäftigungspolitik ein Motor der
Arbeitsplatzvernichtung geworden. So gingen im ÖIAG-Konzern von 1980 bis 1984
knapp 12,5 % der Arbeitsplätze verloren.29 Gleichzeitig fand im Zuge diverser
Sanierungsstrategien eine Demontage der Sozialleistungen statt, die von der
Kürzung innerbetrieblich vereinbarter Sonderleistungen bis zum teilweisen
Wegfall von Erfolg- und Produktionsprämien, die im Laufe der Jahre zu
Lohnbestandteilen geworden waren, reichte.
Der „Quasi-Konkurs“ der Vöest-Alpine und damit auch der ÖIAG im Jahr 1986 führte
dazu, dass von zwei bisher unantastbaren Prinzipien Abschied genommen wurde: 1)
vom Prinzip, dass die verstaatlichte Industrie ein Unternehmen besonderer Art
sei und sich von der übrigen Industrie darin unterscheide, dass sie neben
betriebswirtschaftlichen auch volkswirtschaftliche Interessen für das Wohl
Österreichs insgesamt wahrzunehmen habe, und 2) vom Prinzip des unmittelbaren
Einflusses der politischen Parteien auf die Besetzung der Vorstände und
Aufsichtsräte in der verstaatlichten Industrie.30
Das war aber noch nicht alles. Noch entscheidender war, dass durch das
Vöest-Alpine-Debakel von 1985/86 eine fundamentale Wende in der Haltung zur
Verstaatlichten eintrat. Nicht nur die ÖVP erklärte von da an die völlige
Privatisierung der Gemeinwirtschaft zum vorrangigen politischen Ziel, auch die –
immer noch die Regierung führende – SPÖ hörte schlagartig auf, die
Verstaatlichung zu verteidigen. Von da an wurden auch Bereiche, die in
Österreich vorher nie privat geführt worden waren, wie Eisenbahn, Post und
Telefon in die Privatisierungspläne mit einbezogen.31
Begleitet war das mit wüsten Attacken der bürgerlichen Medien gegen die
Verstaatlichte, deren Beschäftigte als „Privilegienritter“ und „Schmarotzer“
diffamiert wurden. Sie, ohne Zweifel der bewussteste Teil der österreichischen
Arbeiterbewegung, beantworteten diese Sudelkampagne am 16. Jänner 1986 in Linz
und Leoben mit Massendemonstrationen, die sich gegen verantwortungslose Manager,
gegen die Privatisierungspläne des bürgerlichen Lagers richteten und sich für
die Erhaltung des verstaatlichten Wirtschaftssektors aussprachen. Wieder einmal
gelang es aber der SPÖ- und Gewerkschaftsführung, den berechtigten Unmut der
Betroffenen zu kanalisieren und im Sand verlaufen zu lassen.
Die Krise von 1985/86 war der zentrale Scheitelpunkt in der Entwicklung des
verstaatlichten Wirtschaftssektors der 2. Republik. Von nun an ging es
unaufhaltsam bergab in die Niederungen der Reprivatisierung.
Bourgeoisie und Verstaatlichte
Ich habe bisher schon einiges davon angedeutet, in welcher Weise das
österreichische Privatkapital gegen die Verstaatlichte agierte. Auch hier kann
man verschiedene Etappen konstatieren. Der erste Versuch endete jedenfalls mit
einem vollkommenen Fehlschlag. Gemeint ist das „Werksgenossenschaftsgesetz“, das
auf Verlangen der ÖVP am selben Tag wie das 1. Verstaatlichungsgesetz, also
1946, beschlossen wurde, aber nie zur Umsetzung kam. Ich erwähne es, weil zu
seiner Begründung kuriose und heute geradezu erheiternd anmutende Argumente aus
ÖVP-Mund zu hören waren. Durch das Werksgenossenschaftsgesetz sollte im Bereich
der Verstaatlichten so etwas wie eine Teilhaberschaft der dort Beschäftigten am
Betriebskapital eingeführt werden. Warum? Weil nach Auffassung der ÖVP, speziell
ihres Arbeitnehmerflügels ÖAAB, eine Verstaatlichung „nichts am
Abhängigkeitsverhältnis des Arbeiters gegenüber dem Kapital ändere“. Diametral
dazu wolle man die „Rehabilitierung des Arbeiters als Person im Arbeitsprozess“
erreichen und ihn aus dem unpersönlichen Abhängigkeitsverhältnis als
„Lohnsklave“ herausführen. So wörtlich damals in Artikeln im „Kleinen
Volksblatt“ zu lesen.32 Von „Lohnsklaven“ ist hier also die Rede. Heute erheben
dieselben Leute die „Lohnsklaven“ von 1946 taxfrei in den Rang von
„Mitarbeitern“. Vom „Lohnsklaven“ zum „Mitarbeiter“ – so könnte man den
glänzenden Aufstieg der Mehrwertschaffenden im Kapitalismus auch beschreiben.
Der zweite Versuch mit ähnlicher Stoßrichtung geriet etwas erfolgreicher, ohne
jedoch noch eine wirkliche Bresche in den verstaatlichten Bereich zu schlagen.
Er ging vom ÖVP-Finanzminister Kamitz unter dem Motto „Volkskapitalismus“ aus.
Dieser ideale Gesellschaftszustand, in dem es nur noch Generäle und kein
gemeines Soldatenfußvolk mehr gibt, sollte durch die Emission von „Volksaktien“
herbeigeführt werden, von Aktien mit niedrigem Nennwert, die – so behauptete man
– vom „kleinen Mann auf der Straße“, vom Arbeiter, Geschäftsmann, von der
Hausfrau und so weiter gekauft werden würden. Auf diese Weise würde das Volk und
nicht mehr der Staat der Eigentümer der verstaatlichten Unternehmungen werden.
Die SPÖ, die bei den Wahlen von 1956 Stimmen und Mandate verlor, erklärte sich
daraufhin mit dem Verkauf von 40 % des Aktienkapitals der verstaatlichten Banken
einverstanden. Die Aktien wurden zu einem nur wenig über den Nennwert liegenden
Preis verkauft. In den folgenden Monaten schnellte ihr Kurs auf ein Vielfaches
seines ursprünglichen Emissionswertes hinauf. Eine Handvoll Spekulanten konnte
sich so auf Kosten der Allgemeinheit bereichern.33
Danach besann man sich aber auf ein wirkungsvolleres Mittel, nämlich den Kampf
gegen die Verstaatlichte von innen her zu führen, mit dem Hebel der proporzmäßig
besetzten Leitungsfunktionen in den Vorständen und Aufsichtsräten.
Schon in den 1960er Jahren bedeutete die „paritätische Zusammensetzung“ der
Geschäftsführungen in den verstaatlichten Unternehmen nicht nur, dass es einen
hohen Anteil an Personen in den Direktionen und Aufsichtsräten gab, die
politisch das bürgerliche Lager repräsentierten, sondern auch, dass die
Anteilsquote von Vertrauensleuten der Privatwirtschaft unvermutet hoch war. So
saßen zu dieser Zeit bereits die Manager des größten privaten Bankhauses,
Schoeller & Co., in den Aufsichtsräten folgender verstaatlichter Unternehmungen:
Creditanstalt-Bankverein, Gebr. Böhler AG, Elin-Union, Linzer Stickstoffwerke,
Österreichische Mineralölverwaltung (ÖMV), Siemens-Schuckert GmbH; Manfred
Mautner-Markhof war Aufsichtsratsvorsitzender bei Siemens-Schuckert und
-stellvertreter bei Siemens-Halske.34
Ein krasses Beispiel für die Unterminierung des verstaatlichten Sektors in
privatwirtschaftlichem Interesse war die systematische Niederwirtschaftung der
verstaatlichten Landmaschinenfabrik Hofherr-Schrantz, eines ehemaligen
USIA-Betriebes, in der Ära der Leitung der IBV (einer Vorläuferin der ÖIAG)
durch Dr. Hans Igler in den Jahren 1956 bis 1959. Igler war Vertrauensmann der
Familie Schoeller, einer der mächtigsten österreichischen Kapitalistengruppen,
die unter anderem die Generalvertretung für den Import von Traktoren und
Mähdreschern des US-amerikanischen Konzerns Massey-Ferguson hatte. Igler
verweigerte Hofherr-Schrantz die nötigen Kredite zur Ausdehnung der Produktion
und erwirkte so, dass der Marktanteil dieses Betriebs beim Traktorenverkauf in
Österreich binnen zehn Jahren von 25 % auf 0,8 % absackte, während er bei den
Massey-Ferguson-Traktoren im selben Zeitraum von 31 % auf 64 % stieg. Damit war
der Grundstein für das spätere Aus von Hofherr-Schrantz gelegt.35
Ähnliches spielte sich im Verhältnis zwischen den beiden verstaatlichten
Elektrounternehmen Siemens und Elin ab. Siemens-Österreich, vom westdeutschen
Monopolgiganten Siemens als Sachwalter seiner Interessen im Nachbarland
instrumentalisiert, nötigte Elin in einem Vertrag aus dem Jahr 1967 dazu, auf
den zukunftsträchtigen Sektor der Nachrichten- und Kommunikationstechnik
zugunsten Siemens zu verzichten und sich auf die eher stagnierende
Starkstromtechnik zu beschränken. Auf diese Weise ordnete sich Siemens – und
damit auch der BRD-Großkonzern Siemens – Elin unter und verwies diese
traditionsreiche österreichische Firma in die zweite Reihe, weg von der
Hochtechnologie der Elektronik.36
Ein letztes Beispiel dazu ist die Verhinderung des österreichischen Versuchs
Mitte der 70er Jahre, im Rahmen der verstaatlichten Industrie eine heimische
Automobilproduktion aufzubauen, der so genannte Austro-Porsche-Plan. Dieses
Projekt scheiterte am Widerstand des VW-Konzerns und der Familie Porsche;
stattdessen wurde der Ausbau der Zulieferindustrie (insbesondere zu VW)
forciert. Der Zufall wollte es, dass der damalige VW-Einkaufschef, Horst Münzner,
der Österreich als einen „interessanten Markt“ bezeichnete, „weil hier kein
eigener Automobilhersteller existiert, der bevorzugt wird“ – so das wörtliche
Zitat aus einer Rede von ihm im Jahr 1986 – nur kurze Zeit später
stellvertretender Vorsitzender des ÖIAG-Aufsichtsrates wurde.37 In dieser
Funktion trug er entscheidend dazu bei, dass im Gefolge der Vöest-Alpine-Krise
Herbert Lewinsky, vorher Direktor der deutschen Mobil-Oil, zum Generaldirektor
der Vöest und Ludwig von Bogdandy, vorher Direktor der Klöckner-Werke, des
drittgrößten Stahlkonzerns der BRD, zum neuen Hüttenchef der Vöest ernannt
wurde.38 Mit der Einschleusung dieser Repräsentanten des deutschen Großkapitals
hat man die verstaatlichte Industrie direkt in die Sanierungskonzepte der
Stahlmonopole der Europäischen Gemeinschaft eingebunden, mit welchen Resultaten
für die Vöest-Arbeiter und -Angestellten, die scharenweise abgebaut oder in
Frühpension geschickt wurden, ist gut bekannt.
Die Hauptmethode des Kampfes gegen die Verstaatlichte vor jenem Zeitpunkt, als
infolge der Vöest-Alpine-Krise 1985/86 die Dämme gegen die Reprivatisierung
endgültig barsten, bestand aber im de facto-Verbot, aus der Begrenzung auf die
Grundstoffgewinnung und -produktion auszubrechen. Alle Präsidenten der
Industriellenvereinigung und ÖVP-Politiker der 50er, 60er und 70er Jahre waren
sich einig, dass einem Vordringen der verstaatlichten Betriebe in die
Finalproduktion entschieden entgegengetreten werden müsse.39
Dazu nur eine kleine Blütenlese. Punkt 4 des Forderungsprogramms des
Wirtschaftsbundes der ÖVP: „Verhütung eines weiteren Machtzuwachses des
Staatskapitalismus. (!) Setzung eindeutiger Grenzen der Betätigung der
verstaatlichten Betriebe.“40
Der Präsident der Industriellenvereinigung Dr. Franz Josef Mayr-Gunthof: „Ein
weiteres Vordringen der verstaatlichten Betriebe in die Finalproduktion muss
unter allen Umständen abgelehnt werden. Die verstaatlichten Unternehmen sollen
sich auf ihr ursprüngliches Fertigungsprogramm beschränken.“41
Handelsminister Dr. Fritz Bock vor der Vollversammlung der
Industriellenvereinigung im April 1961: „Die Verstaatlichung des Jahres 1945
(sic) war nicht zu vermeiden, und es gibt auch gegenwärtig keine praktische
Möglichkeit, dieses System wieder abzuschaffen (...) Welche Konsequenzen ergeben
sich aus dieser nüchternen Darstellung? Doch nur die, dass wir jenes in den
Jahren 1945 und 1946 unvermeidliche Ausmaß der Verstaatlichung österreichischer
Wirtschaftszweige als ein nicht übersteigbares Maximum ansehen müssen (...) Was
also muss geschehen? Die Antwort ist einfach genug, die verstaatlichte
Wirtschaft muss auf die Grundstoffindustrie beschränkt bleiben. Die
Ausweitungsversuche in die Finalfertigung sind zu unterbinden. Dazu aber muss
auch eine quantitätsmäßige Beschränkung kommen.“42
Betrachtet man die Ergebnisse dieses jahrzehntelangen Kampfes insgesamt, wird
man nicht leugnen können, dass er aus der Sicht der österreichischen Bourgeoisie
erfolgreich war.
Bilanz
Ich komme zum Schluss, zur Zusammenfassung. Wie ist die Bedeutung des
verstaatlichten Wirtschaftssektors für die historische Entwicklung der 2.
Republik einzuschätzen?
Es wäre falsch, hier ausschließlich Lobeshymnen zu singen. Dazu waren die
Unzulänglichkeiten, Versäumnisse und Fehler doch zu schwerwiegend. Ein
Versäumnis bestand darin, den verstaatlichten Unternehmen eine neue und eigene
Rechtsform zu geben, wie es beispielsweise in Großbritannien und Frankreich bei
den Nationalisierungen nach dem Zweiten Weltkrieg sehr wohl geschah. In
Österreich blieb es bei der Konstruktion nach dem Aktiengesellschaftsrecht bzw.
bürgerlichen Handelsrecht. Ein eigener öffentlich-rechtlicher Status hätte es
dem Privatkapital erschwert, Einfluss auf die Leitungsorgane der Verstaatlichten
zu nehmen, und noch auf dem 4. Bundeskongress im Jahr 1959 forderte der ÖGB eine
solche eigene Rechtsform.43 Warum? Deshalb, weil gemäß dem österreichischen
Aktienrecht der Vorstand eine nahezu autokratische Rolle ausübt. Der Staat hatte
zwar gewisse Kontrollmöglichkeiten, dadurch aber verhältnismäßig geringen
Einfluss auf die eigentliche Geschäftsführung der verstaatlichten Betriebe. Es
liegt auch auf der Hand, dass die Reprivatisierung dadurch, dass die meisten
verstaatlichten Unternehmen rechtlich Aktiengesellschaften blieben, leichter
vonstatten gehen konnte als im gegenteiligen Fall, denn man brauchte ja nur den
Eigentümer auszuwechseln.44
Ein weiterer Mangel war, dass die Ansätze zu einer Koordinierung der
Investitions-, Produktions- und Absatzpolitik, die Anfang der 1950er Jahre noch
bestanden, bald fast völlig verkümmerten. Die meisten der Manager, auch die
„roten“ Couleurs, führten die verstaatlichten Unternehmungen ohne besondere
Rücksicht auf die Bedürfnisse und Notwendigkeiten des verstaatlichten Sektors
als Ganzes. So gab es beispielsweise mehrere Stahlproduzenten, die bis zu den
Fusionen der 1970er Jahre untereinander wenig Kontakt pflegten und sich auf
ausländischen Märkten sogar als grimmige Konkurrenten gegenüberstanden.
Ähnliches war bei den großen verstaatlichten Unternehmungen der Elektroindustrie
festzustellen.45
Es war auch so, dass die verstaatlichten Banken mit den ihnen unterstehenden
Konzernbetrieben so gut wie völlig außerhalb der öffentlichen
Kontrollmöglichkeiten über den verstaatlichten Sektor standen und rein nach
privatkapitalistischen Gesichtspunkten ihre Geschäftspolitik führten. Eine
wirkliche Verfügungsgewalt über die Kommandohöhen der Wirtschaft ist dem
österreichischen Staat durch das 1. Verstaatlichungsgesetz also nicht eingeräumt
worden.
Schließlich das Problem der Kapitalarmut. Man hätte erwarten können, dass sich
der Staat als der rechtmäßige Eigentümer der verstaatlichten Unternehmungen
bereit erklären würde, die drückende Kapitalknappheit durch gewisse finanzielle
Opfer zu lindern. Aber – abgesehen von der Beschaffung von ERP-Geldern –
verhielt er sich gegenüber den finanziellen Nöten der verstaatlichten Industrie
reserviert und zugeknöpft. So musste ihr eindrucksvolles Wachstum in den 1950er
und 60er Jahren zu einem hohen Grade aus Eigenmitteln finanziert werden. Damit
nicht genug: Aus Rücksichtnahme auf die Fertigwarenindustrie, die sich in der
Hauptsache in den Händen des Privatkapitals befand, wurden die verstaatlichten
Unternehmen genötigt, eine Politik der niedrigen Preise zu verfolgen. Das
Ergebnis war, dass der verstaatlichte Sektor verhältnismäßig geringe Überschüsse
ansammeln konnte und für die späteren mageren Jahre unzulänglich vorbereitet
war. Die Achillesferse der verstaatlichten Industrie war und blieb eben ihre
einseitige Ausrichtung auf die Produktion von Grundstoffen.46
Dem gegenüber stehen aber mehrere große, wahrhaft historische Leistungen. Die
verstaatlichte Industrie hat in der Zeit ihrer Blüte bewiesen, dass staatliche
Unternehmen die gleiche, ja sogar eine größere Dynamik zu entfalten vermögen wie
privat geführte. Die Verstaatlichte hat mit ihrer Vorreiterrolle bei
Sozialleistungen und Löhnen eine Beispielwirkung auf das gesamte
gesellschaftliche Leben der 2. Republik ausgeübt, weil sich die Privatwirtschaft
wenn auch widerwillig, aber durch die Tatsachen gezwungen, an die sozialen
Errungenschaften der verstaatlichten Industrie angleichen musste. Und das
Wichtigste: Sie hat unsere Schüsselindustrie über mehrere Jahrzehnte davor
bewahrt, in die Hände des ausländischen Kapitals zu fallen. Der Status der
österreichischen Neutralität stand damit in innigem Zusammenhang, denn die
Verstaatlichte hatte dadurch bei Geschäften mit den sozialistischen Ländern und
denen der „Dritten Welt“ eine bessere Ausgangsbasis als die transnationalen
Konzerne aus imperialistischen Ländern. Es ist kein Zufall, dass der Niedergang
der Verstaatlichten ab Ende der 1980er Jahre in exaktem Gleichschritt mit der
Demontage der Neutralität verlief.
Was wir nun schon seit Jahren infolge dieser Entwicklung erleben, hat bereits im
Jahr 1961 ein Verantwortlicher für die Verwaltung des staatlichen
Wirtschaftsbereichs, Dipl.-Ing. Anton Schopf, der früh verstorbene Leiter der
Sektion IV des Bundeskanzleramtes, in prophetischer Weise vorausgesagt, ein
Zitat, mit dem ich schließen möchte. Er schrieb: „Wird der Wirtschaftskomplex
der verstaatlichten Unternehmungen Österreichs gelockert, dann werden in
kürzester Zeit ausländische Finanzgruppen die betreffenden Unternehmungen in
ihre Kontrolle eingliedern und die wirtschaftlichen und damit auch die
politischen Entscheidungen über die Zukunft unseres Landes in ihre Hände
nehmen.“47
Erweiterte Fassung des Referats auf dem Symposium „Öffentliches Eigentum –
eine Frage von Gestern?“ in Leoben am 24. Juni 2006.
Anmerkungen:
1/ Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus, hrsg. vom Institut
für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Akademie der
Wissenschaften der UdSSR, Berlin 1972, S. 418
2/ Friedl Fürnberg, Die Verstaatlichung in Österreich, in: Weg und Ziel, Wien,
Jg. 1958, Nr. 6, S. 515
3/ Renate Deutsch, Chronologie eines Kampfes. Geschichte der Verstaatlichung in
Österreich I = In Sachen, 4. Jg. 1978, Heft 5, Wien 1978, S. 38
4/ Ebenda, S. 39f.
5/ Beilage 193 zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrats der Republik
Österreich vom 26. Juli 1946, Hervorhebungen H.H.; siehe auch: Edmond Langer,
Die Verstaatlichungen in Österreich, Wien 1966, S. 34
6/ Zitiert bei: Karl Ausch, Licht und Irrlicht des österreichischen
Wirtschaftswunders, Wien 1965, S. 137
7/ Mensch und Staat. Handbuch der österreichischen Politik. Herausgegeben von
DDr. Bruno Pittermann, Band II, Wien 1962, S. 143
8/ Friedl Fürnberg, a.a.O., S. 513
9/ Ebenda
10/ Inge Morawetz, Personelle Verflechtungen der Verstaatlichten Industrie mit
der Privatindustrie. Zur Geschichte einer personalpolitischen Konstante, in:
Margit Scherb/Inge Morawetz, Stahl und Eisen bricht. Industrie und staatliche
Politik in Österreich, Wien, o.J. (1986), S. 115
11/ Verstaatlichte. 35 Jahre Kampf um wirtschaftliche Unabhängigkeit, Sicherung
der Arbeitsplätze, Neutralität, hrsg. von der KPÖ, Wien o.J. (1981), S. 6
12/ Alexander Vodopivec, Wer regiert in Österreich. Die Ära Gorbach Pittermann,
Wien 1962, S. 256
13/ Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung 1945–1955. Der erste Jahrzehnt der
Zweiten Republik, Wien 1955, S. 119
14/ Eduard März, Österreichs Wirtschaft zwischen Ost und West. Eine
sozialistische Analyse = Europäische Perspektiven, Wien–Frankfurt–Zürich 1965,
S. 54
15/ Adolf Schärf, a.a.O., S. 120
16/ Mensch und Staat, a.a.O., Band II, S. 143
17/ Friedl Fürnberg, a.a.O., S. 514
18/ Herbert Tieber/Rudolf Spitzer, Verstaatlichte Industrie. Was gesagt und was
verschwiegen wird. Eine kommentierte Dokumentation = Schriftenreihe der
Gemeinwirtschaft, Wien-München 1983, S. 20f.
19/ Eduard März, a.a.O., S. 55
20/ Hans Kalt, Der große Raubzug. Die strategische Wende des österreichischen
Finanzkapitals, Wien o.J. (1995), S. 52
21/ Margit Scherb, SPÖ und Verstaatlichte Industrie oder: Die Angst vor dem
Fliegen, in: Margit Scherb/Inge Morawetz, a.a.O., S. 156
22/ Ebenda
23/ Unter Geiern. Von der Aushöhlung zur Zerschlagung. Die 40-jährige
Leidensgeschichte der verstaatlichten Industrie. Sonderheft „Der Streit“.
Zeitschrift für Kultur, Politik und Wissenschaft, Nr. 30, hrsg. von Andreas Rasp
und Erwin Riess, Wien, Oktober 1986, S. 12
24/ Hans Kalt, a.a.O., S. 52
25/ Die Verstaatlichte, a.a.O., S. 20
26/ Martin Stadelmann, Die Reprivatisierung der verstaatlichten Industrie.
Beurteilung der praktischen Konsequenzen anhand der börsennotierten AGs VA Stahl
und VA Tech, Diplomarbeit, Linz 1996, S. 12
27/ Unter Geiern, a.a.O., S. 16
28/ Hans Kalt, a.a.O., S. 55
29/ Margit Scherb, a.a.O., S. 167
30/ Rudolf Anton Königsecker, Der Staat als Unternehmer. Die verstaatlichte
Industrie im Spannungsfeld zwischen politischen und erwerbswirtschaftlichen
Interessen, Diplomarbeit, Linz 1992, S. 2
31/ Hans Kalt, a.a.O., S. 56
32/ z.B. in der Nummer vom 6. Juni 1946 auf S. 2 unter dem Titel
„Verstaatlichung für oder gegen die Arbeiter?“; ähnlich auch Karl Kummer, Der
Weg zur Sozialreform in der Zukunft, Wien 1946, S. 6 und S. 11f. Ausführlich zum
Werksgenossenschaftsgesetz: Renate Deutsch, Chance auf Veränderung. Geschichte
der Verstaatlichung in Österreich II = In Sachen, Heft 7, Wien, 5. Jg. 1979, S.
34–50
33/ Eduard März, a.a.O., S. 56
34/ Ebenda, S. 18
35/ Inge Morawetz, a.a.O., S. 121
36/ Inge Morawetz, Schwellenland Österreich? Aktuelle Veränderungen der
österreichischen Eigentumsstruktur im Sog der Internationalisierungsstrategien
der Bundesrepublik Deutschland, in: Margit Scherb/Inge Morawetz (Hrsg.), In
deutscher Hand? Österreich und sein großer Nachbar, Wien 1990, S. 109
37/ Ebenda, S. 102
38/ Inge Morawetz, Personelle Verflechtungen, a.a.O., S. 126
39/ Herbert Tieber/Rudolf Spitzer, a.a.O., S. 88
40/ Die Wirtschaft, Wien, 14. Juli 1956
41/ Die Presse, Wien, 13. Jänner 1961
42/ Die Industrie, Wien, 19. Mai 1961
43/ Unter Geiern, a.a.O., S. 9
44/ „Die Verstaatlichte sollte bei der Mitbestimmung Pionierleistungen
erbringen“. MI-Gespräch mit Paul Blau über die Ziele und das Scheitern der
Mitbestimmungspraxis. Verstaatlichung in Österreich (4), in: Mitbestimmung.
Zeitschrift für Demokratisierung der Arbeitswelt, Wien, 10. Jg., Nr. 5/1981, S.
13
45/ Eduard März, a.a.O., S. 58
46/ Ebenda, S. 57
47/ Anton Schopf, Zur Kritik an der Verstaatlichten Industrie, in:
Wirtschaftspolitische Blätter, Wien, Jg. 1961, Heft 1/2, S. 14
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3/2006
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