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Elke Renner: Zur Rolle der Moskauer Deklaration in den Schulbüchern
Um den Stellenwert eines Themas für den Geschichtsunterricht in Schulen
einschätzen zu können, darf man die Rahmenbedingungen im Schulbetrieb nicht außer
Acht lassen. Auch der Zeitgeschichteunterricht ist von Einsparungen, Stundenkürzungen
und den so genannten Reformen betroffen. Durch schulautonome Entscheidungen bei
Stundenkürzungen bleibt in manchen Schulen in der für Zeitgeschichte
vorgesehenen Schulstufe nur eine Unterrichtsstunde pro Woche, in dieser soll
auch die "Politische Bildung abgewickelt werden. Für problemorientierten,
projektorientierten Unterricht bleibt da keine Zeit, da sie kaum für den
vorgeschriebenen Kernstoff reicht.
Die Schulbücher für den Geschichtsunterricht, ich nenne sie ungern Lehrbücher,
wurden immer schon "grauer Lehrplan" genannt, weil Lehrerinnen sich
meist zu sehr an sie geklammert haben. Diese Schulbücher sind hauptsächlich
die Arbeit von Beamten, sie sind kommissionell kontrolliert und schreiben mit
geringen Abweichungen eine entsprechende Ideologie fest, Wissenschaftlichkeit
beschräkt sich auf die Richtigkeit von ausgewählten Daten und Fakten.
In der nach 1945 sich entwickelnden schwarz-roten Konsensgeschichtsschreibung,
in der dann sozialpartnerschaftlich doch die Interessen der ÖVP dominierten,
wurde ein Österreichbild vermittelt, in dem "Gräben zugeschüttet"
waren, die Opferthese fortgeschrieben und die westliche Seite der Ideologie des
Kalten Krieges vermittelt wurde. Es muss dazu auch festgestellt werden, wie spät
und mit wie wenig Öffentlichkeit es einer kritischen Zeitgeschichtsforschung
gelang, gegen dieses Österreichbild zu wirken. Schulbücher dienen zählebig
der Zementierung verordneter Geschichtsbilder, es wäre wichtig der kritischen
Literatur an Schulen und Universitäten zum Durchbruch zu verhelfen.
Ich habe für meine Betrachtungen eine 1962 erschienene Broschüre und 15 Schulbücher
für den Geschichtsunterricht der 8. und 12. Schulstufe aus den letzten 12
Jahren herangezogen. Die Broschüre "Unsere Republik im Wandel der
Zeit" (1) war 1962 für alle Vierzehnjährigen gedacht und sollte, so in
einem Schreiben des Unterrichtsministers im Juni 1962, eine ausführlichere
Darstellung der Geschichte unserer Republik in die Hand geben.
Der Appell der "vier erfahrenen Schulmänner" als Autoren lautet an
die Schüler:
Liebe Schüler und Schülerinnen!
Dieses Büchlein führt euch die Geschichte unseres Vaterlandes Österreich in
den letzten Jahrzehnten vor Augen. Wir nennen sie Zeitgeschichte, weil sie das
Geschehen der jüngsten Vergangenheit behandelt. Eure Eltern und Großeltern
sind Zeugen dieser Epoche, auch ihr selbst habt einige Jahre miterlebt.
Die Zeitgeschichte erzählt von den Freuden und Leiden, dem Kämpfen und Dulden
des österreichischen Volkes in diesen schicksalsschweren Jahren. Sie berichtet,
wie unser Österreich im Jahre 1918 aus dem Zusammenbruch des großen
Kaiserreiches hervorging, wie es in der Ersten Republik tapfer um seine Existenz
kämpfte, wie es 1938 ausgelöscht wurde und 1945 neu erstand und wie es
schließlich als freier und neutraler Staat die Achtung der Welt errang, Damit
wird sich euer Blick für das gegenwärtige Leben und Geschehen in Politik,
Wirtschaft und Kultur schärfen. Ihr werdet aber auch erkennen, daß jeder
Staatsbürger für das Geschehen in unserer Republik mitverantwortlich ist.
Österreich wird das Herz Europas genannt. Sorgt dafür, daß dieses Herz
gesund, tapfer und gut bleibt!
Im Kapitel Österreichischer Leidensweg im "Dritten Reich" wird der
Zweite Weltkrieg wie folgt behandelt:
Im Zeiten Weltkrieg
Am 1.September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. In Polen, Norwegen, Frankreich,
Griechenland, Italien, Nordafrika und Rußland kämpften, litten und
starben hunderttausende Österreicher in den Reihen der "Deutschen
Wehrmacht".
In der Heimat aber war den Häftlingen der Konzentrationslager ein furchtbares
Los beschieden. Katholische und evangelische Priester, ehemalige
Christlichsoziale, Sozialdemokraten und Kommunisten, Widerstandskämpfer der
unterjochten europäischen Völker und vor allem Juden mußten unter
unmenschlichen Lebensbedingungen harte Fronarbeit leisten. Viele von ihnen
wurden aufs grausamste hingerichtet.
Am 1. November 1943 erließen die gegen Deutschland verbündeten Mächte in
Moskau eine Deklaration:
"Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjetunion und der
Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, daß Österreich das
erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen
sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll.
Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland vom März 1938 für
null und nichtig... und wünschen ein freies, unabhängiges Österreich
wiedererrichtet zu sehen.
Österreich wird aber auch daran erinnert, daß es für die Teilnahme am Kriege
an der Seite Hitlerdeutschlands die Verantwortung trägt und daß anläßlich
der endgültigen Abrechnung darauf Bedacht genommen wird, wieviel es selbst zu
seiner Befreiung beigetragen haben wird." (Gekürzt und vereinfacht)
Daran schließt sich eine Darstellung des Widerstandes nach ganz besonderen
Auswahlkriterien.
Mit diesem Büchlein wird die Linie für die weiteren Darstellungen in Schulbüchern
vorgezeichnet. Die Betonung der österreichischen Opferrolle und die Behandlung
und Betonung des Widerstandes als Feigenblatt.
Erst in den Schulbüchern nach 1988 gibt es dann Veränderungen. Die Moskauer
Deklaration findet in den von mir betrachteten Büchern fast nur Erwähnung in
der Nachkriegsgeschichte 1945-1955 um auf die schon besprochene Weise
instrumentalisiert zu werden.
An fünf Beispielen möchte ich die Spannbreite der Behandlung veranschaulichen:
In den "Meilensteinen der Geschieht" (9) heißt es unter der Überschrift
"Das Ringen um den Staatsvertrag - zwischen Hoffnung und Enttäuschung":
Sie wünschen ein freies und unabhängiges Österreich...
Diesen Wunsch brachten die Vertreter der Großmächte in der Moskauer
Deklaration zum Ausdruck. Die Wiedererlangung der Freiheit war nach dem Zweiten
Weltkrieg das oberste Ziel der österreichischen Politiker, und sie hofften auf
die Erfüllung des in der Moskauer Deklaration ausgesprochenen Wunsches.
Wer jedoch glaubte, daß Österreich seine Freiheit und Unabhängigkeit schon in
kurzer Zeit zurückgewinnen würde, wurde enttäuscht. Das in vier
Besatzungszonen geteilte Österreich sollte noch eine geraume Zeit lang das
wichtigste Diskussionsthema der Politiker, aber auch aller anderen Österreicher
sein.
Es gab sogar Bestrebungen, den Osten Österreichs seinem russischen
Besatzungsschicksal zu überlassen, während Westösterreich eine eigene
Regierung bilden sollte. Dieser Plan scheiterte am energischen Widerstand der
Großparteien.
Anschließend werden zwei von Pathos und Ideologie triefende Auszüge aus
Aussagen von Bundespräsident Karl Renner und Staatssekretär Bruno Kreisky
wiedergegeben, jeweils mit Porträt versehen.
In den "Entdeckungsreisen" (10) 1996 heißt es im Kapitel "Die
Sieger stellen die Weichen für die Zukunft": Entsprechend der Moskauer
Erklärung vom Oktober 1943, mit der sich Großbritannien, die Sowjetunion und
die USA zur Wiederherstellung eines "freien und unabhängigen Österreich"
verpflichtet hatten, galt Österreich nicht mehr als Bestandteil Deutschlands.
Es wurden allerdings auch hier vier Besatzungszonen und in der Hauptstadt Wien
vier Sektoren eingerichtet." Österreich wird nun, so die Diktion, zum
zweiten Male Opfer, diesmal Opfer der Besatzer.
Ein Negativbeispiel an "Lehrbuch" ist "Durch die Vergangenheit
zur Gegenwart" (11).In diesem an die Bildzeitung erinnernden Durcheinander
von Text und Bild findet sich zwischen einer Karte von den Einflussgebieten von
Ost und West und zwei Bildern, eines zeigt einen sowjetischen Soldaten an den
Grenzschranken an der Ennsbrücke, das andere ein von Sowjets beschlagnahmtest
Donauschiff, folgender Text:
In der Moskauer Deklaration war von der Befreiung Österreichs die Rede.
Der Preis dafür war hoch. Genauso notleidend wie seine Bürger war
"damals" der gesamte Staat. Und von dem wenigen Geld, das Österreich
einnahm, mußte es rund ein Drittel für die Besatzungskosten aufbringen. Darüber
hinaus beschlagnahmten die Alliierten alle Industriebetriebe, die 1938 von den
Nazis übernommen worden waren, als "Kriegsentschädigung"
("Deutsches Eigentum").
Die Westmächte erkannten die Not Österreichs und wollten helfen. So übergaben
sie ihren Anteil am Deutschen Eigentum der österreichischen Regierung, die
diese Betriebe verstaatlichte ("Verstaatlichungsgesetze" -
"Verstaatlichte Industrie").Ganz anders aber verhielt sich die UdSSR:
Die Russen beschlagnahmten die gesamte Erdölerzeugung, die
Donaudampfschiffahrtsgesellschaft ("DDSG"), über 300 Fabriken, rund
150 land- und forstwirtschaftliche Betriebe,...Die daraus entstandenen Gewinne
flossen in die UdSSR. Steuern bezahlten sie keine.
Einen großen Fortschritt in der Betrachtungsweise bedeutet die Behandlung
der Moskauer Deklaration in "einst und heute" (15) 2002 in den
Kapiteln "Österreichische Vergangenheitsbewältigung" und "Österreichbewusstsein",
in denen bereits der Umgang mit der Vergangenheit thematisiert wird.
"einst und heute" (16) 2003 beginnt das Kapitel "Österreich seit
dem Zweiten Weltkrieg - Die Wiederherstellung der Republik Österreich" mit
der Vorstellung der Moskauer Deklaration im Auszug und bezeichnet sie als Gründungsurkunde
der Zweiten Republik. Es folgt eine Besprechung, in der festgestellt wird,
dass die österreichischen Regierungen später gerne die Opferrolle betont
und die Mitverantwortung verschwiegen hatten. Es wird darauf hingewiesen, dass
Bundeskanzler Franz Vranitzky 1995 erstmals öffentlich von einer
Mitverantwortung Österreichs an den Naziversprechen gesprochen hatte.
Zu diskutieren wäre noch die Rolle der Menschen und Materialien, die neben den
Schulbüchern, wenn auch zu spät und in zu geringem Ausmaß aufklärenden
Einfluss auf den Unterricht in Zeitgeschichte hatten. Große Bedeutung hatten z.
B. das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, der Einsatz von
Zeitzeugen, der Ende der 70er Jahre erstellte Medienkoffer, die in den 80er
Jahren erarbeiteten Materialien des Büros Medienverbund, die
Lehrerinnenfortbildung im Rahmen der Politischen Bildung, die Pädagogische
Taschenbuchreihe "schulheft" und andere alternative Initiativen.
Schlussendlich wäre zu hoffen, dass die kritische Zeitgeschichtsforschung in
einer Aufarbeitung der progressiven Traditionen, einer wahren Identität Österreichs
verpflichtet, mehr Eingang in die Schulbücher findet.
Die Fußnoten beziehen sich auf die Nummerierung der verwendeten Schulbücher.
Literaturliste
1. Anton Ebner, Anton Kolbabek, Matthias Laireiter, Hermann Schnell, Unsere Republik im Wandel der Zeit, ÖBV (Österreichischer Bundesverlag) 1962
2. Schausberger, Oberländer, Strotzka, Wie, woher, warum /4.Kl./, ÖBV 1991
3. Michael Floiger, Ulrike Ebenhoch, Kurt Tschegg, Manfred Tuschel, Stationen /7.Kl/, Ed. Hölzl 1991
4. Michael Floiger, Ulrike Ebenhoch, Kurt Tschegg, Manfred Tuschel, Stationen /8.Kl/, Ed. Hölzl 1992
5. Schröckenfuchs, Kowarik, Weiser, Spuren der Zeit /7.Kl/, E. Dorner 1991
6. Schröckenfuchs, Lobner, Spuren der Zeit /8.Kl/, E. Dorner 1992
7. Oskar Achs, Manfred Scheuch, Eva Tesar, Aus Geschichte lernen /7.Kl/, ÖBV 1993
8. Oskar Achs, Manfred Scheuch, Eva Tesar, Aus Geschichte lernen /8.Kl/, ÖBV 1992
9. H. Hammerschmid, W. Pramper, Meilensteine der Geschichte /4.Kl/, Veritas 1993
10. Klaus Sturm, Veit Sturm, Ulrike Ebenhoch, Kurt Tschegg, Entdeckungsreisen /4.Kl/, ÖBV 1996
11. Lemberger, Durch die Vergangenheit zur Gegenwart /4.Kl/, Österr. Agrarverlag 1996
12. Scheucher, Wald, Lein, Staudinger, Zeitbilder /7.Kl/, ÖBV 2000
13. Wald, Staudinger, Scheucher, Scheipl, Zeitbilder /8.Kl/, ÖBV 1996
14. Gerhard Huber, Erlefried Schröckenfuchs, einst und heute /7.Kl/, E. Dorner 2001
15. Gerhard Huber, Erlefried Schröckenfuchs, einst und heute /8.Kl/, E. Dorner 2002
16. Gerhard Huber, Ernst Gusenbauer, Wernhild Huber, einst und heute /4.Kl/, E. Dorner 2003
Referat auf dem Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft
„60 Jahre Moskauer Deklaration“ am 25. Oktober 2003 in Wien
abgedruckt in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 1/2004
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