Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Karin Liebhart: Hintergedanken zum Gedankenjahr

Im Prozess der Konstruktion von Geschichtsbildern wirken dominante Diskurse und antagonistische Argumentationen wechselseitig aufeinander. Gedächtnis kann in einer sich dynamisch verändernden „Matrix gesellschaftlicher Machtverhältnisse“ (Uhl 2001, 19) verortet werden. Vergangenheitsnarrative, die in diesem Beziehungsgeflecht aus zum Teil konkurrierenden Erinnerungserzählungen entstehen, müssen, um ihre Geltung zu bewahren, immer wieder aktualisiert und in einen gegenwärtigen „Sinn-Rahmen“ eingefügt werden (Assmann 1991, 347). Im kollektiven Gedächtnis (Halbwachs 1985) bleibt nur das, was aktuell auch „funktioniert“. Vergangenheit kann nur vom Bezugssystem der Gegenwart her gelesen werden. Jubiläen eignen sich besonders für solche Re-Inszenierungen, da sie Geschichtsinterpretationen bündeln. Dementsprechend dienen staatliche Jubiläen der Selbstvergewisserung nationaler politischer Gemeinschaften. Sie legen erwünschte Vergangenheitsdeutungen nahe und zielen darauf ab, Identifikation der BürgerInnen mit „ihrem“ Staat herzustellen. Der erinnerungspolitische Rückbezug gegenwärtiger Verhältnisse auf eine als sinnvoll angesehene Vergangenheit legitimiert erstere, da diese als „logische“ Folge einer kontinuierlichen Entwicklung präsentiert werden. Zugleich können gruppenspezifische Zukunftserwartungen daraus abgeleitet werden.

Österreichische Erinnerungspolitik und europäische Gedächtnislandschaft

2005 wurde von der österreichischen Bundesregierung als „Gedankenjahr“ ausgerufen. Dies scheint auf den ersten Blick einen reflexiven Zugang nahe zu legen. Der Herausgeber der Wiener Stadtzeitung Falter, Armin Thurnher, fand jedoch schon zu Beginn des Jahres die Bezeichnung „Hintergedankenjahr“ passender (Falter 1–2/2005). Gefeiert wurde 2005 alles mögliche: 60 Jahre Ende der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges und damit 60 Jahre Zweite Republik, vor allem aber 50 Jahre Staatsvertrag, Wiedergewinnung der vollen nationalen Souveränität, damit in Verbindung stehend 50 Jahre Neutralität, aber auch 10 Jahre Beitritt zur Europäischen Union. Zusätzlich wurde unter anderem noch an 50 Jahre Bundesheer, ORF, Wiedereröffnung der Staatsoper und des Burgtheaters erinnert. Das Jubeljahr eröffnete damit eine vielfältige, schlussendlich aber doch recht eindeutige Perspektive auf Repräsentationen österreichischer Identität nach 1945: Im Zentrum stand das Staatsvertragsjubiläum.
Historische Großausstellungen, populärkulturelle Events, Publikationen, TV- und Filmproduktionen konstruierten 2005 ein nationales „Wir“ und fungierten zugleich als Bühne für die (Selbst)Darstellung politischer und kultureller Eliten. Welche historischen Ereignisse wie thematisiert wurden, welche Bedeutung ihnen jeweils zugeschrieben, wie diese zu stringenten Erzählungen kombiniert wurden, welche Aspekte besonders betont, welche kaum angesprochen wurden, ist dabei ebenso von Interesse wie die Zielgruppen, an die sich die Inszenierungen richteten. Eine Analyse der inhaltlichen Gewichtung der Feiern eröffnet darüber hinaus die Frage, inwiefern altbekannte Klischees, Mythen und Tabus (Stunde Null, Wiederaufbau, Opferrolle, Erfolgsgeschichte Zweite Republik) diese Identität stiftenden Österreich-Erzählungen prägten. Darüber hinaus ermöglicht sie Rückschlüsse auf den zugrunde liegenden Identitätsentwurf der Zweiten Republik und darauf, wer zur „Wir-Gruppe“ des feiernden Kollektivs zählt und wer (weiterhin) davon ausgeschlossen bleibt.
Das offizielle Österreich interpretierte 2005 also vor allem als Staatsvertragsjubiläum, während im europäischen Rahmen vorrangig der Befreiung von der NS-Herrschaft gedacht wurde. Spätestens seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Ende der Blockgrenzen und dem damit verbundenen Versuch der Rekonstruktion eines europäischen Gedächtnisses anstelle zweier getrennter Gedächtnisse vor 1989, gilt Auschwitz, Synonym für die NS-Verbrechen, als der zentrale transnationale, gesamteuropäische Gedächtnisort, der Zivilisationsbruch Holocaust als negativer historischer Bezugspunkt des Europäischen Integrationsprozesses. Damit geht auch eine „Neubestimmung der sozialen Funktion von Gedächtnis“ einher, im Sinne einer „kritischen Selbstreflexion über die ethisch-moralischen Grundlagen eines Kollektivs“. Gedächtnis wird „zu einem, wenn nicht dem Indikator für das Normen- und Wertesystem eines Kollektivs“ (Uhl 2005, 25).
In Österreich hingegen stand im Jubiläumsjahr 2005 – erstmals seit der Waldheimaffäre 1986 und der mit ihr verbundenen geschichtspolitischen Zäsur – nicht (mehr) eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Verstrickung in NS-Verbrechen im Vordergrund, sondern, zentriert um das Staatsvertragsjubiläum, erneut die relativ unreflektierte Inszenierung der ungebrochenen Erfolgsstory Zweite Republik. Heidemarie Uhl (ebd., 26) wertet diese Differenz zwischen österreichischer und europäischer Erinnerungspolitik als ein anschauliches Beispiel für die Beharrlichkeit nationaler Gedenktraditionen. In Zusammenhang damit war eine Wiederaufnahme der Diskussion um die Beurteilung von 1945 als Befreiung oder Besetzung zu beobachten – ein zentrales geschichtspolitisches Konfliktfeld der Zweiten Republik (ebd., 21). „‘1945‘ steht eindeutig im Schatten von ‚1955‘“ (ebd.), letzteres wird mit der eigentlichen Befreiung verbunden. Über 1945 herrscht keine Einigkeit, deshalb wird es durch den konsensorientierten historischen Bezugspunkt 1955 überschrieben. In diesem Jahr konnten sich alle befreit fühlen, auch die, ein Jahrzehnt nach dem Ende des NS-Regimes in die nationale Gemeinschaft wieder voll integrierten, österreichischen NationalsozialistInnen.

Das neue Österreich ist frei

1955 als zentrales Datum des Jubiläumsjahrs verweist auf die altbekannte Opferthese, aber in modifizierter Form: Österreich war das erste Opfer des Nationalsozialismus, wie Bundeskanzler Wolfgang Schüssel im Laufe der letzten Jahre mehrfach betonte,1 vor allem waren aber alle ÖsterreicherInnen Opfer des Krieges. Zwar ist eine bruchlose Rückkehr zur Opferthese alten Stils nicht mehr möglich, wie kritische Gegenerzählungen gerade auch im heurigen Jubiläumsjahr beweisen.2 Zumindest eine der beiden historischen Großausstellungen zum Staatsvertragsjubiläum versuchte es dennoch.
Die von April bis November des Jahres 2005 in der Schallaburg bei Loosdorf/Melk gezeigte Ausstellung des Landes Niederösterreich „Österreich ist frei! Der österreichische Staatsvertrag 1955“3 hatte eine klare Botschaft: an das Gedächtnis der Kriegs- und Wiederaufbaugeneration gerichtet, erzählte sie zuerst die Opfer- und darauf folgend die Wiederaufbau- bzw. Erfolgsgeschichte Österreichs, die durch den Abschluss des Staatsvertrages gekrönt wird.
Die Ausstellung begann mit dem Bild eines jungen Mannes in Wehrmachtsuniform und einer Installation, die den Tod von Soldaten im Krieg zum Thema hatte. Nationalsozialistische (Kriegs)Verbrechen als wesentlicher Teil der Vorgeschichte des Jahres 1945 wurden kaum thematisiert, nicht das Leiden der „anderen“, stand im Zentrum, sondern „unseres“. Ein Gedenkraum im Hof der Schallaburg und die Beschriftung einzelner Stufen jener Treppe, die zum Eingang der Ausstellung führte, mit Opfergruppen, lagerten das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus aus der Ausstellung aus. Die „wirkliche“ Leidensgeschichte bezog sich auf die Toten und Verwundeten des Krieges und begann – was die österreichische Zivilbevölkerung sofern sie nicht von Bombenangriffen der Alliierten betroffen war – angeht, erst 1945 wirklich. Ein großer Teil der Ausstellung war diesem Leiden des österreichischen Volkes – zu dem weder Juden und JüdInnen, noch Roma und Sinti oder andere vom NS-Regime verfolgte Gruppen zu gehören schienen – gewidmet: unter der alliierten Besatzung, vor allem der Sowjets, besser gesagt „der Russen“. „Der Fokus der Ausstellung liegt in vielen Bereichen auf Niederösterreich und Wien und damit auf der sowjetischen Besatzungszone, ohne auf den gesamtösterreichischen Rahmen (die britische, französische und US-amerikanische Zone) und den europäischen Hintergrund zu verzichten“ ist der Internetpräsentation der Ausstellung zu entnehmen (http://www.oesterreichistfrei.at). Insbesondere willkürliche Verschleppungen, Vergewaltigungen, Raub und alle möglichen Schikanen der sowjetischen Besatzer wurden auf vielfältige Weise in Bild und Text dargestellt und prägten den Charakter der Ausstellung auf dominante Weise. Ob die Präsentation den, auf der Ausstellungshomepage (ebd.) erhobenen, Anspruch ein „breites und umfassendes Bild der Besatzungsjahre zu entwerfen“ erfüllte, kann angezweifelt werden.
Die NS-Verbrechen wurden zwar thematisiert, jedoch marginal und in einem Seitenraum des Hauptweges durch die Ausstellung entsorgt – ohne ersichtlichen Österreichbezug und unter dem Titel „Schatten der Vergangenheit“. Im selben Raum wurde auch der österreichische Widerstand „gewürdigt“, die bedeutende Rolle der kommunistischen WiderstandskämpferInnen oder der Widerstand der PartisanInnen dabei aber fast zur Gänze ausgeblendet. Wenn PartisanInnen erwähnt wurden, dann auf einem kommunistischen Plakat oder mit der Etikettierung „Tito-Partisanen“. So war etwa zu lesen: „Teile Kärntens einschließlich Klagenfurt werden 1945 von Tito-Partisanen besetzt“ (vgl. Bratic 2005). Der „Feind“ war eindeutig identifizierbar: als Sowjetsoldat oder jugoslawische/r, manchmal auch österreichische/r, PartisanIn (ebd.).
Breiten Raum nahmen die Wiederaufbauleistungen ein, die Österreich „nach der großen Depression der ‚Besatzungszeit‘“ (Bratic 2005) zu einer Kultur- und Sportnation machten und zu wirtschaftlichem und sozialem Aufschwung verhalfen, wie die Ausstellung suggeriert. Die „Väter“ des Staatsvertrages und „Baumeister“ der Zweiten Republik Leopold Figl und Julius Raab wurden ausführlich gewürdigt, weit weniger jedoch Karl Renner, Bruno Kreisky und Adolf Schärf, die wohl ebenso dazu zu zählen sind. Dass Figl und Raab Niederösterreicher waren, mag nicht der einzige Grund dafür gewesen sein.
Die ausführliche Darstellung des langen Weges zum Staatsvertrag gipfelte im letzten Raum, den der/die BesucherIn betrat; in einer – in der Umsetzung ästhetisch etwas verunglückten – Reinszenierung der Jubelszene vor dem Balkon des Schlosses Belvedere: Das jubelnde österreichische Volk wurde durch gegenüber einer Fototapete, die die berühmte Balkonszene zeigte, aufgestellte Pappkameraden symbolisiert. Die AusstellungsbesucherInnen konnten sich in diese, an Laubsägearbeiten erinnernde Reihe einfügen und sich so ebenfalls als befreite ÖsterreicherInnen fühlen.
In Hinblick auf das Design zeitgemäßer und innovativer präsentierte sich die Ausstellung „Das neue Österreich“ im Oberen Belvedere (Mai bis Dezember 2005, vgl. http://www.dasneueoesterreich.at) in Wien. Sie beanspruchte, die gesamte Geschichte Österreichs im 20. und 21. Jahrhundert zu zeigen und sprach einen breiten Kreis von BesucherInnen inklusive TouristInnen an. Was Ausstellungsinhalte und auch deren Umsetzung betrifft kann sie als differenzierter und kritischer gelten als die etwa zeitgleich gezeigte Schau auf der Schallaburg. Die Belvedere-Ausstellung ließ dennoch im Gesamteindruck beliebige Interpretationsspielräume offen und bezog kaum Position. Dadurch wirkte sie insgesamt sehr „ausgewogen“ und staatstragend. Dieser Anspruch kam auch durch das leitende Symbol, eine große österreichische Fahne, die sich durch die einzelnen Ausstellungsräume zog, zum Ausdruck. In Perioden unterteilt repräsentiert, endete die österreichische Erfolgsstory mit der Europäischen Rolle des Landes. Das Highlight der Ausstellung bildete, wie schon auf der Schallaburg, auch hier das temporär gezeigte Original des österreichischen Staatsvertrages, des „Schlüsseldokument(s)“ der Zweiten Republik (Spitaler 2005, 12f.). Zum 50.Jahrestag der Unterzeichnung des Staatsvertrages und rund um den Beginn der Ausstellung wurde im Garten des Belvedere ein „Fest für Österreich“ veranstaltet, mit „authentische(r) Verpflegung wie vor 50 Jahren“ (Erbsensuppe und Gulasch aus der Feldküche). „Für Durstige (gab) es das Staatsvertragsbier Gösser Spezial. Es wurde auch am 15. Mai bei der Unterzeichnung des Staatsvertrages ausgeschenkt.“4

Die Konstruktion der Nation als Publikum5

Das offizielle Österreich feierte sich aber nicht nur mit großen Ausstellungsprojekten: 25 von Georg Springer und Wolfgang Lorenz „unter wohlwollender Patronanz des Bundeskanzlers“ (Spitaler 2005, 13) gestaltete Interventionen im öffentlichen Raum sollten große mediale Aufmerksamkeit erwecken und zum Nachdenken anregen. Von den 25 Peaces (www.25peaces.at), die um die Schlüsselwörter „Friede“ und „Freiheit“ zentriert wurden, versprachen sich die Initiatoren eine Visualisierung des Alltags zu Kriegsende und während der Besatzungszeit über die Inszenierung von Gefühlswelten. Siegfried Mattl (2005, 8) erklärte in diesem Zusammenhang den Konsumenten zum neuen Typus des Staatsbürgers. Isolde Charim (2005) hat darauf hin gewiesen, dass eine solche Strategie der „Privatisierung des Gedenkens“ statt „gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge den Menschen als Einzelnen in den Vordergrund“ rückt, ein Phänomen, das eher „die Entpolitisierung der Geschichte befördert.“
Die 25Peaces fokussierten auf das Leiden der ÖsterreicherInnen an Kriegsfolgen und Besatzungszeit. Bereits die Auftaktveranstaltung, eine Licht-Ton-Installation zu den „Bombennächten“ in der Wiener Innenstadt unterstrich diese Perspektive: „Die unschuldigen ÖsterreicherInnen als Opfer der Bomben und der alliierten Besatzung, die wie eine unerklärliche Naturkatastrophe über das kleine, friedliebende Land hereingebrochen waren und die ohne Berücksichtigung der Vorgeschichte unverständlich bleiben müssen“, kommentierte dazu die Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes Brigitte Bailer (2005, 11). Die Kühe vorm Belvedere und die Gemüsebeete am Wiener Heldenplatz führten den Gedanken fort, erstere auf ungewollt komische Art: die fingierte Entführung einer der Kühe stellte den wohl witzigsten Beitrag zum Gedankenjahr dar.6
Auch die bereits in der Schallaburg-Ausstellung zum Ausdruck gebrachte Idee eines „Nacherlebens“ der Balkonszene von 1955 wurde von den 25Peaces – in Form eines mobilen Staatsvertragsbalkons – aufgegriffen: Am 15. Mai 2005 wurde dieser fahr- und schwenkbare Balkon in den neun österreichischen Landeshauptstädten vor je einem repräsentativen Bauwerk aufgestellt und die Bevölkerung dazu animiert, die an einem Kran befestigte Attrappe zu erklimmen und anstelle des historischen Leopold Figl „Österreich ist frei!“ zu rufen. Dies sollte „jener Generation, die den Krieg und den Wiederaufbau nicht erlebt hat, eine Möglichkeit zur Identifikation“ bieten. Ähnliches beanspruchte auch das „Zonenkochbuch“, eine Sammlung ausgewählter Rezepte aus der Aktion „Wirtshäuser kochen Speisen der Besatzungsmächte“. Die NS-Zeit als Vorgeschichte zum Besatzungsjahrzehnt wurde mit Ausnahme eingemauerter Denkmäler am Heldenplatz und einer Fahne zum Gedenken an die NS-Opfer auf der Nationalbibliothek hingegen kaum thematisiert.

Ein Monument für die Niederlage

Das Gedenken daran blieb hauptsächlich kritischen zivilgesellschaftlichen Initiativen wie etwa der Internet-Plattform oesterreich-2005.at überlassen. Ein Projekt im öffentlichen Raum von Martin Krenn, Charlotte Martinz-Turek, Nora Sternfeld und Luisa Ziaja erinnerte an die Zeit der Befreiung 1945–1947. Die Enthüllung dieses „Monuments für die Niederlage“ fand am 8. April 2005 im Wiener Ostarrichi-Park statt. Das Denkmal stand nur einen Tag lang und sollte daran erinnern, dass das Jubiläumsjahr mit der Rolle Österreichs als NS-Nachfolgestaat in Verbindung steht, eine Auseinandersetzung mit den Entnazifizierungsprozessen auslösen und die bis heute unvollendete Entnazifizierung zum Thema machen.7
Aber auch zwei Ausstellungen sind zu nennen, die einen anderen Blick auf die politische Geschichte der Zweiten Republik werfen: Zum einen die inhaltlich und didaktisch ausgezeichnet konzipierte Ausstellung „Jetzt ist er bös der Tennenbaum. Die Zweite Republik und ihre Juden“,8 die auf ein Zitat aus „Der Herr Karl“ von Helmut Qualtinger und Carl Merz, einem satirischen Ein-Personen-Stück, das die Figur des österreichischen Opportunisten charakterisiert, anspielte: Der nach 1945 zurückgekehrte Jude Tennenbaum erwidert einen Gruß des Herrn Karl nicht, da dieser sich im März 1938 eine „Hetz“ mit ihm erlaubt hat: Herrn Karls Reaktion darauf steht symbolisch für das österreichische Selbstbild nach 1945, das die Ausstellung im Jüdischen Museum Wien zum Thema hatte. Zum anderen ist die Villacher Ausstellung „Heiß umfehdet, wild umstritten. Geschichtsmythen in Rot-Weiß-Rot“9 zu erwähnen, die eben jene Ausgrenzungspolitiken und blinden Flecken anspricht, die den hegemonialen Gedenkdiskurs des Jubiläumsjahres charakterisieren – die österreichische Minderheitenpolitik nach 1945, den Widerstand der PartisanInnen, die Problematik der Deserteure, den Mythos des Kärntner Abwehrkampfs oder die Diffamierung von Frauen, die nach 1945 Beziehungen mit alliierten Soldaten eingingen.
Insgesamt wenig Aufregung…
Das öffentliches Interesse an all den offiziellen Gedenkritualen und -veranstaltungen war eher gering, insbesondere jüngere ÖsterreicherInnen zeigten sich desinteressiert an den mehr oder weniger staatstragenden Inszenierungen: unter den 18–29-jährigen gab ein Drittel an, kein Interesse zu haben (vgl. ZIB 2, 27/10/05; profil 23/05/05, zit. n. Bernhardt 2005, 7). Aufregungen hielten sich – mit Ausnahme der durch einschlägige Aussagen der freiheitlichen Bundesräte Kampl und Gudenus hervorgerufenen Debatten – ebenfalls in Grenzen. So kann alles in allem wohl Brigitte Bailer (2005, 11) zugestimmt werden, die bereits im Herbst 2005 bemerkte: „Das Gedenkjahr nähert sich langsam seinem Ende – seien wir froh, dass es keinen großen Schaden angerichtet hat.“

Anmerkungen:
1/ Vgl. Gespräch mit der Jerusalem Post, November 2000 (zit. n. Kulturrisse 0404, Dezember 2004. Marchart, Oliver/Sternfeld, Nora (2004): 60 Jahre Schüssel. Die Regierung feiert sich, und die Opposition feiert die Regierung. http://oesterreich-2005.at/txt/1103307389/
1103307942) oder Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung im Februar 2005 (NZZ, 5.2.2005).
2/ Heimann-Jelinek, Felicitas (Hg.) (2005): Jetzt ist er bös, der Tennenbaum. Die Zweite Republik und ihre Juden. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Wien. 20. April–4. Juli 2005. Katalog. Wien. Koroschitz, Werner/ Rettl, Lisa (Hg.) (2005): „Heiß umfehdet, wild umstritten …“. Geschichtsmythen in Rot-Weiß-Rot. Katalog zur Sonderausstellung im Museum der Stadt Villach. 21. April–30. Oktober 2005. Klagenfurt/Celovec.
3/ Karner, Stefan/Stangler, Gottfried (Hg.) (2005): Österreich ist frei. Der österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband Schallaburg 2005. Horn/Wien.
4/ http://www.wienweb.at/content.aspx?id=
85323&cat=22&channel=2
5/ Vgl. Mattl, Siegfried (2005): Das Bedenkjahr oder die Konstruktion der Nation als Publikum. In: Politix 20/2005. 8f.
6/ Vgl. www.oesterreich-2005.at.
7/ Vgl. Radio Stimme 5.4.2005.
8/ Heimann-Jelinke, Felicitas (Hg.) (2005): Jetzt ist er bös, der Tennenbaum (wie Anm. 2).
9/ Koroschitz, Werner/ Rettl, Lisa (Hg.) (2005): „Heiß umfehdet, wild umstritten …“ (wie Anm. 2).

Literatur:
Assmann, Jan (1991): Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Memotechnik. In: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/M. 337–355.
Bailer-Galanda, Brigitte (2005): Überlegungen zum „Gedenkjahr“ 2005. In: Politix 20/2005. 10f.
Bernhardt, Petra (2005): Angerichtet! Warum Hintergedanken zum Gedankenjahr durchaus Sinn machen. In: Politix 20/2005. 7.
Bratic, Ljubomir (2005): Die Ausstellung als Ort der Macht. In: Kulturrisse 0305, Juli 2005.
Charim, Isolde (2005): Alte und neue Geschichtsmythen, in: Eurozine, 30.09.2005, online: http://www.eurozine.com, abgerufen am 20.10.2005.
Die Zweite Republik – Eine unglaubliche Geschichte. Eine Dokumentation von Hugo Portisch. 4 Folgen. DVD ORF 2005.
Halbwachs, Maurice (1985): Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M.
http://www.25peaces.at
http://oesterreich-2005.at
http://www.dasneueoesterreich.at
http://www.oesterreichistfrei.at
http://www.wienweb.at/content.aspx?id=85323&cat=22&channel=2.
Österreich 2005. Das Lesebuch zum Jubiläumsjahr mit Programmübersicht. St.Pölten/Salzburg 2004. BKA (Hg.)
Radio Stimme 5.4.2005.
Spitaler, Georg (2005): Von der Normalitätsdebatte zur „Normalposition“ des Erinnerns: Ein skizzierter Vergleich der Republiksfeiern 1995 und 2005. In: Politix 20/2005. 12f.
The New Austria. The Exhibition to Commemorate the 50th Anniversary of the State Treaty 1955/2005. Upper Belvedere, 16 May to 1 November 2005. Katalog Wien 2005.
Thurnher, Armin (2005): Ein Hintergedankenjahr. In: Falter 1–2/2005.
Uhl, Heidemarie (2005): Europäische Tendenzen, regionale Verwerfungen. Österreichisches Gedächtnis und das Jubiläumsjahr 2005. In: Koroschitz, Werner/ Rettl, Lisa (Hg.): „Heiß umfehdet, wild umstritten …“. Geschichtsmythen in Rot-Weiß-Rot. Katalog zur Sonderausstellung im Museum der Stadt Villach. 21. April–30. Oktober 2005. Klagenfurt/Celovec.
Uhl, Heidemarie (2001): Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik. In: ÖZP 2001/1. 19–34.

Referat am Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft „Kontinuität und Wandel der österreichischen Geschichtsmythen – Eine kritische Bilanz des Gedenkjahres 2005“ am 29. Oktober 2005.

 

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