Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Hans Heinz Holz: Walter Hollitscher - Vom Wiener Kreis zu Marx

Ich war dreiundzwanzig und ein junger Student in Frankfurt am Main, als ich in Berlin anlässlich eines Auftrages, den ich vom demokratischen Kulturbund erhalten habe, Walter Hollitscher zum ersten Mal begegnete. Ich suchte natürlich den marxistischen Philosophen auf, der mir Ratschläge geben sollte für mein weiteres Studium.

Als ich ihm sagte, ich beschäftige mich mit Fragen der Ästhetik, kam für mich die ganz erstaunliche Reaktion von einem Mann, den ich eigentlich mehr der Naturphilosophie zugeordnet hatte. Ja, kennst du den Christopher Caudwell, er war ein englischer Ästhetiker, der im Spanienkrieg auf der Seite der Republikaner gefallen ist, und einige wichtige Werke zur Kunst- und Kulturtheorie hinterlassen hat. Ich kannte ihn natürlich nicht, denn es gab von ihm damals kein Buch, außer ein einziges in englischer Sprache. In Deutschland ist er auch erst 1968 zum ersten Mal im Zuge der Studentenbewegung übersetzt worden. Ich erzähle das, um zu sagen, wie breit und reich Walter Hollitscher den gesamten Bereich der Geisteswissenschaften, der Philosophie und der Naturwissenschaften, aus denen er ja eigentlich herkam, auf die Probleme der Zeit reagierte und dass es unter diesen Umständen natürlich ganz ausgeschlossen ist, in einem kurzen Eröffnungsvortrag, der nicht mehr als eine halbe Stunden dauern soll, der Breite und der Souveränität dieses großen Gelehrten gerecht zu werden. Ich kann also nur einige Aphorismen zu seinem Werk und zu seiner Bedeutung, seiner Bedeutung vor allen Dingen auch für uns und für mich natürlich, weil ich Philosoph bin, insbesondere in meiner eigenen Wissenschaft anmerken.

Wenn diese Gedenktagung unter den Titel steht „Zwischen Wiener Kreis und Marx“, dann würde ich sagen, ist das Wort „zwischen“ fast noch ein wenig untertrieben, denn es müsste ja eigentlich gesagt werden, Hollitscher war den Weg gegangen vom Wiener Kreis zu Marx. Es war selbstverständlich in den Zwanzigerjahren, dass ein dem Irrationalismus der Zeitströmungen widerstehender junger Gelehrter, ein Gelehrter der insbesondere auch durch sein Studium der Naturwissenschaften, der Biologie und Medizin, wie wir gehört haben, mit den realen Fragen der empirischen Wissenschaften konfrontiert war, dass ein solcher angehender Gelehrter sich an einer philosophischen Richtung orientierte, die für sich in Anspruch nahm, den Vorrang der Vernunft zu bewahren, eine rationale Philosophie zu sein. Und das hat ja die gesamte Tradition des Wiener Kreises im Verhältnis zu den weltanschaulichen Strömungen der bürgerlichen Philosophie des späten 19. und 20. Jahrhunderts ausgezeichnet, dass auf der Striktheit der ideologischen und vernünftigen Argumentation bestanden wurde. Allerdings hat sich der Wiener Kreis in der Abwehr dieser irrationalistischer Strömung der spätbürgerlichen Philosophie einen viel zu engen Begriff dessen gemacht, was Vernunft zu leisten habe. In der Sprache Hegels würde man sagen, der Wiener Kreis hat sich ausschließlich auf die Verstandesseite der Vernunft beschränkt und gerade nicht das angestrebt, was Vernunft zu leisten hat, nämlich über die durch die endlichen Grenzen unseres Verstandes bedingten Möglichkeiten der Erfahrungserkenntnis hinaus einen Entwurf von Welt im Ganzen, die ja über unsere möglichen endlichen Erfahrungen geht, zu machen. Im Gegenteil, es war das Programm des Wiener Kreises, darauf zu verzichten, das, was man Weltanschauung nannte, überhaupt noch für eine philosophisch sinnvolle Aufgabe zu halten. Selbstverständlich hat jeder Mensch eine Weltanschauung und orientiert sich irgendwo in dieser Welt, aber darüber noch philosophisch, logisch abgesicherte und begründete Aussagen machen zu können, genau dies leugnete der Wiener Kreis.

 Wenn wir jetzt schon in den Einführungsworten von Hans Hautmann gehört haben, das große Lebenswerk von Walter Hollitscher war das Werk „Mensch und Natur im Weltbild der Wissenschaft“, war der Entwurf einer gesamten wissenschaftlichen Weltanschauung, die mehr war als nur die auf endliche empirische Aussagen zu begrenzenden Einzelwissenschaften, dann sehen wir schon, wie weit er sich in seinem eigenen Denken, seiner eigenen Denkentwicklung von den Ausgangsbedingungen des Wiener Kreises entfernt hat, obwohl er bis an sein Lebensende immer an der Strenge des Anspruchs rationaler Philosophie festgehalten hat. Und wie wir ja aus der großen Tradition des klassischen deutschen Idealismus von Leibnitz über Kant bis zu Hegel doch wissen, dass es auch eine Rationalität nicht nur des empirisch Absicherbaren geben kann, sondern auch der Rationalität dessen, was man in jener Zeit spekulative Philosophie genannt hat. Die Doppelrichtung, die Zweiseitigkeit unseres Verstandes- und Vernunftsvermögens, einerseits eingegrenzt zu sein in die Tätigkeit empirischen Wissens und andererseits nicht umhin zu können, über die Grenzen es empirischen Wissens hinaus eine Konzeption des Ganzen der Welt zu entwerfen, damit wir uns in der Welt orientieren können, wie schon Kant sagt. Diese Zweiseitigkeit unseres Denkens hat in der Begründung der marxistischen Philosophie zuerst mit aller Deutlichkeit Friedrich Engels entwickelt. Friedrich Engels, der ja auch davon gesprochen und das Wort geprägt hat, dass der Marxismus, die marxistische Philosophie eine „wissenschaftliche Weltanschauung“ zu sein hat. Eine wissenschaftliche Weltanschauung heißt also sowohl eine Weltanschauung, die die empirischen Möglichkeiten unseres Erfahrungswissens im Hinblick auf das Ganze, auf die Kategorie Totalität überschreitet, wie es auch in der „Dialektik der Natur“ heißt, Dialektik sei die Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs. Der Gesamtzusammenhang ist nicht in der Erfahrung der einzelnen Wissenschaften gegeben, aber hält sich streng an das Bild, das im wissenschaftlichen Wissen erarbeitet vorliegt und als gesichert oder wenigstens für eine Epoche gesichert (denn wissenschaftliches Wissen entwickelt sich ja immer weiter) zu gelten hat. Diese Doppelfunktion der Philosophie, einerseits sich an die Wissenschaft zu binden und andererseits wissenschaftliche Weltanschauung, das heißt Entwurf des Ganzen zu sein, diese Doppelfunktion der Philosophie war es, die über dem gesamten Lebenswerk von Walter Hollitscher steht. In einer vor mehr als zwanzig Jahren erschienenen Schrift zur „Kritik der philosophischen Grundposition des Wiener Kreises“ von Jörg Schreiter, im damaligen philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften der DDR entstanden, lese ich, der Einzige von den Schülern Schlicks im Wiener Kreis, der von da aus den Weg wieder zum Gesamtkonzept einer Philosophie gefunden hat, sei Walter Hollitscher gewesen. Ich muss das in einem gewissen Sinn korrigieren, es gab einen zweiten Schüler des Wiener Kreises, einen italienischen Kollegen, Ludovico Geymonat, den großen Wissenschaftshistoriker, dessen zehnbändige „Geschichte der Philosophie im Zusammenhang mit der Geschichte der Wissenschaften“ eines der Standardwerke unserer Disziplin ist. Geymonat, der als Promovend und Schüler des berühmten Mathematikers Peano zur Fortsetzung seines Studiums nach Wien ging und bei Schlick und bei Reichenbach seine philosophische Fortbildung erfuhr, ist denselben Weg gegangen, um auch unter Insistenz auf der Rationalität des einzelwissenschaftlich logisch gesicherten Denkens die Kategorie eines Ganzen von Welt nicht aus dem Blick zu verlieren. Und in seiner deutsch auch erschienenen „Theorie der Wissenschaften“ beginnt er damit, dass die Unverzichtbarkeit der Kategorie Totalität, als des Gesamtzusammenhanges, die Voraussetzung einer Philosophie sei, die nicht nur die Richtigkeit von Aussagen überprüfen sondern die uns eine Orientierung in der Welt vermitteln will.

So hat auch Walter Hollitscher schon sehr früh, in einer der ersten Publikationen nach dem Zweiten Weltkrieg, die in Deutschland herauskam, geschrieben: „So besteht die Aufgabe der modernen materialistischen Philosophie darin, ein allgemeines und verallgemeinerndes Fazit aus den Methoden und Ergebnissen der Wissenschaft von der Entwicklung der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Denkens zu geben“. Und dann in einem etwas pathetischen Schluss dieses Aufsatzes: „die wissenschaftliche Weltanschauung, die unser Orientierungsmittel im Ozean der auf uns einströmenden Erfahrungen und unser Mittel zur Erkenntnis und Veränderung der Realität ist, wird durch die Philosophie zusammengehalten“. Ich lege Wert nicht nur auf das Wort Erkenntnis, sondern auch auf das Wort Veränderung, denn wir leben ja in einer sich verändernden Welt. Als ich Hollitscher kennen lernte, da hatten wir alle ja noch die Hoffnung, dass wir eine neue Welt bauen können, eine Welt des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, wir waren getragen von Optimismus. Wir dachten, wir bauen jetzt eine Welt auf, in der die Klassengegensätze allmählich verschwinden werden, in der der Unfriede aufgehoben wird, in der die Funktion einer Weltorganisation wie der UNO eine friedensstiftende Funktion besitzt. Wir sind ja sehr bald belehrt worden, dass unter dem Druck des großen Kapitals sich das nicht so realisieren ließ, wie wir es gedacht hatten. Aber immerhin war damals diese junge Generation getragen von der Überzeugung. Das Wort „Veränderung der Realität“ sagte uns mehr vielleicht als manchen heute. Wir glaubten daran – nun, wir sind der Illusion gefolgt, zu glauben – dass wir in kurzer Lebensfrist die Welt verändern könnten. Aber die Welt verändert sich natürlich immer, und sie hat sich verändert seit der Sklavenhandelgesellschaft über den Feudalismus über den Kapitalismus und sie wird sich mit Notwendigkeit zu einer den Kapitalismus überschreitenden Gesellschaftsordnung hin verändern, weil der Kapitalismus seine internen Widersprüche, seine Selbstwidersprüche hervorbringt, die ihn an die Grenzen der Funktionsfähigkeit seiner selbst als Gesellschaftssystem führen. Er hat, wie Marx das im „Kommunistischen Manifest“ beschrieben hat, zunächst die ungeheuer progressive Funktion gehabt, die Entfaltung der Produktivkräfte zu entfesseln und zu enthemmen, die Menschen also auf einen Weg des Produzierens gesellschaftlichen Reichtums freizusetzen, aber inzwischen hat der Kapitalismus – und das ist die Dialektik der Geschichte – über die uns Hollitscher vieles zu sagen gehabt hat, die Grenzen seiner Funktionsfähigkeit erreicht und hat uns in allen Bereichen unseres Lebens in eine für die Gattungsgeschichte der Menschheit bedrohliche Lage gebracht. Wenn wir also nicht in dieser Lage untergehen wollen, dann bleibt uns gar nichts anderes, als die Welt zu verändern, und ich bin auch fest überzeugt, dass wir sie verändern werden – unter welchen Opfern das geschieht, ist eine andere Frage. Hollitscher war einer, der sein Leben lang unbeirrt auch an dieser Veränderung dieser Welt mitgearbeitet hat. Also Veränderung der Realität. Veränderung der Realität ist aber nicht möglich, ohne dass wir uns doch ein Ziel setzen. Wir verändern ja nicht Realität in irgend einer Weise irgend wo hin, sondern wir wollen sie auf einen bestimmten Zweck, auf die Verbesserung der Zustände verändern. Wollen wir uns aber im Gesamtzusammenhang der vielen Phänomene, die uns begegnen, also in diesem Ozean der auf uns einströmenden Erfahrungen, um es mit den Worten Hollitschers zu sagen, im Hinblick auf zukünftige Zwecke, rational begründbare Zwecke und nicht einfach utopistisch illusionistisch orientieren, dann bedürfen wir einer Theorie des Gesamtzusammenhanges, eines Entwurf des Gesamtzusammenhanges. Das kann natürlich nie – und darauf hat Hollitscher in allen seinen Schriften nachdrücklich hingewiesen – ein Entwurf sein, der eine endgültige Wahrheit behauptet, so sei die Welt im Gesamtzusammenhang, sondern es kann immer nur der Entwurf eines Modells von Gesamtzusammenhang sein. Alle großen Metaphysiken der Weltgeschichte waren Modellentwürfe von Welt im Ganzen, und nur da, wo sie dem Irrtum verfielen, zu meinen, dass das Modell eine identische Abbildung sei des Gesamtzusammenhangs, sind sie zu reaktionären Positionen erstarrt. Wo aber die Modellentwürfe nichts anderes als eine Orientierung in einem Entwicklungsprozess von Welt gegeben haben auf einen Entwurf hin, wie überhaupt das Ganze gedacht und im Kopf konstruiert werden könne, damit wir planmäßig zu handeln vermöchten, da hat in der gesamte Geschichte der Philosophie, von Aristoteles bis Hegel, die Metaphysik natürlich immer eine progressive Funktion gehabt. Diese Doppelseitigkeit auch in der Funktion unserer geistigen Entwürfe, die etwas anderes sind als nur naturwissenschaftliche Abbildungen von Sachverhalten – diese Doppelfunktion, also zugleich progressive Perspektiven eröffnen zu können und sie durch dogmatische Verhärtung wieder zuzustellen, dies ist die große Auseinandersetzung, die sich durch die ganze Geschichte der Philosophie zieht. Und an der wir zu lernen haben, was Philosophie leisten kann, eben diese Orientierungswissenschaft zu sein, und was sie nicht leisten kann, nämlich eine Art quasi religiöses Abbild einer Welt, Abbild einer Welt im Ganzen zu sein. Das hat Walter Hollitscher in einer Einleitungsvorlesung in Wien, die er, ich glaube im Rahmen des Volksbildungsprogramms über den „Nutzen der Geschichte der Philosophie“ gehalten hat, sehr deutlich herausgestellt. Er sagte, wir können uns von dieser Welt nicht an Planungen, Entwürfen, an ethischen Normen orientieren, wenn wir nicht zugleich die Geschichte all der Begriffe, all der Konzepte, all der Vorstellungen, die in diese Orientierung eingingen, mitzudenken vermögen. Denn eben nur, indem wir die Geschichte mitreflektieren, können wir uns sowohl der realen Seite wie der ideologischen Verzerrungen solcher Entwürfe an den Beispielen der großen Philosophie bewusst werden.

Philosophiegeschichte muss als eine Geschichte ihrer Probleme, wie sie aus den historischen Bedingungen der jeweiligen Entstehungszeit heraus sich bilden, verstanden werden, um aus der Problemgeschichte die Analogie zu den Fragen zu gewinnen, die sich uns stellen, die nie dieselben Probleme sind, die einer der großen Philosophen hatte, aber doch in einer genauen Beziehung dazu stehen. Wir lesen heute Hegel mit einer – ich muss es von mir sagen – ungeheuren Begeisterung, was dieser Mann alles unter den Bedingungen der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft als interne Selbstzersetzungserscheinungen dieser bürgerlichen Gesellschaft gesehen hat. Aber so wie er es in der Rechtsphilosophie beschreibt, ist es natürlich nicht eine Beschreibung dessen, wie wir heute die bürgerliche Gesellschaft kritisch sehen, sondern ist die Beschreibung der Probleme, die sich unter den Bedingungen der damals entstehenden bürgerlichen Gesellschaft gestellt haben. Und nur wenn wir diese Differenz mitdenken, kann Hegel für uns aktuell sein. Wenn wir Hegel in die Hand nehmen und lesen ihn so, als ob er jetzt ewige Wahrheiten verkündete, dann wird das alles toter Wissensstoff. Wenn wir es aber als ein Stück der geistigen Bewegung auffassen, in der wir uns selbst befinden, deren Erben wir sind, und die wir selbst den Jüngeren zu vererben haben, verstehen, dann bekommen diese relativ auf das Jahr 1820 bezogenen Arbeiten Hegels für uns ungeheure aktuelle Bedeutung. Und dasselbe gilt natürlich auch für Marx. Wenn wir heute im „Kapital“ lesen, was Marx alles schon über die Probleme gesehen hat, die mit der Ausbeutung der Natur entstehen, also ökologische Probleme, die 1860 natürlich überhaupt keine brennenden Probleme waren, aber natürlich zurücktreten hinter den damals aktuellen Problemen der politischen Bedingungen – dann wissen wir, wie in den Denkprozessen sich bereits antizipierend keimhaft zeigt und ausbildet, was in späteren Zeiten sich dann voll, wie Ernst Bloch gesagt hat, herausprozessiert hat.

Und so eignen wir uns das Erbe unserer Großen an. Nicht indem wir sie in tote Schemata fixieren, sondern indem wir uns auf ihre eigene Denkbewegung einlassen. Auf die Denkbewegung, die Marx dahin geführt hat zu sehen, dass die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen unter Bedingungen geschieht, die zugleich eine zerstörende Ausbeutung der Natur ist, wie ja der Mensch selbst ein Element der Natur ist. Nur noch ein weiteres Beispiel: Ich bin überrascht, was Marx bereits alles über den Globalisierungsprozess gesagt hat. Das steht alles schon im 24. Kapitel des „Kapital“, was heute sich abspielt, nur natürlich in einer damals noch abstrakten Form, während wir es heute in der Entfaltung des Finanzkapitals vor Augen vorgeführt bekommen. Dies, meine ich, gehört also mit zum Aneignen dessen, was der Mensch in der Geschichte und Gesellschaft ist. Ich glaube, dass es ganz wichtig war, dass Hollitscher schon sehr früh die Perspektiven der aktuellen Aneignung publiziert hat, im Zweiten Weltkrieg, als wir noch in einer Phase steckten, wo das Zitieren von Autoritäten wichtiger war als das eigene Denken. Er hat aufmerksam gemacht hat, wie wichtig es ist, dass wir in der Aneignung unserer ganzen Geistesgeschichte, Philosophiegeschichte und Kulturgeschichte uns mit der Gegenwart einlassen und dass ohne diese Vermittlung der Gegenwart mit der Geschichte wir den Boden der Realität unter den Füßen verlieren. Es gehört mit zu den großen Krisenerscheinungen unserer Zeit, dass wir uns von unseren geschichtlichen Voraussetzungen weitgehend abgekoppelt haben. Wenn man sieht, was heute in Schulbildungs- und Universitätsreformplänen an Inhalten abgestrichen wird, die konstitutiv sind für die Identität unserer Kultur, für unser Sein als Kulturwelt, wenn man sieht, dass dies gerade eine Politik ist, die sozialdemokratische Kulturpolitiker tragen, unter Verleugnung dessen, was sie sozusagen aus ihrer eigenen Geschichte hätten lernen müssen, dann ist es umso wichtiger, dass Denker wie Hollitscher bei uns im Gedächtnis bleiben. Denker, die die Realwissenschaften der Gegenwart weiter entwickeln und mit der Geschichte unseres Denkens vermitteln. Das sage ich jetzt nicht nur in Bezug auf die Person Walter Hollitschers, sondern das sage ich in Bezug auf uns alle, die wir hier sitzen, und insbesondere auch für diejenigen, die in der Klahr Gesellschaft mitarbeiten; es ist eine ganz, ganz wichtige Funktion, die Kommunisten in dieser Welt haben, dass sie geschichtsbewusst sind und wissen, dass die Gegenwart nur aus dem Werden ihrer Selbst, ihrer Geschichte heraus verstanden werden kann. Dass sie an dieser Kulturtradition, an diesem Erbe festhalten, dass sie die Träger der Identität unserer Kultur geblieben sind in einer Zeit, in der auch die Erben der analytischen Philosophie, auch die Erben des Wiener Kreises, das Wissen um unsere Geschichte längst abgeschrieben haben. Und in diesem Sinne meine ich, steht eben Walter Hollitscher nicht zwischen dem Wiener Kreis und Marx, sondern er ist vom Wiener Kreis zu Marx gegangen und hat von Marx her das auch aufnehmen können, was am Wiener Kreis bedeutungsvoll war. Aber er hat in einem Zusammenhang des Denkens einen Entwurf von Prozessen integriert, die weit über all das hinausgeht, was bürgerliche Philosophie heute noch leistet.

Vortrag auf dem Symposium „Zwischen Wiener Kreis und Marx. Gedächtnisveranstaltung zu Ehren von Walter Hollitscher (1911-1986)“, 20. Oktober 2001, Wien
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3/2001

 

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