Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung Drechslergasse 42, A–1140 Wien Tel.: (+43–1) 982 10 86, E-Mail: klahr.gesellschaft@aon.at
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Hans Hautmann: Die Oktoberrevolution und ÖsterreichWenn man über die Oktoberrevolution und ihre Auswirkungen auf Österreich spricht, dann ist es neben der Darstellung der unmittelbaren Zusammenhänge notwendig, zunächst den Blick zu weiten und den Geschichtsablauf gewissermaßen aus der Vogelperspektive zu betrachten. Nur so, fernab von der Enttäuschung der einen und der Freude der anderen über das Verschwinden des Erbes der sozialistischen Umwälzung des Jahres 1917, kann ein Phänomen wie die Oktoberrevolution heute angemessen bewertet und historisch eingeordnet werden. I.Revolutionen sind seltene Erscheinungen in der Menschheitsgeschichte, und erfolgreiche Revolutionen noch seltenere. Niemand, ausgenommen Ignoranten, wird aber zu bestreiten wagen, daß sie es sind, die die Historie entscheidend prägen. Ihre Wirkungen haben sich in den Jahrhunderten seit dem Beginn der Neuzeit, angefangen mit der frühbürgerlichen Revolution des deutschen Bauernkrieges, in stetig wachsendem Maße verstärkt, und die Abstände, in denen sie aufeinander folgten, sind immer kürzer geworden. Wir müssen uns bewußt sein, daß wir uns nach wie vor in einem weltgeschichtlichen Zeitalter revolutionärer Umwälzungen befinden. Und wir als Marxisten sind davon überzeugt, daß die Perioden des Rückschlags, wie wir jetzt eine erleben, Zeiten, in denen die Herrschenden, die Kräfte der Beharrung scheinbar wieder triumphieren und sich fest im Sattel sitzend wähnen, auch dann, wenn sie Generationen dauern mögen, nur Zwischenspiele sind auf dem Weg neuer Anläufe, den Epochenübergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zu vollenden. Optimistisch können wir trotz allem sein, weil die Geschichte gezeigt hat, daß Revolutionen die notwendige und unvermeidliche Folge von bestimmten Gesellschaftsstrukturen sind, die ihrerseits in ökonomischen Verhältnissen, im Kern in den Eigentumsverhältnissen, wurzeln. Revolutionen sind folglich keine „Betriebsunfälle“ der Geschichte, sondern sozusagen „normale“ Vorgänge, da durch sie und nur durch sie die grundlegenden Widersprüche gelöst werden können und der Übergang zu höheren Gesellschaftsformationen bewirkt werden kann. II.Der Preußenkönig Friedrich II hat einmal bei einem Parademanöver seiner
Truppen dem kommandierenden General, als der die bewundernswerte Exaktheit der
Bewegungen der Soldaten und das marionettenhafte Befolgen aller Befehle
herausstrich, zur Antwort gegeben: „Nicht dies, sondern daß die Kerle uns nicht
totschießen, ist das Merkwürdigste.“ Das Rätsel ist also nicht, warum
Revolutionen ausbrechen, sondern warum Menschen generationenlang die Zustände
ertragen, gegen die sie schließlich aufstehen. Eine Erklärung dafür findet sich
unvermutet in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“, in dem es an einer Stelle
heißt: „Denn nur die Mächtigen wissen immer genau, wer ihre wahren Feinde
sind.“ Der Satz enthält eine tiefe Wahrheit. Er gibt uns Antwort darauf, warum
erfolgreiche Revolutionen so selten sind, warum so viele Aufstände, Empörungen,
Revolten in der Vergangenheit verpufften und scheiterten, ihre Träger sich
täuschen und übertölpeln ließen, warum auch die meisten Revolutionen nicht bis
zum Ende, bis zur letzten Konsequenz durchgefochten wurden und auf halbem Weg
stehenblieben. Nur in wenigen Fällen paarte sich der objektive Faktor mit dem
subjektiven, erwiesen sich die Revolutionäre als stärker, entschlossener,
schlauer und unerbittlicher als ihr Widerpart und bereiteten ihm eine
vernichtende Niederlage: 1789 in Frankreich und 1917 in Rußland, Revolutionen,
denen deshalb zu Recht das Attribut „groß“ verliehen wird. III.Bekanntlich hat Rußland zwischen 1905 und 1917 nicht weniger als drei
Revolutionen erlebt. Schon die erste Revolution des Jahres 1905 hatte auf
Österreich eine stärkere Wirkung ausgeübt als auf andere europäische Länder.
Das war so, weil die innere Lage im Zarenreich der in der Habsburgermonarchie
ähnelte. Beide waren Vielvölkerstaaten, in denen das herrschende Volk, das
„Staatsvolk“, ökonomische wie politische Privilegien genoß und die nationalen
Unabhängigkeitsbestrebungen der anderen Völkerschaften niederhielt. In beiden
Ländern behaupteten sich hartnäckig überkommene feudale Strukturen, war der
obrigkeitsstaatliche Charakter des Regimes besonders ausgeprägt. Der
revolutionäre Funke aus Rußland sprang daher auf einen Boden, der sich hier
leichter entzündete als anderswo. Eine große Massenbewegung der Arbeiterschaft,
ausgelöst von der russischen Revolution, erzwang damals in Österreich die
Einführung des allgemeinen Wahlrechts. IV.Lehrreich ist nun, wie die herrschenden Schichten in Österreich auf die Zusammenballung der Widersprüche zu einer revolutionären Krise reagierten. Bis dahin hatte sich das Proletariat gegenüber der Bourgeoisie in einer äußerst ungünstigen Lage befunden. Das Kapital übte auf der ganzen Welt die Macht aus, in seinen Händen befanden sich die durch jahrhundertelange Traditionen geheiligten Instrumente zur Durchsetzung und Behauptung der Herrschaft. Das Proletariat hingegen war nicht nur eine ökonomisch ausgebeutete, sondern auch eine erniedrigte, materiell und geistig benachteiligte Klasse gewesen. Damit war es schon mit der russischen Februarrevolution des Jahres 1917 vorbei. Jetzt begann sich das Kräfteverhältnis zwischen den einander feindlich gegenüberstehenden Hauptklassen zugunsten des Proletariats zu verändern. Es ging zum Angriff über und drängte die Bourgeoisie in die Defensive. Die kaiserliche Regierung sah sich somit im Frühjahr 1917 gezwungen, zu lavieren, die Linie des „harten“ Kriegsabsolutismus zu verlassen, einen flexibleren Kurs einzuschlagen und den Massen eine Reihe von Zugeständnissen zu machen. Das österreichische Parlament wurde nach dreijähriger Zwangspause wieder einberufen und eine Amnestie für politische Häftlinge verkündet. Man gestand den Arbeitern in den militarisierten Betrieben der Rüstungs- und Schwerindustrie die Bildung von „Beschwerdekommissionen“ zu, gewährte Lohnerhöhungen und soziale Verbesserungen. Dazu zählten der Mieterschutz, das Verbot der Nachtarbeit im Bäckergewerbe, die Erhöhung der Krankengelder und Unterhaltsbeiträge u.a.m. In einzelnen Betrieben gründeten die Arbeiter im Frühjahr 1917 spontan „Fabrikausschüsse“ mit dem Ziel, eine gerechtere Verteilung der Lebensmittel zu erreichen. Das war der erste Versuch, nach dem Vorbild der russischen Sowjets den Rätegedanken - so wie ihn die Arbeiter mangels genauer Information damals verstanden - auf österreichische Verhältnisse zu übertragen, auf einem Teilgebiet, dem der Lebensmittelversorgung, die unfähigen und durch Korruption schon zersetzten staatlichen Organe durch Organe der Arbeiter zu ersetzen. V.Am größten war jedoch die Wirkung der dritten russischen Revolution, der
sozialistischen Oktoberrevolution. Denn sie zeigte, daß es der Arbeiterklasse
möglich war, die Macht zu erobern. Sie erst hat den von den Volksmassen in
allen kriegführenden Ländern so heißersehnten Friedensschluß in den Bereich des
Realisierbaren gerückt. Und sie hat schließlich demonstriert, daß die Sowjets,
daß Arbeiter- und Soldatenräte nicht nur Kampforgane zur Erringung vermehrter
Mitspracherechte sein können, sondern auch Machtorgane, Träger einer
proletarischen Staatsmacht. VI.Am 14. Jänner 1918 kam es zur Explosion. In Wiener Neustadt legte die Belegschaft der Daimler-Motoren-Werke die Arbeit nieder. Binnen weniger Tage weitete sich der Streik auf ganz Österreich aus. Am Höhepunkt der Bewegung, am 19. Jänner, befanden sich in der Habsburgermonarchie 750.000 Arbeiter im Ausstand (in Österreich einschließlich Krakau, Brünn, Mährisch-Ostrau und Triest 550.000, in Budapest und anderen ungarischen Städten 200.000). Der Jännerstreik war nicht nur die bedeutendste revolutionäre Streikaktion in der gesamten Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, nicht nur ein durch und durch politischer Streik, ein Streik für den Frieden, sondern darüber hinaus der Höhepunkt der sozialen und politischen Konfrontation zwischen den herrschenden Klassen und den Volksmassen in Österreich. Bis zum Ende des ersten Weltkrieges war er neben der russischen Revolution die größte Erhebung der Arbeiterschaft in ganz Europa. Überall bildeten sich nach russischem Vorbild Arbeiterräte zur Führung des Ausstandes. Im Jänner 1918 waren die objektiven Bedingungen für eine revolutionäre Veränderung herangereift, der kaiserliche Herrschaftsapparat, ja das gesamte Gesellschaftssystem standen am Rande des Abgrundes. In einem von Kaiser Karl an Außenminister Graf Czernin am 17. Jänner nach Brest-Litowsk gesandten Telegramm hieß es: „Ich muß nochmals eindringlichst versichern, daß das ganze Schicksal der Monarchie und der Dynastie von dem möglichst baldigen Friedensschluß in Brest-Litowsk abhängt...Kommt der Friede nicht zustande, so ist hier die Revolution, auch wenn noch so viel zu essen ist. Dies ist eine ernste Warnung in ernster Zeit.“ Nur aufgrund der intensiven Bemühungen der sozialdemokratischen Parteispitze, gegen deren Willen der Ausstand ausgebrochen war und die den Kampf um die Staatsmacht nicht zu führen gewillt war, gelang es entgegen heftigen Protesten der Arbeiter, die grandiose Streikbewegung beizulegen und sie auf papierene Kompromißergebnisse zu begrenzen. Diese ernüchternde Erfahrung war für die revolutionären Kräfte der entscheidende Anstoß, mit dem Reformismus zu brechen und eine neue, eine kommunistische Partei zu gründen, die am 3. November 1918 ins Leben trat. VII.Das Fanal der Oktoberrevolution fand auch in den Streitkräften Österreich-Ungarns tiefen Widerhall. Die Soldaten an der Ostfront weigerten sich, weiterzukämpfen, und verbrüderten sich mit ihren russischen Kameraden. Österreichische Kriegsgefangene in Rußland erklärten sich bereit, die Sowjetmacht in ihrem Kampf gegen die innere und äußere Konterrevolution zu unterstützen und wurden Kommunisten. Zu ihnen zählten Persönlichkeiten wie Johann Koplenig, Gottlieb Fiala, Karl Tomann, Heinrich Brodnig, Gregor Kersche, Josef und Anna Grün, die nach ihrer Heimkehr in der KPÖ an führender Stelle tätig waren. Im Februar 1918 kam es zum Aufstand der Matrosen von Cattaro, deren Ziele von den Prinzipien der Oktoberrevolution (demokratischer Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, Erklärung des Selbstbestimmungsrechts der Völker bis zum Recht auf Bildung eigener, unabhängiger Staaten) stark beeinflußt waren. Im Mai 1918 meuterten in mehreren Garnisonen Österreich-Ungarns Ersatztruppenkörper der kaiserlichen Armee, deren Träger, fast durchwegs aus Rußland heimgekehrte Kriegsgefangene und - wie es in einer Kundmachung des Generalobersten Rhemen hieß - „von den bolschewikischen Ideen so besessen, daß sie den seiner Majestät geleisteten Treueid schmählich vergaßen“, standrechtlich erschossen wurden. VIII.Wenn man von den Auswirkungen der Oktoberrevolution auf Österreich spricht, so wäre es primitiv und falsch, sich darunter einen „Export der Revolution“ in Form von „Zersetzungsarbeit“ irgendwelcher Agitatoren vorzustellen. Der revolutionäre Aufschwung in Österreich in den Jahren 1917 und 1918 war das Ergebnis der Zuspitzung aller Widersprüche im Inneren unseres Landes, die unabhängig vom Wunsch oder Willen einzelner Personen, Parteien oder Klassen erfolgte. Die Wirkung der sozialistischen Oktoberrevolution bestand darin, daß sie die bereits vorhandene Krise in Österreich verstärkte und den Kampf der Arbeiter auf eine neue, qualitativ höhere Stufe hob. Der Einfluß blieb daher nicht auf die Tage und Wochen nach dem 7. November 1917 beschränkt, sondern erstreckte sich über einen längeren Zeitraum, im Grunde genommen und unmittelbar ablesbar bis zum Ende der revolutionären Nachkriegskrise in Österreich im Herbst 1920. Ohne das russische Revolutionsbeispiel und die ebenso vom sozialrevolutionären Impetus getragenen Räterepubliken in Ungarn und München des Frühjahrs 1919, die wie Damoklesschwerter über den besitzenden Klassen schwebten und sie zu Zugeständnissen zwangen, wären die wesentlichen politischen und sozialen Errungenschaften der Umwälzung in Österreich in dem Umfang und der Tiefe nicht möglich gewesen - als da waren: Ausrufung der Republik, Erweiterung der demokratischen Rechte für die Volksmassen, starke Stellung der Arbeiter- und Soldatenräte, Achtstundentag, Arbeitslosenunterstützung, Arbeiterurlaubsgesetz, Betriebsrätegesetz, Gründung der Arbeiterkammern. IX.Es ist in dem Rahmen nicht möglich, auf jene Wirkungen einzugehen, die in
der Epoche danach der zum Staat und nach 1945 zum Staatensystem gewordene
Sozialismus auf die Welt und auf Österreich ausübte. Sie waren höchst
bedeutsam, und ihr Gewicht wird einem umso mehr bewußt, seit dieses System als
gesellschaftliche Alternative, die die Gegenwelt des Kapitals ernst nehmen
mußte, nicht mehr existiert. Es eröffnete den arbeitenden Menschen bei uns
umfangreiche, bis dahin nicht dagewesene und nicht gekannte Möglichkeiten für
die Verteidigung ihrer Lebensinteressen und ließ ihnen soziale Errungenschaften
zukommen, die ohne diese Systemkonkurrenz undenkbar gewesen wären. Was seit
einigen Jahren zu verzeichnen ist, gegenwärtig geschieht und künftig bei uns
sich fortsetzen wird, die immer vehementer und dreister betriebene Demontage
dieser ökonomisch-materiellen Zugeständnisse, der Rückbau des sogenannten
„Sozialstaates“, bliebe unverständlich ohne den Fortfall des realen
Sozialismus. Referat auf dem Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft „80 Jahre
Oktoberrevolution“, 8. November 1997 |
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