Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Gerhard Jagschitz: Ein Jahr EU-Mitgliedschaft Österreichs Ergebnisse und Erfahrungen

Seit dem EU-Beitritt stehen wir in der österreichischen Politik vor einer Situation, die wir alle in ihrer Tragweite noch nicht begriffen haben. Eine meiner Hauptthesen ist, daß diese Abstimmung schleichend gekommen ist, daß sich diese Europäische Union gleichsam schleichend in unser Haus gesetzt hat. Die Konsequenzen sind für uns alle dramatisch. Es wird eine wichtige Aufgabe für die politische Hygiene dieses Landes sein, die Dimensionen dieser Veränderung bekannt zu machen und über ihre Vor- und Nachteile, über ihre Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit zu sprechen. Ich glaube also, daß den EU-kritischen Kräften eine sehr wichtige Aufgabe zufällt, die der politischen Aufklärung. Das hat nichts mit weltanschaulichen Positionen zu tun, sondern damit, daß wir ein demokratisches Grundklima, einen demokratischen Grundkonsens benötigen, ohne den diese Aufgabe nicht zu bewältigen ist.

Zunächst ein paar Bemerkungen zur Vorgeschichte des Beitritts. Wenn man sich die Presse anschaut, fällt sofort auf, daß es eine lange Vorbereitungsarbeit in den einschlägigen Zeitungs- organen gegeben hat. Schon seit 1986/87 wird ständig über die Europäische Union berichtet. Das ist am Bewußtsein der österreichischen Öffentlichkeit zum Großteil vorbeigegangen. Die Folge war, daß dann, als die öffentliche Diskussion über der Beitritt begann, es bereits eine ausgeprägte Zeitungslandschaft gegeben hat und die Menschen in dieser Richtung bereits „präpariert“, ja manipuliert waren. Bis 1988/89 hat man sich noch nicht mit den wichtigen Dingen beschäftigt. Erst 1991/92 sind die wirklich substantiellen Fragen zum ersten Mal in der Öffentlichkeit behandelt worden.
Meines Erachtens ersieht man daraus ganz deutlich, daß die Vorbereitung der politischen Entscheidung - und eine Volksabstimmung ist nach der österreichischen Verfassung die höchste Entscheidung, die der Souverän, das Volk, treffen kann - in einer Weise erfolgt ist, die den Grundprinzipien der Demokratie widersprach. Es ist nämlich ganz offenkundig so gewesen, daß diese wichtigen Fragen garnicht diskutiert werden sollten. Erst durch das Unbehagen der Bevölkerung sind sie allmählich in die Diskussion eingebracht worden. Plakativ gesagt: Fragen wie die Neutralität, die Souveränität, die Abtretung von Souveränitätsrechten sind von der Bevölkerung eingemahnt worden, und ihre Diskussion konnte dann nicht mehr verhindert werden.
Die Propagandawalze der EU-Befürworter war: Die Europäische Union ist das Land, in dem Milch und Honig fließt, es ist die Festung, aus der man sich nicht ausschließen darf, durch den Beitritt wird alles wesentlich besser werden. Man malte einen paradiesischen Zustand an die Wand. Ein Kollege von mir hat die direkten Finanzierungskosten der offiziellen Regierungs- propaganda zusammen mit den indirekten Finanzierungen berechnet, und kam auf einen Betrag von etwa zwei Milliarden Schilling. Wie man daraus ersieht, wurden gewaltige Summen für die Werbekampagne flüssig gemacht. An ihr beteiligt haben sich auch Institutionen, die ihrer Tradition nach eigentlich Skepsis hätten zeigen müssen. Dazu zählte der Gewerkschaftsbund, dessen Spitzen den EU-Beitritt befürworteten.
Demgegenüber waren die Gegner des EU-Beitritts inhomogen. Es gab ein breites Spektrum von ganz rechts bis ganz links mit unterschiedlichen Motiven der Ablehnung. In Österreich ist es zum Unterschied zu den skandinavischen Ländern zu keiner einheitlichen und schlagkräftigen, über weltanschauliche Gegensätze hinausgreifenden Anti-Bewegung gekommen. Einer der Gründe dafür war, daß ein großer Teil der Eliten den Verlockungen erlegen ist. Viele Wissenschaftler und in der Öffentlichkeit stehende Personen, die eigentlich gegen den EU-Beitritt waren, haben sich nicht zu weit vorwagen und öffentlich deklarieren wollen. Andere sind durch Versprechungen wie Forschungsprojekte, Europa-Institute und anderes mehr gezielt stillgelegt worden. Man hat die Eliten, die doch eigentlich die „kritische Masse“ der Gesellschaft sein sollten, mit solchen Methoden aus der Gegnerschaft herausge- brochen. Übrig blieben als Gegner mehr oder minder aufgeregte Bürgerinnen und Bürger, mit denen man relativ leicht fertig werden konnte. Ein Beispiel, das ich selbst erlebt habe: Ein „gestandener“ Wirtschaftsboß legte in einer Diskussion in Kufstein Zahlen und Fakten auf Overhead-Folien vor, gegen die man mangels an detaillierten Kenntnissen nicht ankam und ihnen nicht viel mehr entgegenhalten konnte als emotionelles Unbehagen. Folgerichtig hat man die EU-Gegner als Leute hingestellt, die sich von Emotionen tragen lassen und die „Realität“ nicht begreifen. In Wahrheit haben aber die EU-Befürworter bei der Volksabstimmung selbst sehr wohl auf der Klaviatur der Emotionen gespielt.
Die Inhomogenität der EU-Gegner hat weiters dazu geführt, daß die wenigen Mittel, die vorhanden waren, falsch eingesetzt wurden. Mehr noch: Es hat unter ihnen eine Reihe von Leuten gegeben, die man vielleicht nicht als „trojanische Pferde“ bezeichnen kann, die aber völlig inkompetent waren. Hier möchte ich nur die Aktionen des Herrn Schmutzer erwähnen, der mehrmals in jeden Haushalt seine rot-weiß-roten Zettel geschickt hat, aber in einem Stil geschrieben, der viele Leute, auch Sympathisanten, abgestoßen hat. Einer seiner Tricks war, die anderen für sein Grüppchen zu vereinnahmen und sich auf den Hauswurfsendungen mit deren Unterschrift zu brüsten, ohne daß wir den Text je zu Gesicht bekommen haben. Viele haben mich damals angerufen und gefragt, was ich denn  für ein Dummkopf sei, mich zu solchen Dingen herzugeben. Diese politische Unholfenheit war von den EU-Befürwortern leicht zu konterkarieren.
Zuletzt, etwa ab dem Jahr 1992, kam das massive „Zumachen“ der öffentlichen Medien dazu. Es war für uns praktisch kaum mehr möglich, auch nur in eine Diskussion einzutreten. Forderungen in dieser Hinsicht sind abgelehnt worden, meistens mit dem Hinweis auf irgendwelche „oberen Entscheidungen“. Heute wissen wir, daß sowohl im ORF als auch in den Zeitungen ganz massiv „Pressure-Group-Politik“ betrieben wurde. Hat tatsächlich ein Journalist seinen kleinen Freiraum genützt und kritisch kommentiert, erschienen sofort drei oder vier Gegenartikel. Die ganze Medienlandschaft - ausgenommen „Täglich alles“ und „Die ganze Woche“, die aber ein eigenes Kapitel sind - war von den Interessen der EU-Befürworter geprägt. Es hat direkte Absprachen gegeben, Sondernummern wurden finanziert und den Zeitungen beigelegt, usw. Wir haben also ein ganz massives politisches Spiel vor uns. Alle genannten Gründe waren dafür maßgebend, daß die Abstimmung das bekannte Ergebnis gebracht hat.
Erstaunlich ist nun, daß man in den Tagen und Wochen nach der Volksabstimmung nur Leute getroffen hat, die mit „nein“ gestimmt haben. Jeder hat einem geschworen, daß er das „Nein“ auf dem Stimmzettel angekreuzt hat. Wir glaubten vor der Abstimmung, daß die deklarierten Befürworter leicht in Front lägen, daß es aber eine große Gruppe von noch Unentschiedenen gäbe, und deshalb das Votum sehr knapp, nur um zwei oder drei Prozent differierend, für oder wider ausgehen werde. Für die für uns überraschend große Mehrheit waren dann ausschließlich emotionale Argumente entscheidend: Das Hinstellen der EU als einer „Festung“, einer der wirkungsvollsten Propagandatricks überhaupt, der Hinweis, daß wir ja ohnehin schon längst mit der Europäischen Union durch bilaterale Abkommen verbunden seien und ein „Draußen-Bleiben“ Österreich wirtschaftlich zurückwerfe. Man hat mit der Angstparole agiert, daß es bei einem negativen Votum ökonomisch bergab gehen werde, und mit der Hoffnungsparole, daß der EU-Beitritt einen riesigen Aufschwung mit sich bringen werde. Das dritte Propagandaelement, das eine große Rolle spielte, war die Verniedlichung und Verharm- losung aller Konsequenzen: der finanziellen und demokratiepolitischen. Der Bundeskanzler, der Außenminister und andere haben so getan, als ob die Folgen für Österreich nicht gravierend seien und alle möglichen „Garantien“ abgegeben.
Was ist dann nach der Abstimmung passiert? Es zeigte sich ein erstaunliches Phänomen. Von Sieg und Triumph war eigentlich nur bei den Parteifeiern am Abend des Abstimmungs- tages etwas zu spüren, ansonsten aber machte sich unter der Bevölkerung eine merkwürdige Stimmung breit, fast so etwas wie Enttäuschung, obwohl es eine fast Zweidrittelmehrheit gab. Hier zeigte sich eine Diskrepanz, die politisch erstaunlich ist. Es gab so etwas wie das Gefühl der Betroffenheit, für ein politisches Spiel eingespannt worden zu sein.
Der Sommer 1994 hat nicht sehr viel gebracht. Im Herbst waren die Nationalratswahlen, und der 1. Jänner 1995 war ein Tag, den niemand als „historisches Datum“ wahrgenommen hat. Aber dann, glaube ich, ist etwas passiert. In der ersten Hälfte des Jahres 1995 kam es in der österreichischen Bevölkerung zu einem drastischen Stimmungsumschwung. Der Schleier, der vor den ganzen Dingen hing, zerriß, das Gefühl, hineingelegt worden zu sein, war plötzlich da. Das hat mehrere Konsequenzen gehabt. Einmal die Konsequenz, daß Leute, die das Image des großen Siegers von Brüssel hatten wie Mock, ihr Ansehen einbüßten. Mock ist von seinen Parteifreunden auch folgerichtig in den Ruhestand geschickt worden. Die andere Konsequenz war, daß das politische Bewußtsein wieder erwachte, daß kritische Fragen gestellt wurden, denen sich auch die Presse nicht mehr verschließen konnte. Das am 1. Jänner 1995 schlagartig ausbrechende Paradies ist nämlich ausgeblieben. Die Preise sind zwar am Anfang unter großem Werbegetöse ein wenig hinuntergegangen und der Herr Müller ist mit seinen Milchreisen bei uns hereingestürmt, aber im Grunde hat es keine bleibende und als substantiell zu bezeichnende Verbilligung der Waren gegeben. Kleinen Verbilligungen im Bereich der Lebensmittel standen eine erhebliche Zahl von Nichtverbilligungen und teilweise sogar Verteuerungen in anderen Sparten gegenüber. Bei der Zahl der Arbeitslosen zeigten sich auch keinerlei Auswirkungen.
Im Frühjahr 1995 kamen also die Leute drauf, daß keines der versprochenen Dinge tatsächlich eingetreten ist. Jetzt wurde es notwendig, die Taktik zu ändern und zu sagen: Wir haben ja nie versprochen, daß es sofort besser wird, sondern nur, daß sich die positiven Effekte erst nach einer gewissen Zeit der Umstellung und Anpassung einstellen werden. Diese Nichtveränderung der Situation seit dem 1. Jänner 1995 ist meines Erachtens der Hauptgrund dafür, daß die schon seit längerem bestehende Politikverdrossenheit dramatisch zugenommen hat. Wir haben nicht mehr den relativ kleinen wandernden Rand an Wählern wie in den letzten zehn, zwölf, fünfzehn Jahren vor uns, sondern es ist ein tiefer Einbruch in den Kernschichten der etablierten politischen Parteien vonstatten gegangen. Die Zahl der politisch „Heimatlosen“ wird immer größer. Die seit Jahrzehnten festgefügten politischen Lager sind in voller Auflösung begriffen, und die SPÖ und ÖVP haben kein Konzept, mit dem sie dem Wegbrechen ihrer traditionellen Wähler etwas entgegensetzen können. Ich glaube, daß dieser ganze Prozeß durch die EU-Abstimmung beschleunigt worden ist und wir jetzt mitten in einem vollständigen Umbruch der politischen Landschaft in Österreich stehen.
Es ist nämlich noch etwas geschehen: Die politischen Parteien sind als Lobby von den Menschen erkannt worden, als Institutionen, die nur bestimmte Interessen politisch verfechten und nicht mehr das, was die österreichische Politik seit 1945 gekennzeichnet hat, die Politik des Ausgleichs, des Kompromisses und der Harmonisierung. Positiv betrachtet stehen wir jetzt einer wesentlich wacheren politischen Landschaft gegenüber. Die Situation birgt aber auch Gefahren, denn es ist die Frage, in welche Richtung hin sich diese politische Landschaft verändert. Auch Haider ist nämlich eine Alternative. Meines Erachtens verhält man sich ihm gegenüber falsch, wenn man ihn dämonisiert. Man muß ihn auf die Ebene der tatsächlichen konkreten Politik bringen, dorthin, wo er schwach ist, dorthin, wo man ihn bekämpfen kann. Die ersten Ansätze sind schon im gegenwärtigen Wahlkampf bemerkbar und haben die Wirkung, daß er entzaubert wird. Der Hauptteil seiner Wähler kommt aus den enttäuschten, mobilen Schichten, die eigentlich nicht genau wissen, was oder wen man wählen soll.
Die Dynamik der jetzigen Situation rührt auch daher, daß die Struktur der Europäischen Union ökonomisch und politisch für Österreich nicht paßt, daß es die falsche Struktur für Österreich ist. Deshalb die jetzt über die Bühne gehenden einschneidenden Struktur- anpassungen mit den vielen Firmenpleiten, dem Ausverkauf österreichischer Unternehmen ans Ausland, der großen Budgetkrise, bei der es im Grunde ja darum geht, die fünfzig Milliarden, die uns die EU jährlich kostet, irgendwie aufzubringen. Nachdem man uns eingeredet hat, daß es zwölf, maximal achtzehn Milliarden sein werden, die wir nach Brüssel zu zahlen haben werden, von denen sechs wieder an uns zurückfließen, ist jetzt der Augenblick der Wahrheit gekommen. Die österreichische Wirtschaft und Finanzpolitik war einfach nicht darauf vorbereitet, diese gewaltigen Summen tatsächlich an Brüssel abzuführen. Von dem Schlagwort, daß wir als „reiche Erbtante“ und nicht als „armer Vetter“ und Bittsteller in die EU gehen, ist nicht mehr viel übriggeblieben.
Auch das war ein Versäumnis der Politik und hat dazu geführt, daß die Meinung virulent geworden ist, daß die Politiker offensichtlich ihr Geschäft nicht mehr beherrschen. Jetzt stellt sich heraus, daß EU-Kommissare zu uns kommen und uns Befehle erteilen, was wir machen und nicht machen dürfen, es werden Firmen vor den Kadi gezerrt, angezeigt usw. Die Bevölkerung nimmt jetzt wahr, daß wir in vielen Bereichen nichts zu reden haben, und gleichzeitig wird offenbar, daß sich die Europäische Union bei uns nur mit sehr wenigen wirklichen Lösungsmodellen präsentiert. Dazu gehört die Währungsunion, über die jetzt alle Zeitungen schreiben, weil sie das einzige Thema ist, das man quasi noch „verkaufen“ kann.
Eingetreten ist das, was wir vorausgesagt haben: Daß Österreich keineswegs der Vorreiter in Dingen wie Umweltschutz, Atomkraft usw. sein wird, sondern weitgehend in Einklang mit den deutschen Interessen handeln wird. Eine eigenständige Position nimmt Österreich in der EU nur in der Frage des Verhältnisses zu Osteuropa ein. Der Großteil der osteuropäischen Staaten erwartet von Österreich gute Dienste beim Versuch, der EU beizutreten oder Assoziierungs- schritte zu tun. Hier hat sich Österreich gewissermaßen zum Anwalt dieser osteuropäischen Staaten innerhalb der Europäischen Union gemacht.
Wie soll und wie könnte es weitergehen? In den Mitgliedsländern der EU ist ein erhebliches Ansteigen der Bedenken zu verzeichnen, insbesondere in Skandinavien. In Schweden gibt es bereits eine größere Mehrheit gegen die Europäische Union als derzeit in Österreich. In Frankreich, in Großbritannien, in einem gewissen Maß auch in Deutschland, wächst die Opposition gegen die konkrete Konstruktion der EU. Dabei gibt es Varianten, die EU umzubauen in Richtung eines Staatenbundes, in Richtung einer Basisdemokratie, oder die Konzeption der Europäischen Union überhaupt als gescheitert zu betrachten. Meine Erwartung ist, daß sich diese Oppositionellen allmählich europaweit besser zusammenfinden als das gegenwärtig der Fall ist. Es existieren schon einige Netzwerke, aber sie funktionieren bisher nicht gut.
Maastricht II wird wahrscheinlich kleine Entgegenkommen in bestimmten Dingen bringen, demokratiepolitischer Art, auch in der Frage, wie weit die Regierungen autonom handeln können bzw. wieviele zentrale Interessen oder zentrale Macht an die einzelnen Mitgliedsländer abgegeben werden. An der Substanz, bei der Vereinheitlichung und beim Binnenmarkt, wird sich hingegen nichts ändern. Damit das von der Bevölkerung nicht negativ aufgenommen wird, ist schon jetzt eine Pressekampagne im Rollen, um Maastricht II als den großen Schritt zur Überwindung alles dessen zu präsentieren, was derzeit den Menschen Unbehagen bereitet, Maastricht II gleichsam als Schlüssel zum Paradies zu erklären. Die tatsächlichen politischen Strukturen und das tatsächliche politische Handeln innerhalb der EU werden dabei erneut verschleiert. Ich glaube daher, daß trotz der in Österreich unterentwickelten politischen Kultur die Bevölkerung die entsprechenden Informationen einfordern wird.
Der Trend geht dahin, daß sich in steigendem Maß autonome Gruppen herausbilden werden, auf lokaler und regionaler Ebene, noch mehr Bürgerinitiativen usw. Österreich ist hier in mancher Hinsicht schon weiter entwickelt als andere Mitgliedsländer. Nehmen wir die Biobauern her: Bei uns gibt es schon 25.000, das ist mehr als in allen anderen Staaten der EU zusammengenommen. Und sie sind teilweise schon eine sich selbst organisierende Gruppe. Ich erwarte also, daß die Selbstorganisation autonomer Gruppen zunehmen wird und sich dadurch die Kluft und Schere zwischen ihnen und den Interessen der großen Konzerne, die von der Zentralbürokratie in Brüssel verfochten werden, vergrößern wird. Ein Beispiel ist heute schon Tirol. Wenn man sich dort ein wenig herumhört, wird man feststellen, daß die Anti-Transitbewegung, die aus vielen kleinen Gruppen besteht, massiv wächst. Es könnte durchaus sein, daß sich diese autonomen Gruppen zu Teilkoalitionen, zu Themenkoalitionen zusammen- bringen lassen. Das wäre eine sehr spannende Zukunft.
Allerdings muß man auch nüchtern sagen, daß die EU-Gegner bei uns immer noch nicht zusammengefunden haben. Sie zerfallen in mehrere Gruppen mit unterschiedlichen Interessensbereichen. Da sind einmal die Basisbewegungen, zu denen auch der Herr Schmutzer gehört, der bei den jetzigen Wahlen als eigene EU-Austrittspartei wirbt. Dann gibt es die alten Anti-Atomgruppen und die alten Friedensgruppen, die sich jetzt alle in Anti-EU-Gruppen treffen. Die meisten sind von früher her traditionell verfeindet und streiten untereinander auf Mord und Brand. Hier lassen sich vorerst keine Ansätze zu einer Homogenisierung erkennen. Weiters gibt es kleinere Zirkel, die auf ihre Weise konzeptive Arbeit leisten, und schließlich innerhalb von bestehenden Institutionen einfach Gegner. Dazu gehört die Bundeswirtschaftskammer, in der nach wie vor drei oder vier entschiedene Gegner des EU-Beitritts sitzen. Es könnte sein, daß diese Leute künftig gewisse Akzentverschiebungen einbringen. Als positiv ist zu bewerten, daß im Bereich der Zeitungen und der Journalisten ein Aufbrechen der Tabuisierung festzustellen ist. Es wird jetzt in den Presseorganen mehr und kritischer als früher berichtet, und ich glaube, daß man das nicht mehr zurückschrauben können wird. Die internationale Vernetzung der EU-Gegner steckt leider noch in den Kinderschuhen. Sie ist sehr schwer zu bewerkstelligen, weil es unterschiedliche Interessen gibt und sehr wenig finanzielle Mittel dafür vorhanden sind.

Vortrag bei der Generalversammlung der Alfred Klahr Gesellschaft, 18. November 1995
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 1/1996

 

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