Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Gerhard Oberkofler: Im Urteil von Alfons Dopsch und Heinrich Ritter von Srbik: Das Erstlingswerk von Arnold Reisberg

Arnold Reisberg (1904-1980) ist nur noch wenigen Spezialisten als ein aus Österreich stammender marxistischer Historiker der DDR mit zahlreichen wichtigen editorischen Werken über Wladimir Iljitsch Lenin bekannt. /1/ Seltsamerweise wurde er vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR nicht in den Sammelband „Wegbereiter der DDR-Geschichtswissenschaft. Biographien“ (Berlin 1989) aufgenommen. Mit seinem für Österreich geschriebenen Buch über „Februar 1934. Hintergründe und Folgen“ (Globus Verlag, Wien 1974) hat nicht nur Norbert Leser nichts anzufangen gewußt. /2/ Die Bibliothek der Alfred Klahr-Gesellschaft besitzt alle Publikationen von Arnold Reisberg, dazu auch ein umfangreiches, noch ungedrucktes Typoskript „Chronik der österreichischen Arbeiterbewegung“.

Die Ausbildung zum Historiker hat Arnold Reisberg an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien vom Wintersemester 1922/23 bis zum Sommersemester 1926 erhalten. /3/ Reisberg war damals bereits Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs und Funktionär der Wiener Stadtleitung der KPÖ. Gegen Ende seines Studiums stand unter Österreichs bürgerlich-katholischen bzw. bürgerlich-deutschnationalen Historikern das zweibändige, 1925 in erster Auflage erschienene Werk von Heinrich Ritter von Srbik (1878-1951) über Metternich in lebhafter Diskussion. Metternich galt bis dahin als Feind aller liberalen und nationalen Bewegungen in Europa, als Repräsentant des feudalabsolutistisch „legitimen“ Zustandes. Srbik ließ die spezifisch „österreichische Note“ Metternichs, der sich um den Bestand Österreichs als eines stabilisierenden Faktors in Europa gesorgt habe, deutlich werden. Der Srbik des Metternich-Buches erinnert an die ironischen Passagen in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ über den eher zu Depressionen als zu hysterisch nationalistischen Ausfällen neigenden österreichischen Patriotismus, weniger an den von Karl Kraus geschilderten aggressiv-tödlichen Habsburgerchauvinismus.
Dem Wirtschaftshistoriker der Universität Wien Alfons Dopsch (1868-1953) mag bei der Lektüre aufgefallen sein, daß die ökonomischen Triebkräfte, die das vormärzliche System von Metternich bankrott werden ließen, von Srbik wenig herausgearbeitet worden sind. Er ließ deshalb seinen begabten Schüler Arnold Reisberg diese Aspekte in Hinsicht auf den Zollverein und das Postwesen untersuchen. Bruno Kreisky erinnert an seinen Lehrer für österreichische Reichsgeschichte Alfons Dopsch und daran, daß dieser sich im Gegensatz zu vielen anderen Wiener Universitätsprofessoren nie zu irgendwelchen antisemitischen Exzessen herbeigelassen habe./4/ Reisberg arbeitete gründlich, insbesondere unter Heranziehung der Materialien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie des Finanzarchivs und legte 1927 als Dreiundzwanzigjähriger unter dem Titel „Der wirtschaftliche Anschluß Österreichs an Deutschland in den Jahren 1840-1848“ seine Dissertation vor. Sie umfaßt als Typoskript 189 Seiten (Folioformat) und gliedert sich in zwei Hauptteile: Österreich und der deutsche Zollverein (Österreich und der Zollverein bis 1840 - Der Plan eines deutschen Schiffahrtsbundes - Die Krise des Zollvereines und die Zollreform in Österreich - Krakau und der Handelsvertrag mit Preußen), sowie Österreich und die Gründung des deutschen Postvereines (Die Agitation für die deutsche Postreform - Die österreichische Briefportoreform - Die Vorbereitung des Postvereines - Einzelverhandlungen mit den deutschen Staaten - Eine Ruheperiode - Ein süddeutscher Postverein? - Die erste deutsche Postkonferenz).
Die zahlreichen Stellungnahmen von Karl Marx und Friedrich Engels zur österreichischen Frage konnte Reisberg noch nicht kennen. Aber der Marxismus erschöpfte sich unter den „Universitätslinken“ der Ersten Republik noch nicht in Zitaten aus „Gesammelten Werken“. Er war vielmehr eine in politischen Klassenkämpfen außerhalb der Universität angeeignete wissenschaftliche Methode.
Der Deutsche Zollverein (1834) entsprach Reisbergs materialistischer Deutung zufolge den Interessen des Fortschritts, die noch nicht identisch mit jenen der Bourgeoisie waren. Reisberg moralisiert nicht wie Srbik über den Verlauf der Geschichte. Er kommt vielmehr zu historisch-materialistischen Aussagen. Ab Seite 52f faßt er seine von Dopsch als zu einseitig bezeichnete Meinung zusammen: „Die günstige Stimmung in Deutschland konnte nicht ausgenützt werden, die Krise des Zollvereines ging vorüber, ohne daß es Österreich gelungen wäre, irgend einen Einfluß in Deutschland zu erreichen, oder auch nur einen handelspolitischen Vorteil zu erlangen. (...) Nie mehr wieder ergab sich eine so günstige Gelegenheit, den Anschluß an Deutschland zu erreichen, wie sie diesmal so schmählich verpaßt wurde. Srbik versucht die Schuld an dem Mißlingen der Zollreform Kolowrat und Hartig zuzuschreiben, die, von den Industriellen beeinflußt, Widerstand geleistet hätten. Dies ist jedoch unrichtig. Kolowrat und Hartig haben wohl, den Fabrikanteneinflüssen nachgebend, die Bedeutung der Zollreform abzuschwächen geholfen, daß aber nicht einmal diese verschlechterte Reform ins Leben getreten ist, daß sie die endgültige Ablehnung zugelassen haben, daran trifft sie nicht mehr Schuld, als die übrigen Mitglieder der Staatskonferenz, als Metternich und Kübeck. Die hauptsächlichste Schuld trug das österreichische Regierungssystem (...). „Das Metternichsche System, dessen real-politischer Zusammenhang sich auf die Person des Kaisers reduzierte, wie Antonio Gramsci mit dem Zitat: „Wir rufen Seit’ an Seite, es lebe Franz der Zweite!“ einmal anmerkte /5/, hat nach Reisberg den wirtschaftlichen Anschluß Österreichs an Deutschland verhindert. Die Geschichte Europas hätte, so Reisberg, einen anderen Verlauf genommen: „Aber der wirtschaftliche Anschluß Österreichs an Deutschland im vorigen Jahrhundert und der Anschluß Österreichs von heute haben miteinander nur mehr den Namen gemeinsam. Schon politisch hat sich das Bild ganz geändert. Damals war der Anschluß Österreichs an Deutschland eine rein deutsche Frage, deren Lösung nur durch die beiden deutschen Partner erfolgen sollte. Heute steht dem Anschlusse, sei er auch nur rein wirtschaftlich, außer den inneren Hindernissen hier und in Deutschland, noch das harte Machtgebot der Sieger von 1918 entgegen. Aber der wichtigste Unterschied ist der wirtschaftliche. Heute ist Österreich ein armer Staat, der in dem Anschlusse an Deutschland seinen letzten Rettungsanker sucht; damals war es wirtschaftlich eine achtungsgebietende Macht, deren Anschluß beiden Teilen zumindest den gleichen Vorteil gebracht hätte. Der Zusammenschluß zweier so mächtiger Wirtschaftsgebiete wäre ein Ereignis geworden, das imstande gewesen wäre, die wirtschaftliche Gestaltung Europas zu verändern. Heute würde der Anschluß höchstens die Rettung der Wirtschaft Österreichs bringen“ (Vorrede). Deutlich weist Reisberg darauf hin, daß eine Forderung, die unter bestimmten historischen Bedingungen richtig ist, unter geänderten Bedingungen sich in eine reaktionäre wandeln kann. Die österreichischen Kommunisten begannen nach Alternativen zu den vom deutschen Imperialismus ausgehenden Anschlußbestrebungen zu suchen, die dann in die Arbeiten zur österreichischen Nation von Alfred Klahr (1904-1944), der gemeinsam mit Reisberg an der Wiener Universität studierte und mit ihm befreundet war, mündeten.
Zu Beginn des zweiten Teiles resümiert Reisberg (Seite 72): „War das Verhalten Österreichs gegenüber der deutschen Handelseinigung keineswegs einem Range als deutsche Großmacht entsprechend, verhinderten hier diplomatische Unfähigkeit, durch die Augenblicksinteressen beschränkter Horizont seiner Regierungsmänner sowie Nachgeben gegenüber dem Geschrei profitsüchtiger Kapitalisten einen Anschluß an den deutschen Zollverein, so spielte es doch auf einem anderen wichtigen Gebiete der materiellen Interessen Deutschlands eine rühmlichere Rolle. Österreich ist der Vorkämpfer und der Initiator der Einigung Deutschlands auf dem Felde der Postverhältnisse gewesen“.
Natürlich war Reisberg mit seinen Hinweisen auf das überholte politische System und mit seinem Bezug auf materielle Geschichtskräfte in Widerspruch zu Srbiks Interpretation geraten. Aber es spricht für diese Generation österreichischer Historiker, daß sie von Dissertanten keinen vorauseilenden Gehorsam verlangten und ihnen die Freiheit zu nicht konformen wissenschaftlichen Ergebnissen ließen. Reisberg wurde nach Approbation seiner Dissertation und Ablegung der strengen Prüfungen am 23. Mai 1928 zum Dr. phil. promoviert. Er blieb noch einige Jahre in Österreich in Funktionen der KPÖ, insbesondere als Leiter der Marxistischen Arbeiterschule und als Redakteur der Zeitschrift „Der Kommunist“. Nach dem Februar 1934 mußte Reisberg Österreich verlassen. Die Drucklegung seiner Doktorarbeit unterblieb, doch findet sie sich im 1954 erschienenen dritten Srbikschen Metternich-Band annotiert (München 1954, S.164 bzw. 218).

Gutachten

Die vorgelegte Arbeit hat außer der gedruckten Literatur, über welche das Verzeichnis am Schlusse (S. 177 ff u. bes. 188 f) Aufschluß gibt, archivalische Quellen der Wiener Staatsarchive verwertet. Sie gibt eine übersichtliche Darstellung der Bestrebungen Österreichs, den wirtschaftlichen Anschluß an Deutschland, will damals sagen den deutschen Zollverein, zu gewinnen. Das Scheitern dieser Versuche, für welche mit der Krise des Zollvereines Anfangs der 40er Jahre, zunächst günstige Vorbedingungen auftraten, wird wohl zu einseitig beurteilt (vgl. S. 53) u. dabei zu wenig auf die politischen u. verfassungsrechtlichen Auswirkungen Rücksicht genommen. Die zweite Phase stellen die Wirtschafts-Verhandlungen mit Preußen nach der Einverleibung Krakaus in die Habsburgische Monarchie (S. 55ff) dar.
Als Kernpunkt der Arbeit kann die Geschichte der Gründung des deutschen Postvereines bezeichnet werden (S. 72ff), welche durch Österreich angeregt worden ist u. bisher keine entsprechende Behandlung gefunden hat, obwohl derselbe als Vorläufer des Weltpostvereines zu betrachten ist.
Der Verf. hätte vielleicht an verschiedenen Stellen etwas mehr Zurückhaltung in der Äußerung subjektiver Urteile beobachten sollen, da dies die persönliche politische Einstellung zu deutlich erkennen läßt. Im ganzen bekundet er aber eine zureichende Vertrautheit mit den Grundsätzen historischer Methodik u. hat es auch verstanden, das vielfach spröde Quellenmaterial zu einer lesbaren Darstellung zu verarbeiten.
Ich glaube daher, daß diese Dissertation genügt, um den Verf. zu den strengen Prüfungen zuzulassen.
Wien 10. Oktob. 1927 A. Dopsch m.p.

Ich schließe mich obigem Gutachten an und lehne gleichfalls die - zum Teil mit den Quellen geradezu unvereinbaren - Werturteile der im übrigen fleißigen und recht brauchbaren Arbeit ab, soweit der erste Hauptteil (Zollvereinsfrage) in Betracht kommt.
Wien 13. Oktober 1927 Srbik m.p.

Anmerkungen:

1/ Zeitschrift f. Geschichtswissenschaft 1980, 1120 (Arnold Reisberg zum Gedenken); Ulla Plener: Arnold Reisberg - ein kommunistisches Schicksal. Weg und Ziel 49 (1991), 295-300.
2/ Zeitgeschichte 2 (1975), 156-159, hier 158.
3/ Frdl. Mitteilung des Universitätsarchivs Wien (Leitung: Univ.-Archivar Dr. Kurt Mühlberger).
4/ Bruno Kreisky: Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Siedler Verlag, 169.
5/ Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Band 6 (1994), 1251.

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 4/1997

 

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