| |
Zum Tod von Félix Kreissler (1.8.1917 bis 24.10.2004)
Acht Tage nach seinem Auftreten auf dem Symposium der Alfred Klahr
Gesellschaft, der er als Mitglied angehörte, ist Félix Kreissler verstorben. Wir
verlieren mit ihm einen guten Freund und Förderer unserer Anliegen. Um seiner
würdig zu gedenken, haben wir uns entschlossen, seine Erinnerungen an die
Jugendzeit in Wien und an seinen antifaschistischen Widerstandskampf in
Frankreich zu bringen.
Félix Kreissler und seine Frau Denise überlebten, dank der Solidarität von
Mithäftlingen, und heirateten, nachdem sie sich wieder gefunden hatten, im
August 1945 in Paris. Sofort nach seiner Rückkehr schaltete sich Félix Kreissler
in die politischen und kulturellen Aktivitäten der Österreichischen
Freiheitsfront in Frankreich ein, die sich als Sprachrohr des befreiten
Österreich verstand, und half Rückkehrwilligen, nach Österreich zu gelangen. Er
selbst übersiedelte gemeinsam mit seiner Frau Denise 1947 nach Wien, wo er
zuerst bei der Radioverkehrs-A.G. („RAVAG“) für die „Russische Stunde“
arbeitete. Obwohl schon über 40 Jahre alt, begann Félix Kreissler 1959 in
Frankreich zu studieren, erwarb schließlich drei Doktortitel und wirkte ab
Anfang der siebziger Jahre am Aufbau des Instituts für Germanistik der neu
gegründeten Universite de Haute Normandie in Rouen mit. Mit der Gründung des
Österreich-Zentrums CERA (Centre d'Etudes et de Recherches Autrichiennes) und
der Halbjahreszeitschrift „Austriaca“ gelang es, die Österreich-Kunde an den
französischen Universitäten zu verankern.
Das Ansehen, das Félix Kreissler in der wissenschaftlichen Szene sowohl
Frankreichs als auch Österreichs genoss, kam sinnfällig zum Ausdruck in der 1985
im Wiener Europaverlag erschienen Festschrift anlässlich seiner Emeritierung „Melanges
Félix Kreissler“. In den darauf folgenden Jahren betätigte er sich vor allem als
Vortragender in Frankreich und Österreich sowie Autor zahlreicher Aufsätze,
Besprechungen und Kommentare, verfasste für französische Publikationen
Jahresberichte zum Zeitgeschehen in Österreich und beteiligte sich an vielen
wissenschaftlichen Projekten.
Dass die Österreichische Volkspartei im Februar 2000 mit der Freiheitlichen
Partei trotz der ultrarechten Demagogie von FPÖ-Chef Haider eine Koalition
einging, empörte ihn nicht nur als gebürtigen Österreicher und naturalisierten
Franzosen; in der Bildung der „schwarz-blauen“ Regierung erblickte er auch eine
Gefährdung seines gesamten Lebenswerks, das in hohem Ausmaß der Verbreitung von
Wissen über und der Weckung von Verständnis für Österreich in Frankreich
gewidmet war.
Félix Kreissler hat ein umfangreiches wissenschaftliches Oeuvre hinterlassen.
Seine erste französische Dissertation erschien 1967 auch auf Deutsch („Das
Französische bei Raimund und Nestroy“, die französische Buchausgabe folgte 1973.
Seine zweite Arbeit wurde eine Geschichte der Ersten Republik, die nicht nur in
Frankreich zu einem Standardwerk zur österreichischen Zeitgeschichte wurde:
deutsch 1970 unter dem Titel „Von der Revolution zur Annexion“, französisch1971
publiziert.
1980 legte er jene beiden Bände über den Bewusstwerdungsprozess der
österreichischen Nation vor, die zu seinem einflussreichsten Werk werden
sollten: „La Prise de Conscience de la Nation Autrichienne. 1938–1945–1978“. Der
Böhlau Verlag brachte 1984 eine überarbeitete Ausgabe unter dem Titel „Der
Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozess mit Hindernissen“ heraus. Obwohl
Kreissler in dieser Studie in dem für ihn typischen Stil der etwas koketten
Untertreibung behauptete, dass ihm alle Theorien zur nationalen Frage gleich
wertvoll seien und er über keine eigene verfüge, vertrat er in diesem Resümee
jahrzehntelanger Beschäftigung mit der Rolle der Kultur und Politik im
Nationsbildungsprozess implizit sehr wohl einen theoretischen Ansatz, der schon
im Titel des Buches zum Ausdruck kam. Sowohl im französischen Titel („prise de
conscience“ = das Sich-Bewusst-Werden) als auch im deutschen Untertitel („ein
Lernprozess“) wurde das Prozesshafte betont: Nation war für ihn – ganz in der
französischen Tradition – eine „tägliche Volksabstimmung“, wie Ernest Renan die
Nation 1882 definierte, eine historische Erscheinung, die durch
politisch-kulturelles Handeln zur Option und durch gesellschaftliche Akzeptanz
zur Realität wird. Obwohl er nie ein Hehl daraus machte, dass er sich als in der
marxistischen Tradition stehend verstand und vor allem die Arbeiten Alfred
Klahrs für den entscheidenden Schritt in diesem Bewusstwerdungsprozess ansah,
positionierte sich Kreissler damit abseits der klassischen marxistischen
Definitionen, die ihm offenkundig zu statisch (Otto Bauers „Sprach- und
Kulturgemeinschaft“) oder zu starr (Stalins Vierpunkte-Definition einer Nation)
waren. Obwohl er die Bedeutung ökonomischer Faktoren anerkannte, stand die
Frage, unter welchen wirtschaftlichen Voraussetzungen sich
Nationsbildungsprozesse vollzogen, nicht im Zentrum seiner
kulturwissenschaftlich orientierten Untersuchungen zur Geschichte Österreichs.
Félix Kreissler war Mitautor des – nie ins Deutsche übersetzten – ersten
biografischen Lexikons zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung: Als
einer der ersten Bände des von Jean Maitron herausgegebenen „Dictionnaire
biographique du mouvement ouvrier international“ erschien 1971 der Band „L'Autriche“
von Yvon Bourdet, Georges Haupt, Félix Kreissler und Herbert Steiner. Der
Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung blieb er verbunden über seine
regelmäßige Teilnahme an den „Linzer Konferenzen“ der 1964 als „Internationale
Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung“ gegründeten ITH , auf denen er als
lebhafter Diskutant, mitunter aber auch als Referent auftrat – zuletzt im
September 2000 als Eröffnungsredner der 36. Linzer Konferenz („Erinnerung an
Diktatur und Verfolgung im internationalen Vergleich“).
Félix Kreissler war zahlreichen weiteren österreichische Einrichtungen durch
vielfältige wissenschaftliche und persönliche Kontakte verbunden und hat deren
Tätigkeit auch finanziell unterstützt- neben der Jura-Soyfer-, der Alfred Klahr-
und der Theodor-Kramer-Gesellschaft sowie der 1998 gebildeten Zentralen
österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz (deren Kuratorium er
angehörte) und der 2003 gegründeten Österreichischen Gesellschaft für
Exilforschung (deren Ehrenmitglied er war), war dies vor allem das
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes.
Der Widerstand als historisches Phänomen, aber auch als Lebenshaltung war –
neben der Herausbildung der österreichischen Nationalkultur – das zweite große
Thema seines wissenschaftlichen Werks, das ihn vor allem ab den neunziger Jahren
zunehmend beschäftigte. Gemeinsam mit dem Historiker Paul Pasteur gab er 1996
den Band „Les Autrichiens dans la Resistance“ heraus. 1997 folgte in der
Münchner Edition Kappa die Streitschrift „Kultur als subversiver Widerstand“,
die 1999 in Rouen auf Französisch erschien. Der französische Titel verwies
darauf, dass der Autor seine Beispiele für die subversiven Potenzen der Kultur
anhand der österreichischen Entwicklung analysierte.
Jahrzehntelang hatte Félix Kreissler versucht, dem französischen Publikum sowohl
die österreichische Kultur- und Gesellschaftsgeschichte als auch das
zeitgenössische Österreich nahe zu bringen – unter anderem mit einem Band aus
Anlass des bevorstehenden EU-Beitritts Österreichs 1995, in dem er auch sein
Verständnis für die in der offiziellen Auslandskulturpolitik fast völlig
verschwiegenen österreichischen Gegner eines Beitritts artikulierte. Ein letzter
Versuch, aus einer vergleichenden französisch-österreichischen Perspektive das
ganze 20. Jahrhundert zu analysieren – u.a. im Dialog mit und in Abgrenzung von
Eric Hobsbawms Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts „Zeitalter der Extreme“ –
blieb unvollendet: Ein 900 Seiten starkes Manuskript („Das lange XX. Jahrhundert
tödlicher Begegnungen“) wartet auf Bearbeitung und Edition.
Félix Kreissler starb in der Nacht von 24. auf 25. Oktober 2004 in seiner
Wohnung in Montreuil bei Paris an einem Herzinfarkt. Die Verabschiedung fand im
Kreise der Familie sowie von FreundInnen und KollegInnen aus Frankreich und
Österreich am Freitag, den 29. Oktober 2004, im Crematorium du Pere Lachaise in
Paris statt.
Winfried R. Garscha
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 4/2004
|