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Hans Zeisel über das Rote Wien als historische Anomalie
Eine archivalische Notiz von Gerhard Oberkofler
Hans Zeisel (1905–1992), der dem intellektuellen sozialistischen Milieu Wiens
angehört und zusammen mit Marie Jahoda (1907–2001) und Paul Lazarsfeld
(1901–1976) an der berühmt gewordenen Studie über die Arbeitslosen von
Marienthal mitgearbeitet hatte, wurde 1938 als Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei
in Wien in die Emigration getrieben.1 Seit 1953 war Zeisel als
Professor an der University of Chicago School of Law tätig. Gelegentlich
korrespondierte er mit Christian Broda (1916–1987), wobei die Initiative dazu
von Christian Broda ausgegangen ist. Zeisel schätzte an Broda vor allem dessen
Einsatz im Kampf gegen die Todesstrafe. In diesem Zusammenhang machte er Broda
darauf aufmerksam, dass die „grossartige Verteidigungsschrift“ für Nicola Sacco
(1891–1927) und Bartolomeo Vanzetti (1888–1927) von dem aus Wien stammenden
damaligen Harvard Professor Felix Frankfurter (1882–1965) verfasst wurde.
Anfang 1976 übermittelte Zeisel an Broda die Kopie seines Briefes an Ilona
Duczynska (1897–1978), die Ende 1975 das von Friedrich Heer (1916–1983)
bevorwortete Buch „Der demokratische Bolschewik. Zur Theorie und Praxis der
Gewalt“ (München 1975, 382 S.) herausgebracht hatte. Duczynska zitiert darin
auch Norbert Leser (*1933), der in diesen Jahren als sozialdemokratischer
Hauptinterpret sozialdemokratischer Geschichte mit opportun katholischer
Attitüde gehandelt wurde. Zeisel teilt weder die Einschätzung von Duczynska noch
jene von Leser in Bezug auf die historische Rolle des ihm sympathischen Theodor
Körner (1873–1957) und von Otto Bauer (1881–1938). Der bewaffnete Kampf 1934 war
nach seiner Auffassung auf Grund der historischen Situation überhaupt ohne jede
Chance. Das war allerdings auch die Auffassung von Körner selbst gewesen, weil
dieser als hoch qualifizierter Militärfachmann die wenigen Möglichkeiten des
isoliert als Schutzbund agierenden sozialistischen Kellermilitärs realistisch
einschätzen konnte.
Der hier abgedruckte, im Original maschinegeschriebene und eigenhändig mit
„Hans“ unterfertige Brief von Hans Zeisel vom 27.1.1976 mit offiziellem
Briefkopf „The University of Chicago. The Law School. 111 East 60th Street.
Chicago – Illinois 60637“ an Ilona Duczynska ist im Nachlass von Christian Broda
in der Österreichischen Nationalbibliothek als Kopie überliefert. Für Broda hat
Zeisel die im Brief erwähnten „Karli“ und „Kari“ handschriftlich am Schluss der
Kopie erläutert.
Liebe Ilona,
sehr schönen Dank für den Demokratischen Bolschewik, unzweifelhaft ein
wichtiger Beitrag zur Biographie Körners und der sozialdemokatischen Partei in
der kritischen Zeit zwischen dem 15. Juli 1927 und der vorläufigen Vernichtung
in 1934. Dich freilich interessiert die grössere Frage: Hätte die Partei nicht
nach Körners Plan handeln sollen? Die Widmung an alle, „die im ungebrochenen
Glauben an die .. Revolution .. gestorben sind“, lässt keinen Zweifel über Deine
Stellung. Du rührst damit an die Grundfrage des Aufstiegs und des temporären
Endes der österreichischen Sozialdemokratie, und der gewaltsamen Revolution
überhaupt.
Das Buch ist Dein Versuch, die bisher missglückte Synthese zwischen Demokratie
und Bolschewismus als möglich erscheinen zu lassen.
Die Bolschewiken haben die Demokratie nicht eingeführt und die Demokratien (die
österreichische par excellence) haben sich im entscheidenden Moment gegen die
Bürgerkrieg entschieden.
Deine Lösung: Wenn nur die Bolschewiki Bauers Hoffnung auf Demokratisierung
erfüllt hätten; wenn nur Bauer seinem Linzer Programm treu geblieben und auf
Körners Rat gehört hätte.
Es ist die Frage, die uns alle, oder wenigstens die unter uns, die zwischen 1918
und 1938 österreichische Sozialisten waren, immer wieder bewegt. Die Frage:
Welchen Sinn hatte es, mit dem bewaffneten Widerstand zu drohen, wenn er sich im
entscheidenden Moment nicht erhob?
Weder Du, und in diesem Punkt Dein Gefährte Norbert Leser, haben keinen Zweifel
an Bauers Schuld. Leser: Die Position macht nie Sinn. Du: Warum hat er im
kritischen Zeitpunkt nicht nach dem Programm gehandelt, wenn der einzige
wirkliche Kriegsfachmann. Ein Mann von grosser menschlicher Lauterkeit, ihm dazu
riet?
Ich teile weder Lesers noch Deine Meinung. Das Wunder des „Roten Wiens“, das in
der Geschichte, wie es Karli* richtig voraussagte, einer der Höhepunkte der
menschlichen Zivilisation bleiben wird, wäre ohne die von Euch gerügte Anomalie
nicht denkbar gewesen. Das rote Wien war selbst eine Anomalie: Beispielgebend
sozialistische Taten und Ideen wuchsen auf einer Insel, die umgeben war von zwei
feindlichen Meeren: Dem seichteren Meer der christlich – sozialen Länder, und
den Ozeanen der faschistischen Welt: Ungarn, Italien und Deutschland.
Nur die eschatalogische Hoffnung auf einen Endsieg unter allen Umständen hat
dieses menschliche, soziale und politische Wunder zustandegebracht (soviel für
Leser). Für Dich: Ein Bürgerkrieg wäre ein noch grösseres „Ruhmesblatt“ in der
Geschichte der österreichischen Sozialisten gewesen, aber das Ergebnis wäre
dasselbe geblieben. Dies war politisch unabwendbar; Körner sah nicht so weit;
und Bauer hat es wohl immer gewusst, nur hoffte er, es würde nicht dazu kommen.
Ich habe mich oft gefragt, wie es gewesen wäre, wenn Otto Bauer etwas von der
einfacheren und direkten menschlichen Anziehungskraft Viktors Adlers2
gehabt hätte (die übrigens auch Körner hatte). Das Ende wäre dasselbe gewesen.
Die Seipels3 und Dollfusse4 waren in Wirklichkeit schäbige
und kleine Erscheinungen. Sie hätten die Sozialdemokraten unter Viktor Adler
ebenso gehasst und sich ebenso gegen sie mit Ungarn und Italien verbündet.
Und ob Dein allgemeiner Glaube an die gewaltsame Revolution für richtige Ziele
gerechtfertigt ist, lässt sich noch nicht sagen: Die Geschichte hat noch kein
eindeutiges Urteil gesprochen. Ich bin nicht sicher, dass die Sowjetunion und
ihr Ostblock heute politisch, kulturell, wirtschaftlich (zusammengefasst:
„sozialistisch“) nicht besser daständen, wenn die Menschewiki gewonnen hätten.
Ich neige zum Ja-Sagen.
In jedem Fall hast Du ein wichtiges und schönes Buch geschrieben. Grüss Kari**,
was sind ihre Gedanken und Pläne?
Alles Liebe
Hans m. p.
*Karl Polanyi5
** Ihre Tochter
P.S. Noch eines: Ich glaube nicht, dass Körner sich selbst einen demokratischen
Bolschewiken genannt hat. Das war nicht seine Sprechart. Es klingt mehr nach
Ernst Fischer6, der dies berichtete.
Anmerkungen:
1/ Darüber schreibt Zeisel selbst in: Friedrich Stadler (Hrsg.), Vertriebene
Vernunft II. Wien – München 1988, S. 328–331.
2/ Victor Adler (1852–1918)
3/ Ignaz Seipel (1876–1932)
4/ Engelbert Dollfuß (1892–1934)
5/ Karl Polanyi (1886–1964)
6/ Ernst Fischer (1899–1972)
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 1/2006
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