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Hans Hautmann: 26. Oktober 1955: Plenum des Nationalrats
Der 40. Jahrestag der Verabschiedung des Bundesverfassungsgesetzes über die
immerwährende Neutralität der Republik Österreich steht vor der Tür. Er wird von
unseren Politikern zum Anlaß genommen werden, ihre zur Genüge bekannten
Standpunkte zu dieser Frage zu bekräftigen. Deshalb erscheint es nützlich,
daran zu erinnern, was am 26. Oktober 1955 im Plenum des Nationalrats geschah,
gewissermaßen zu den Wurzeln zurückzukehren und die seinerzeitige Debatte im
Lichte der aktuellen Entwicklung zu betrachten. Tut man das, dann gelangt man
zu verblüffenden Einsichten, auch darüber, welche Brüche und Kontinuitäten in
der Argumentation pro und kontra Neutralität walten.
Der Text der Reden des 26. Oktober 1955 ist eine fesselnde Lektüre und heute
mehr denn je lesenswert. Die Mandatare waren sich der Bedeutung dieses Tages
für Österreich bewußt und verhielten sich danach. Zehn Jahre später, als der
26. Oktober durch Bundesgesetz zum Nationalfeiertag erklärt wurde, unterstrich
man darin das Motiv noch einmal ausdrücklich: Das Neutralitätsgesetz sei die
Grundlage dafür, „für alle Zukunft und unter allen Umständen die Unabhängigkeit
zu wahren” und einen „wertvollen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten zu
können.” Mittlerweile hat man in die „unter allen Umständen zu wahrende”
Unabhängigkeit mit dem Vollbeitritt zur EU des Vertrages von Maastricht, der
eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik festlegt, eine erste Bresche
geschlagen. Ihr werden unvermeidlich weitere folgen, die Österreichs „Beitrag
zum Frieden” entweder verringern oder ihm einen anderen Sinn geben müssen.
Die ÖVP
Die ÖVP stellte drei Redner: Franz Prinke, der den Bericht des
Hauptausschusses über die Regierungsvorlage erstattete, Lujo Toncic-Sorinj und
Julius Raab. Die Ausführungen von Prinke und Toncic unterschieden sich in
einigen nicht unwesentlichen Punkten von denen des Bundeskanzlers.
Beide feierten die Neutralität als eine „wahre Friedenstat” (Toncic) und einen
guten Dienst am „österreichischen Volk und allen friedliebenden Völkern der
Welt” (Prinke). Beide betonten aber auch den militärischen Charakter der
österreichischen Neutralität, die „ohne eine effektive Wehrkraft” substanzlos
sei (Toncic) und die man nicht mit der „Standpunktlosigkeit eines farblosen
Neutralismus” verwechseln dürfe (Prinke). Diese Interpretation hat uns Alois
Mock in den letzten Jahren ja erneut und, wie es seine Art war,
gebetsmühlenartig vorgeleiert.
Prinke scheute sogar nicht davor zurück, die Besatzungszeit „einen der
unerfreulichsten Abschnitte unserer sonst so ruhmreichen jahrhundertelangen
Geschichte” zu nennen: „Nach einem Krieg, den wir nicht verschuldet haben, für
den wir aber mitbüßen mußten, folgte die militärische Besetzung unseres Landes
durch mehr als ein Jahrzehnt.” Kein Wort darüber, welche Gründe die Alliierten
wohl dazu bewogen haben konnten, nicht der geringste Anflug kritischer
Selbstreflexion über den März 1938 und die Rolle Österreichs im Dritten Reich, statt
dessen Aufwärmen der „Opferthese” in grobschlächtigster Manier.
Aus heutiger Sicht ungemein bezeichnend sind aber zwei Anspielungen, die die
ÖVP-Redner so nebenher einstreuten. Toncic eher kryptisch: „Die Neutralität
ist...die gegebene Form der alten Aufgabe unserer geschichtlichen Funktion”.
Also so etwas wie eine „Mission”, die Österreich historisch zukommt. Welche
Mission damit gemeint war? Prinke deutlicher: „Österreich soll bei
Auseinandersetzungen zwischen Völkern und Staaten nicht Beteiligter sein,
sondern so wie schon das Kernland der österreichisch-ungarischen Monarchie
bemüht sein, eine Mittlerrolle zwischen den Nationen zu übernehmen.” Daß er
damit etwas anderes als den vordergründigen Sinn dieses Satzes im Kopf hatte,
liegt auf der Hand. Denn nicht die schön klingende „Mittlerrolle” war für die
Deutschen des Habsburgerreiches erstrebenswert und entscheidend, sondern die
Tatsache, daß sie das ökonomisch und politisch herrschende Volk waren. Wie man
sieht, pflanzten die Interessensvertreter des österreichischen Kapitals stante
pede die „Mitteleuropa”-Flagge auf, nachdem die „deutsche” Orientierung
diskreditiert war und durch den Staatsvertrag für nicht abzuschätzende Dauer
versperrt blieb. Natürlich vorsichtig, weil die ökonomischen und machtpolitischen
Möglichkeiten einer Umsetzung 1955 noch fehlten. Seit einigen Jahren sind sie
aber wieder vorhanden und werden entschlossen genützt. So langfristig und
kontinuierlich pflegt das Großkapital seine Ziele zu verfolgen.
Der Bundeskanzler
Raabs Rede zeugt hingegen von einem bemerkenswert positiven
Neutralitätsverständnis, das man der gegenwärtigen Bundesregierung ins
Stammbuch schreiben könnte. Er sagte: „Unsere Neutralität ist keine
provisorische, widerrufliche Beschränkung unserer Souveränität, die wir etwa
unter dem Zwang der Verhältnisse widerstrebend auf uns genommen haben, sondern
die Basis für eine Außenpolitik, die unserer Heimat und unserem Volk für alle
Zukunft Frieden und Wohlstand gewährleisten soll.” Das österreichische Volk
bejahe nun einmütig seinen Staat; das österreichische Selbstbewußtsein habe
sich bis zum eigenständigen österreichischen Nationalbewußtsein gesteigert. Es
beginne eine neue Epoche, die Österreich mit dem aufrichtigen Willen
beschreite, durch die Neutralität „nicht nur uns und unseren Nachbarstaaten,
sondern darüber hinaus der ganzen Welt zu nützen.”
Raab dankte den vier Großmächten, darunter ausdrücklich der Sowjetunion, für
den Abschluß des Staatsvertrages. Anders als Prinke sah er im Besatzungsregime
auch etwas, das der historischen Wahrheit entsprach: die Sicherung der
Unabhängigkeit und Unversehrtheit des österreichischen Staatsgebietes durch die
alliierten Truppen.
Die SPÖ
Ihr Sprecher war der Linzer Bürgermeister Ernst Koref. In oberlehrerhaftem
Ton berief er sich zunächst langatmig auf Traktate namhafter Völkerrechtler, um
beweisen zu können, daß die dauernde Neutralität keine „ideologische
Neutralität” bedeute. Denn Neutralität dürfe niemals zur „Knechtung der freien
Persönlichkeit (!), zu völliger Umformung oder gar Uniformierung in
ideologischer Hinsicht führen.” Dann behauptete er Dinge, die glattwegs eine
Unwahrheit waren: daß die „österreichische Außenpolitik schon seit 1945
konsequent diese Linie (der Neutralität, H.H.) gegangen sei” und „wir” (gemeint
offenbar die SPÖ und ÖVP, H.H.) „immer schon mit aller wünschenswerten
Klarheit...betont haben, daß wir uns aus jeder Blockbildung
heraushalten...wollen.” Warum dann der SPÖ-Vorsitzende Schärf sogar noch im
April 1955 bei den Verhandlungen in Moskau gegen den Begriff der Neutralität
opponierte, bleibt somit ein ungelöstes Rätsel, mit dem wir uns abfinden
müssen. Und ausgerechnet dem Mann, der über das Moskauer Memorandum am meisten
schockiert war, dem Innenminister Helmer, sprach Koref für sein
„unerschrockenes Eintreten” besonderen Dank aus. Helmer hatte sich als
prononciertester kalter Krieger gegen die Sowjetunion hervorgetan und gewiß das
geringste Verdienst daran, daß Staatsvertrag und Neutralität zustandekamen.
Aber so wie er bewies die SPÖ stets „mannhafte Haltung” und gab „jederzeit das
beste Vorbild”, weshalb die „glückhafte Wende” eingetreten sei und man die
Neutralität „aus ganzem Herzen mit Freude begrüßen” könne. Soweit die
Koref’sche Geschichtsinterpretation, für eingefleischte Antikommunisten auch heute
noch ideal hinter dem Ofen zu summen.
Die KPÖ
Für die Kommunistische Partei nahm Ernst Fischer das Wort. Glänzend in der
Rhetorik, wie man es von ihm gewohnt war, schnitt er dem Inhalt nach genau jene
Fragen an, die bei der Auseinandersetzung um die Neutralität bis heute
unverändert relevant sind und den Kern des Problems bilden.
Er erinnerte die Regierungsparteien daran, daß sie es waren, die in den Jahren
vor 1955 die Neutralität als „Falle der kommunistischen Propaganda” hingestellt
und gesagt hätten, daß Österreich deshalb nicht neutral sein könne. Er warnte
davor, die Neutralität nur als Formel aufzufassen, die man aus Gründen der
Taktik und mit allen möglichen Vorbehalten annimmt. Die polemischen Attacken
gegen den „Neutralismus” dienten einigen „alten Kämpfern des kalten Krieges”
nur dazu, das Bekenntnis zur Neutralität einzuschränken und abzuschwächen, im
Zeichen der Neutralität die alte Politik fortzusetzen und an den Methoden des
kalten Krieges festzuhalten. Ein Argument seines Nachredners Koref vorausahnend,
nannte er die Behauptung absurd, daß die Politik der Stärke („mannhafte
Haltung”) es gewesen sei, die die Sowjetunion zum Zurückweichen und zur
Unterzeichnung des Staatsvertrages genötigt habe: „Solange Österreich sich auf
die Politik des kalten Krieges orientierte, hat es nichts durchgesetzt...In dem
Augenblick, als Österreich auf die fixe Idee verzichtete, sich in irgendeiner
Form dem Westblock anzuschließen, ...fand es in der Sowjetunion ein
Entgegenkommen, das die grüßten Erwartungen der österreichischen
Regierungspolitiker übertraf.”
Sehr wichtig war Fischers Kritik an der Auffassung, daß die österreichische
Neutralität ausschließlich eine militärische sei und man darunter nur die
Verpflichtung zu verstehen brauche, an keinerlei militärischen Bündnissen
teilzunehmen. „Wir wissen aber aus den Erfahrungen der Ersten Republik, daß
auch wirtschaftliche Stützpunkte fremder Mächte zur Gefahr werden können...Es
ist nicht nur wirtschaftlich verantwortungslos, sondern es widerspricht im
Innersten der Unabhängigkeit und Neutralität Österreichs, wenn man dem
ausländischen Kapital gestattet, sich in Österreich...entscheidender Positionen
zu bemächtigen.” Neutralität müsse mehr sein, als sich aus Bündnissen und
Konflikten herauszuhalten; neutral sein bedeute „die dauernde Bereitschaft, an
der Überwindung von Haß, Mißtrauen, weltpolitischen Spaltungen mitzuwirken”,
mit allen Völkern in Freundschaft zu leben und dem Frieden der Menschheit zu
dienen. Der Weg vom Anschlußgedanken 1918 zur Neutralitätserklärung 1955 sei
der „Weg Österreichs zu sich selbst”, der Weg aus gefährlichen Abenteuern zu
günstigen Voraussetzungen seines Bestandes und seiner Zukunft.
Höchst aktuell ist das Resümee des Sprechers der KPÖ: „Die Deklaration, für die
wir heute stimmen, ist ein gutes, ein richtunggebendes Dokument, aber damit
allein ist es nicht getan. Wir wissen, daß der Kampf um die Unabhängigkeit, um
die Neutralität Österreichs weitergeht, denn es gibt Kräfte, die mit unserer
Unabhängigkeit und Neutralität nicht einverstanden sind. Sie werden immer
wieder versuchen, unser Land von diesem neuen Weg abzudrängen, und wir werden
immer wieder genötigt sein, das zu bewahren, was wir heute beschließen.”
Der VdU
Die Ahnen Haiders, die einzigen, die den Neutralitätsstatus aus Prinzip ablehnten,
schickten drei Redner ins Gefecht: Max Stendebach, Fritz Stüber und Herbert
Kraus. Stendebach tat so, als ob der VdU keineswegs gegen eine
Neutralitätserklärung Österreichs an sich sei. Was störe, seien „nur” einige
Dinge: daß man die Neutralität als einen Akt der Freiwilligkeit hinstelle, „wo
doch die ganze Welt weiß, daß sie den wesentlichen Preis für den Staatsvertrag
darstellt.” Dieser Konnex bedeute eine „Einschränkung der Souveränität”, weil
der Staatsvertrag „Beschränkungen der österreichischen Wehrhoheit” beinhalte.
Weiters gliedere sich Österreich mit der Neutralität „aus Europa” aus, und das
in einer Zeit, die „zwingend nach wirtschaftlichen Großräumen verlangt”.
Stendebach verlas sodann einen Antrag, der dem Artikel I. (1) des Neutralitätsgesetzes
folgende Fassung geben sollte: „Österreich erklärt seine dauernde Neutralität.
Es wird infolgedessen bei im übrigen voller Wahrung seiner völkerrechtlichen
Handlungsfreiheit in Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und
fremden Staaten die Errichtung militärischer Stützpunkte auf seinem Gebiet
nicht gestatten.”
Hier fehlte der entscheidende Punkt, nämlich daß Österreich „zum Zwecke der
dauern den Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen” seine Neutralität
erkläre. Gerade das wollte der VdU nicht, weil es der Absicht entgegenstand,
ein „völkerrechtlich völlig handlungsfreies” Österreich möglichst rasch in eine
„europäische (sprich: von Deutschland dominierte) Großraumwirtschaft” zu
führen.
Wie hätte der Artikel I. (2) nach VdU-Fassung ausgesehen? Das ist eine Perle,
die man sich nicht entgehen lassen darf: „Österreich wird diese Neutralität
auch mit militärischen Mitteln verteidigen, sobald es nach Herstellung seiner
vollen Wehrhoheit zu einer wirksamen militärischen Verteidigung in der Lage
ist.”
Das Ganze war eine reine Spiegelfechterei, um der Öffentlichkeit die wahre
Haltung des VdU zu verschleiern.
Wie Stendebach richtete der Abgeordnete Stüber das Feuer anfänglich nur gegen
den Ausdruck „aus freien Stücken” des Neutralitätsgesetzes, weil er verlogen
sei. Dann ging er aber aus sich heraus und legte die Motive des VdU mit aller
Klarheit offen: Der Staatsvertrag sei ein „Instrument alliierter Machtpolitik”
und seiner Entstehungsgeschichte und dem Inhalt nach „einseitig gegen Deutschland
gerichtet”. Da auch der Neutralitätsstatus eine „ähnliche Zielrichtung” habe
und primär „dem Osten” nütze, könne er ihm nicht zustimmen.
Den Schlußakkord setzte Kraus. Weil die Regierungsparteien es nicht der Mühe
wert gefunden hätten, auf die Abänderungsanträge des VdU einzugehen, werde man
vom ursprünglichen Plan abgehen, die Einstimmigkeit des Beschlusses über die
Neutralität dadurch nicht zu beeinträchtigen, indem man den Saal verläßt,
sondern im Saal bleiben und gegen die Vorlage votieren.
So kam es denn auch. Die Freiheitlichen können damit für sich beanspruchen,
immer schon gegen die Neutralität gewesen zu sein und mit Genugtuung darauf
verweisen, daß nun führende ÖVP-Politiker die einstigen Positionen über Bord
geworfen haben und in das Lager der Neutralitätsgegner übergewechselt sind. Die
SPÖ laviert in dieser Frage vorerst noch, wird aber, wie sich unschwer
prophezeien läßt, nachgeben, sobald die Interessen der Herrschenden in unserem
Land die völlige Aufgabe der Neutralität erheischen und sie von ihnen unter
entsprechenden Druck gesetzt wird. Für jeden auch nur einigermaßen
unvoreingenommenen Beobachter muß sich aber aus dem Dargelegten zwingend
ergeben, daß vierzig Jahre nach dem 26. Oktober 1955 von den damaligen Parteien
nur die Kommunisten als konsequent ehrliche Verfechter der Neutralität
übriggebliebensind.
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3/1995
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