Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung Drechslergasse 42, A–1140 Wien Tel.: (+43–1) 982 10 86, E-Mail: klahr.gesellschaft@aon.at
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Hans Hautmann: Ein Interview mit Karl Marx vom 3. Juli 1871Es kam selten vor, daß Karl Marx sich bereit erklärte, Fragen von Journalisten zu beantworten. Er scheute öffentliche Auftritte, große Reden und die mit ihnen einhergehende Manier des Sich-in-Pose-Werfens. Mit einer Presse, die seine Ansichten verdrehte und verfälschte, hatte er bereits genug unliebsame Erfahrungen gesammelt. Am wenigsten goutierte er jene selbstgefällige Geschwätzigkeit, die sich als unausrottbares Übel durch die Zeiten bis zu den einsamen Höhen der Gegenwart fortpflanzt - Eigenschaften, die ihn gleich von vornherein sympathisch machen. Das Interview, das Karl Marx am 3. Juli 1871 dem Vertreter der Zeitung „The
New-York World“, R. Landor, gewährte, hat die Tätigkeit der I. Internationale
zum Inhalt. ... Ich kam sofort auf den Zweck meines Besuchs zu sprechen. Die Welt, sagte
ich, scheint im Dunkel zu sein über die Internationale; sie haßt sie sehr, ohne
erklären zu können, was es eigentlich ist, das sie haßt. Einige, die glauben,
tiefer als die anderen in dieses Dunkel eingedrungen zu sein, behaupten, sie
sei eine Art Januskopf, mit dem gütigen ehrlichen Lächeln eines Arbeiters auf
dem einen Gesicht und dem mörderischen Blick eines Verschwörers auf dem andern.
Ich bat Marx, das Geheimnis zu lüften, das diese Theorie umhüllt. Der Gelehrte
lächelte und schmunzelte leise - so schien mir - bei dem Gedanken, daß wir
solche Angst vor ihm haben. Ich: „Fast“ - das mag stimmen. Doch ist nicht gerade das, was ich nicht weiß, vielleicht das Allerwichtigste? Ich will ganz offen mit Ihnen sein und die Frage so stellen, wie ein Außen- stehender sie stellen muß: Beweist nicht gerade die allgemeine abfällige Einstellung zu Ihrer Organisation mehr als die unwissende Böswilligkeit der Massen? Und würden Sie mir, nach allem, was Sie mir soeben gesagt haben, noch die Frage gestatten: Was ist die Internationale eigentlich? Dr. Marx: Sie brauchen sich doch nur die Menschen anzusehen, aus denen sie besteht - es sind Arbeiter. Ich: Ja, aber Soldaten sind nicht immer die Exponenten der Regierung, die über sie verfügt. Ich kenne einige Ihrer Mitglieder, und ich glaube sehr wohl, daß sie nicht aus dem Stoff sind, aus dem Verschwörer gemacht werden. Überdies würde ein Geheimnis, das man mit Millionen Menschen teilt, kein Geheimnis bleiben. Was aber, wenn diese Menschen nur Werkzeuge in den Händen eines kühnen und - ich hoffe, Sie werden es mir verzeihen, wenn ich hinzufüge - in seinen Mitteln nicht gerade sehr wählerischen Konklaves wären? Dr. Marx: Nichts beweist, daß dem so wäre. Ich: Und der letzte Aufstand in Paris? Dr. Marx: Zuerst einmal bitte ich Sie, zu beweisen, daß es überhaupt eine Verschwörung gegeben hat und daß nicht alles, was geschah, die gesetzmäßige Folge der vorhandenen Umstände gewesen ist. Doch angenommen, es sei eine Verschwörung gewesen, dann bitte ich sie, mir zu beweisen, daß die Internationale Assoziation daran beteiligt war. Ich: Das Vorhandensein so vieler Mitglieder der Assoziation in der Kommune. Dr. Marx: Dann könnte es genauso eine Verschwörung der Freimaurer gewesen sein, den ihr individueller Anteil war keineswegs gering. Ich wäre wirklich nicht erstaunt, wenn der Papst ihnen den ganzen Aufstand in die Schuhe schieben würde. Doch versuchen wir, eine andere Erklärung zu finden. Der Aufstand in Paris ist von den Pariser Arbeitern gemacht worden. Die fähigsten Arbeiter müssen folglich seine Führer und Vollstrecker gewesen sein; doch die fähigsten Arbeiter sind gleichzeitig auch Mitglieder der Internationalen Assoziation. Und trotzdem braucht die Assoziation als solche in keiner Weise für ihre Handlungen verantwortlich zu sein. Ich: Die Welt wird das mit andern Augen betrachten. Die Leute reden von geheimen Instruktionen aus London und sogar von finanzieller Unterstützung. Kann behauptet werden, daß das angebliche Wirken der Assoziation in der Öffentlichkeit die Möglichkeit jeglicher geheimer Verbindungen ausschließt? Dr. Marx: Hat es je eine Assoziation gegeben, die ihre Arbeit durchgeführt hat, ohne sowohl vertrauliche als auch öffentliche Verbindungen gehabt zu haben? Aber von geheimen Instruktionen aus London als von Dekreten in Fragen des Glaubens und der Moral zu sprechen, die von irgendeinem Zentrum päpstlicher Herrschaft und Intrige ausgehen, würde bedeuten, das Wesen der Internationale völlig mißzuverstehen. Das würde eine zentralisierte Regierungsform der Internationale voraussetzen; in Wirklichkeit gewährt jedoch die Organisationsform der Internationale gerade der örtlichen Initiative und Unabhängigkeit den größten Spielraum. In Wirklichkeit ist die Internationale überhaupt keine Regierung der Arbeiterklasse, sie ist eher eine Vereinigung als ein Befehlsorgan. Ich: Und welchen Zweck verfolgt diese Vereinigung? Dr. Marx: Die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Eroberung der politischen Macht. Die Anwendung dieser politischen Macht für die Verwirklichung sozialer Ziele. Unsere Ziele müssen so umfangreich sein, damit sie alle Formen der Wirksamkeit der Arbeiterklasse einschließen. Hätten wir ihnen einen besonderen Charakter gegeben, dann hätten wir sie den Bedürfnissen nur einer Sektion, der Arbeiterklasse nur einer Nation anpassen müssen. Doch wie könnte man alle Menschen veranlassen, sich für die Interessen einiger weniger zu vereinigen? Wenn unsere Assoziation dies täte, dann hätte sie nicht mehr das Recht, sich Internationale zu nennen. Die Assoziation diktiert keine bestimmte Form der politischen Bewegung; sie verlangt nur, daß diese Bewegung auf ein und denselben Endzweck ausgerichtet ist. Sie umfaßt ein Netz von Zweiggesellschaften, das sich über die ganze Welt der Arbeit erstreckt. In jedem Teil der Welt ergeben sich besondere Aspekte des Problems, die Arbeiter berücksichtigen diese und gehen auf ihre eigene Art an die Lösung heran. Die Vereinigungen der Arbeiter können nicht bis ins letzte Detail in Newcastle und in Barcelona, in London und in Berlin absolut identisch sein. In England zum Beispiel steht der Arbeiterklasse der Weg offen, wie sie ihre politische Macht entwickeln will. Ein Aufstand wäre dort eine Dummheit. wo man durch friedliche Agitation rascher und sicherer den Zweck erreicht. In Frankreich scheint die Vielzahl der Unterdrückungsgesetze und der tödliche Antagonismus zwischen den Klassen eine gewaltsame Lösung der sozialen Auseinandersetzungen notwendig zu machen. Ob eine solche Lösung gewählt wird, das ist Sache der Arbeiterklasse dieses Landes. Die Internationale maßt sich nicht an, in dieser Frage zu diktieren, oder auch kaum, Ratschläge zu erteilen. Doch drückt sie jeder Bewegung ihre Sympathien aus und gewährt ihr im Rahmen ihrer eigenen Gesetze Hilfe. Ich: Und welcher Natur ist diese Hilfe? Dr. Marx: Ich will es an einem Beispiel erläutern. Eine der Formen, welche die Bewegung für die Emanzipation am meisten anwendet, ist der Streik. Brach früher in irgendeinem Lande ein Streik aus, so wurde er durch die Importation von Arbeitern aus anderen Ländern abgewürgt. Die Internationale hat mit alldem fast Schluß gemacht. Sie erhält über den beabsichtigten Streik Informationen, gibt diese an ihre Mitglieder weiter, die sofort zur Kenntnis nehmen, daß der Ort, wo dieser Kampf ausgetragen wird, für sie tabu ist. So sind die Fabrikanten nur auf ihre eigen Arbeiter angewiesen. In den meisten Fällen brauchen die Streikenden keine andere Hilfe. Ihre eignen Beiträge oder die Sammlungen in andern Gesellschaften, denen sie unmittelbar angeschlossen sind, versorgen sie mit Mitteln. Wenn ihre Lage jedoch zu schwierig wird und der Streik die Billigung der Assoziation gefunden hat, dann werden die erforderlichen Mittel aus der gemeinsamen Kasse zur Verfügung gestellt. Auf diese Weise wurde vor einigen Tagen der Streik der Zigarrenarbeiter von Barcelona /2/ siegreich zu Ende geführt. Doch die Assoziation ist nicht an Streiks interessiert, wenn sie solche auch unter gewissen Bedingungen unterstützt. Vom finanziellen Gesichtspunkt aus kann sie durch Streiks keineswegs gewinnen, aber leicht verlieren. Fassen wir kurz zusammen: Die Arbeiterklasse bleibt inmitten des wachsenden Wohlstands arm und verelendet inmitten des gesteigerten Luxus. Ihre materielle Not verkrüppelt die Arbeiter moralisch und auch physisch. Daher wurde es für sie zur zwingenden Notwendigkeit, ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie müssen die Beziehungen zwischen sich und den Kapitalisten und den Landlords verändern, und das bedeutet, daß sie die Gesellschaft verändern müssen. Das ist das gemeinsame Ziel jeder bekannten Arbeiterorganisation; die Land and Labour Leagues, die Gewerksgenossenschaften und die Gesellschaften zur gegenseitigen Unterstützung, die Konsum- und Produktivgenossenschaften sind nur Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Eine wirklich echte Solidarität zwischen diesen Organisationen herzustellen ist Aufgabe der Internationalen Assoziation. Ihr Einfluß beginnt sich überall fühlbar zu machen: Zwei Zeitungen verbreiten ihre Ansichten in Spanien, drei in Deutschland, die gleiche Anzahl in Österreich und in Holland, sechs in Belgien und sechs in der Schweiz. Nachdem ich Ihnen nun erzählt habe, was die Internationale ist, können Sie sich vielleicht schon selbst eine Meinung über ihre angeblichen Verschwörungen bilden. Ich: Und Mazzini /3/, ist er Mitglied Ihrer Organisation? Dr. Marx (lachend): Aber nein! Unsere Erfolge wären nicht sehr groß, hätten wir keine besseren Ideen gehabt als er. Ich: Sie überraschen mich. Ich war fest davon überzeugt, daß er äußerst fortgeschrittene Ideen vertritt. Dr. Marx: Er vertritt nichts anderes als die alte Idee von der bürgerlichen Republik. Wir aber wollen mit der Bourgeoisie nichts gemein haben. Er ist hinter der modernen Bewegung so weit zurückgeblieben wie die deutschen Professoren, die in Europa nichtsdestoweniger noch immer für die Apostel des entwickelten Demokratismus der Zukunft gehalten werden. Sie waren dies ohne Zweifel einmal, vielleicht vor 1848, als die deutsche Bourgeoisie, im englischen Sinne, kaum ihre eigene Entwicklung erreicht hatte. Doch jetzt haben sie sich mit Leib und Seele der Reaktion verschrieben, und das Proletariat kennt sie nicht mehr. Ich: Manche Leute glauben, in Ihrer Organisation Elemente des Positivismus /4/ entdeckt zu haben. Dr. Marx: Keineswegs. Es gibt unter uns Positivisten, und es gibt Positivisten, die nicht unserer Organisation angehören, aber ebenfalls tätig sind. Doch ist dies keineswegs das Verdienst ihrer Philosophie, die nichts gemein haben will mit den Ideen der Volksmacht, wie wir sie verstehen; ihre Philosophie will nur die alte Hierarchie durch eine neue ersetzen. Ich: Mir scheint, die Führer der modernen internationalen Bewegung müßten so, wie sie ihre eigne Assoziation geschaffen haben, auch ihre eigene Philosophie erarbeitet haben. Dr. Marx: Das stimmt. Es ist zum Beispiel kaum anzunehmen, daß wir in unserem Krieg gegen das Kapital erfolgreich sein könnten, wenn wir unsere Taktik - sagen wir - von der politischen Ökonomie eines Mill /5/ ableiten würden. Er hat eine Art der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital umrissen. Wir hoffen zu beweisen, daß es möglich ist, eine andere Bezie-hung herzustellen. Ich: Und die Vereinigten Staaten? Dr. Marx: Die Hauptzentren unserer Wirksamkeit befinden sich gegenwärtig in der Alten Welt, in den europäischen Ländern. Viele Umstände neigten bisher dazu, zu verhindern, daß die Arbeiterfrage eine alles überschattende Bedeutung in den Vereinigten Staaten erhält. Aber diese Umstände verschwinden rasch, und mit dem Wachstum der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten beginnt sich der Gedanke durchzusetzen, daß es dort, wie auch in Europa, eine Arbeiterklasse gibt, die sich von der übrigen Gesellschaft unterscheidet und vom Kapital getrennt ist. Ich: Es scheint mir, daß die erhoffte Lösung, welcher Art sie auch sein mag, in unserem Lande ohne die gewaltsamen Mittel der Revolution erreicht werden wird. Die englische Methode, auf Versammlungen und in der Presse zu agitieren, bis die Minderheit zur Mehrheit wird, ist ein hoffnungsvolles Zeichen. Dr. Marx: Ich bin in dieser Hinsicht nicht so optimistisch wie Sie. Die englische Bour-geoisie hat sich immer bereit gezeigt, das Urteil der Mehrheit anzunehmen, solange sie das Monopol bei den Wahlen besitzt. Doch seien Sie gewiß, sobald sie in Fragen, die sie für lebenswichtig hält, in der Minderheit sein wird, werden wir uns einem neuen Krieg der Sklavenhalter gegenübersehen. Anmerkungen:1/ Gemeint ist der eigene Tonfall der Deutschen auf Englisch, in dem die
burlesken „Breitmann ballads“ des amerikanischen Schriftstellers Charles
Godfrey Leland (1824-1903) geschrieben sind. Der Autor parodierte darin die
Mundart der deutschen Ansiedler in den USA. Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 2/1999 |
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