Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Thomas Schönfeld: Die Moskauer Deklaration in der Erinnerungs- und Memoirenliteratur

Es war naheliegend, im Rahmen des Gesamtthemas „Moskauer Deklaration“ auch die Frage zu stellen, wie österreichische Politiker zu dieser Deklaration später Stellung genommen haben. Eine Durchsicht vieler Unterlagen hat ein enttäuschendes, aber nicht überraschendes Ergebnis gebracht. Enttäuschend weil die maßgebenden Politiker der SPÖ und der ÖVP zum Thema „Moskauer Deklaration“ wenig, manche sogar nichts zu sagen hatten. Nicht überraschend weil die Moskauer Deklaration ein Ergebnis der Anti-Hitler-Koalition, des politischen und militärischen Zusammenwirkens der Sowjetunion, Großbritanniens und der USA war, im Kalten Krieg man aber die große Bedeutung der Anti-Hitler-Koalition für das Wiedererstehen Österreichs nicht mehr in Erinnerung rufen wollte.
Im folgenden soll über die Stellungnahmen von fünf führenden Regierungspolitikern berichtet werden: Renner, Schärf, Figl, Gruber, Kreisky. Nachgeforscht wurde auch in den Schriften vieler weiterer Politiker. Sie werden aber in diesem Bericht nicht genannt werden. Noch eine Vorbemerkung: Die vier bisherigen Vortragenden waren Historiker. Ich bin aber Naturwissenschaftler. Das sei nur zur Information gesagt, nicht um kritische Bemerkungen aus dem Zuhörerkreis abzuwimmeln.

Karl Renner

Karl Renner hat die Proklamation vom 27. April 1945, die die Erklärung über die Wiederherstellung Österreichs enthält und die den Anschluss von 1938 für null und nichtig erklärt, zweifelsohne vorgeschlagen und formuliert. (Über mögliche Ergänzungen oder Änderungen durch andere Unterzeichner – Schärf, Kunschak, Koplenig – vor der endgültigen Beschlussfassung des Textes kann hier nichts gesagt werden). Die Proklamation vom 27. April 1945 bezieht sich auf die Moskauer Deklaration und gibt diese im Wortlaut wieder. An das Ende der Unabhängigkeitserklärung gestellt, also etwas abgetrennt, wird auch der abschließende Teil der Moskauer Erklärung über die Berücksichtigung des eigenen Beitrags Österreichs zu seiner Befreiung im Wortlaut angeführt - „in pflichtgemäßer Erwägung“, wie es da heißt. Daran anschließend wird in der Erklärung bereits eine Formulierung verwendet , die später zu einem Argument für die Hauptlinie Renners und auch der SPÖ- und ÖVP-Vertreter in der Provisorischen und den nachfolgenden Regierungen wurde. Da wurde betont, dass „angesichts der Entkräftung unseres Volkes und Verarmung unseres Landes der Beitrag der österreichischen Regierung zur Befreiung nur bescheiden sein kann“. Das führte dann alsbald zur Haltung, dass Forderungen an Österreich ungerechtfertigt wären, ja dass eigentlich Österreich gerechtfertige Forderungen an die Alliierten zu richten habe. Renner erwähnte die Moskauer Deklaration nie mehr, weder als Staatskanzler, als Bundespräsident noch in seinen aus dem Nachlass veröffentlichten Erinnerungen. Er sprach nur von den Forderungen Österreichs nach einem schnellen Ende der Besetzung und davon, dass Österreich als befreites Land von den siegreichen Alliierten keine wirtschaftlichen Belastungen auferlegt werden dürfen. An die Stelle einer Anerkennung der politischen und militärischen Leistungen der Alliierten zur Befreiung und Wiedererrichtung Österreichs, sowie der Anerkennung der ungeheuren Schäden , die die deutschen Armeen und die in ihnen dienenden Österreicher der Sowjetunion zugefügt hatten, trat also sehr schnell das Aussprechen von Forderungen an sie. Daraus ergab sich, dass Renner die Moskauer Deklaration nicht mehr thematisierte. In seinen Erinnerungen wurde sie mit keinem Wort erwähnt. Renners Erinnerungen sind insbesondere von dem Bemühen geprägt, seine eigene politische Vergangenheit zu rechtfertigen, nicht zuletzt sein Eintreten für einen Anschluss Österreichs an Deutschland, bis hin zu seiner Erklärung Anfang April 1938, in der er sein „Ja“ bei der Abstimmung über den Anschluss am 10. April 1938 bekannt gab und begründete. Eine Skizzierung seiner Argumente und Darstellungen ist allerdings hier nicht möglich.

Adolf Schärf

Adolf Schärf kam in seinen in Buchform erschienenen Erinnerungen auf die Moskauer Deklaration zu sprechen, allerdings nicht als eine entscheidende Weichenstellung für die Wiedererrichtung eines unabhängigen Österreich sondern in einer Nebenbemerkung zu seiner Darstellung der Politik sozialdemokratischer Führer. Der Schlüsselsatz in einer Passage über die Ereignisse und Erlebnisse 1943 - 1944 lautete: „Im November 1943 kam dann die Moskauer Deklaration über die Wiederherstellung eines freien Österreich. Sie bestärkte uns in unseren Auffassungen.“ Von welchen Auffassungen spricht Schärf hier ?. Er führte zuerst aus, dass die Radiosendungen der Alliierten bis zum Frühsommer 1943 nichts von der Wiederherstellung eines freien und unabhängigen Österreich gesagt hatten. „Der Gedanke, dass der Anschluss Österreichs an Deutschland rückgängig gemacht werden könnte, war damals neu und ungewöhnlich.“ Da ist natürlich zu fragen: Wusste Schärf nichts von den Aktionen und Zielen der Widerstandskämpfer ? Kannte er nicht die Begründungen der Nazijustiz für die Todesurteile gegen Widerstandskämpfer, in denen ihnen die Absicht zur Zerreißung des Deutschen Reiches angelastet wurde? Hat er nie vom Aufruf des ZK der KPÖ in der Nacht vom 11. zum 12. März 1938 gehört, der mit den Worten schloss: „ Durch seine eigene Kraft und durch die Hilfe der Weltfront des Friedens wird ein freies, unabhängiges Österreich wiedererstehen“? Hatte er gerade jene, insbesondere von sowjetischen Sendern ausgestrahlten Aufrufe im Oktober 1942 verpasst, in denen die Bildung einer österreichischen Freiheitsfront angekündigt und ihre Ziele proklamiert wurden „Auf zum Volkskampf gegen Hitler und seinen Krieg und für ein freies und unabhängiges Österreich“?
Nun zurück zu den Ausführungen Schärfs. Er berichtete über ein Gespräch mit dem deutschen Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner, der ihn im Frühsommer 1943 in Wien besuchte, um ihn für eine Mitwirkung der österreichischen Sozialdemokraten an einer deutschen Anti-Hitler-Regierung zu gewinnen. Über dieses Gespräch schrieb Schärf: „Seitdem ich die Geistesschätze des deutschen Volkes kennen und lieben gelernt habe, hatte ich immer geträumt, meine Heimat wäre nicht Österreich sondern Weimar. ... Aber während des Gespräches mit Leuschner kam es mir wie eine Erleuchtung. ... Ich erkannte was sich geändert hatte. Ich unterbrach meinen Besucher unvermittelt und sagte: ‚Der Anschluss ist tot. Die Liebe zum deutschen Reich ist den Österreichern ausgetrieben worden.‘ Während ich diese Worte sagte, hatte ich das Gefühl als ob nicht ich spräche, sondern ein anderer Mensch, eine andere Stimme aus mir... Ich konnte zunächst gar nicht begreifen, wie ich zu meiner Antwort gekommen war. Ich blieb aber dabei und erklärte, meine sozialdemokratischen Freunde könnten nur bei der Beseitigung des Hitlerregimes mittun, nicht aber dabei, den Anschluss zu erhalten... Ich habe rasch meine Freunde, insbesondere Seitz und Dr. Renner von der Unterredung in Kenntnis gesetzt und wir alle sind langsam in der darauf folgenden Zeit zur der Auffassung gekommen, die mir zuerst Leuschner gegenüber auf die Lippen gekommen war.“ Und nun folgte bei Schärf der Satz: „ Im November 1943 kam dann die Moskauer Deklaration über die Wiederherstellung eines freien Österreich. Sie bestärkte uns in unserer Auffassung.“
Nach der Darstellung Schärfs beruhte die Abkehr führender Sozialdemokraten von einer Orientierung auf ein Verbleiben Österreichs bei Deutschland und die Hinwendung zu einem Eintreten für ein unabhängiges Österreich auf seiner „Erleuchtung“ beim Gespräch mit dem deutschen Sozialdemokraten Leuschner. Für die Darstellung Schärfs von seiner „Erleuchtung“ dürfte wohl folgendes Motiv eine Rolle gespielt haben. In Verbindung mit einer Beschönigung der bis 1943 fortgesetzten großdeutschen Orientierung sozialdemokratischer Führungspersönlichkeiten sollte die Hinwendung zu einem Eintreten für ein freies Österreich als politische Pioniertat - sowohl im österreichischen wie im internationalen Rahmen – dargestellt werden. Schärfs „Erleuchtung“ kam eben, wie er es hier darstellte, einige Monate vor der Moskauer Deklaration. Den „schwarzen Peter“ eines überlangen Festhaltens an der großdeutschen Orientierung, also für ein Akzeptieren des Anschlusses, schob Schärf in seinen Erinnerungen aber den sozialdemokratischen Gruppen im Exil, in London und New York, zu. Er schrieb : „...So kam es, dass viele Sozialisten in der Emigration Vorstellungen der alten Sozialdemokratie, zum Beispiel auch über den Anschluss an Deutschland, weiter wach hielten und pflegten, als in Österreich selbst der Anschlussgedanke bereits tot war..“ Es ist ja eine Tatsache, dass diese sozialdemokratischen Gruppen im Exil auch noch gegen die Moskauer Deklaration polemisierten, in scharfem Gegensatz zu den Bemühungen der im Exil in vielen Ländern wirkenden „Freien Österreichischen Bewegung“, in der Kommunisten eine wichtige Rolle spielten.
In Bezug auf die Entwicklung sozialdemokratischer Positionen ging Schärf auch auf das „Ja“ Renners zum Anschluss ein und auf den Artikel Otto Bauers vom Juni 1938 , in dem er gegen „die reaktionäre Parole der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs“ und „für die revolutionäre Parole der gesamtdeutschen Revolution“ polemisierte. Dabei charakterisierte Schärf diese Stellungnahmen von Renner und Bauer nicht als Fehlorientierungen, die dem Kampf gegen den Nazi-Faschismus und für die Befreiung Österreichs schadeten, sondern als im wesentlichen übereinstimmende Schritte in der Entwicklung sozialdemokratischer Politik.

Leopold Figl

Von Leopold Figl gibt es keine Texte, die den Charakter von Erinnerungen haben. Das hängt wohl damit zusammen, dass er bis an sein Lebensende 1965 führende staatliche Funktionen inne hatte , in denen er sich mit aktuellen Problemen zu beschäftigen hatte - als Bundeskanzler, Außenminister, Erster Präsident des Nationalrates und Landeshauptmann von Niederösterreich.
1946, als Bundeskanzler, hielt er Reden im Nationalrat, in denen er auf die Moskauer Deklaration Bezug nahm. Dabei würdigte er das Befreiungswerk der alliierten Mächte mit eindrucksvollen Worten. Und er sagte: „Das österreichische Volk wird diesen eindeutigen Beschluss (die Moskauer Deklaration), der gewissermaßen die Geburtsstunde des neuen Österreich war, niemals in seiner Geschichte vergessen.“ Was den Passus der Moskauer Deklaration über die Verantwortung der Österreicher betrifft, versuchte er - ähnlich wie andere Politiker, deren Stellungnahmen hier ebenfalls erörtert werden - die große Mehrheit der Österreicher als Antifaschisten und konsequente Anhänger der Unabhängigkeit Österreichs darzustellen. Sie hätten die in der Moskauer Deklaration enthaltene Festlegung, dass der Anschluss vom März 1938 als null und nichtig anzusehen sei, vom ersten Tag der Vergewaltigung Österreichs an vertreten.
Die Frage der Einschätzung des Widerstandes der Österreicher gegen die Naziherrschaft stand damals in enger Verbindung mit den Bemühungen der Regierung, dass die Alliierten, insbesondere die Sowjetunion, keine Reparationsforderungen gegen Österreich erheben und das deutsche Eigentum in Österreich nicht für sich beanspruchen würden . Diese Position wollte man durch den Hinweis auf den Unabhängigkeitswillen und die antifaschistische Haltung der Österreicher stützen. Um anderen Einschätzungen entgegenzutreten sagte Figl: „ Es ist eine Geschichtsfälschung, wenn heute irgendwo in der Welt versucht wird, aus dem Hochverrat einiger weniger ... staatsfeindlicher Elemente eine antieuropäische Gesinnung des österreichischen Volkes konstruieren zu wollen. Alle diese Menschen sind aus dem österreichischen Volk ausgestoßen.“ Und dann hieß es in dieser Rede Figls:“ (Eine) wichtige Aufgabe ist, dass Österreich nicht mit einer Bürde belastet wird, die seine schwierige Aufbauarbeit unmöglich macht oder ungebührlich verzögert.“ In einer anderen Rede sagte Figl: „ Die überwiegende Mehrheit der Österreicher stand dem Nazismus ablehnend gegenüber.“

Karl Gruber

Karl Gruber war österreichischer Außenminister von 1945 bis 1953. Seine negative Einstellung zur Moskauer Deklaration hat er deutlicher und direkter zum Ausdruck gebracht als die anderen Staatsmänner, die im heutigen Bericht zitiert werden. So erklärte er in einer Rede vor ÖVP-Funktionären am 29. März 1946: „Den ganzen Krieg hindurch warteten wir vergeblich auf die Errichtung einer österreichischen Regierung im Ausland, auf die unbedingte Anerkennung der selbständigen Existenz Österreichs. Anstatt dessen wurde uns zuerst die verklausulierte Moskauer Deklaration und als Ausfluss dieser schließlich die Potsdamer Deklaration beschert.“ Zu diesem Redetext Grubers ist natürlich anzumerken: 1. Dass es nicht zur Errichtung einer österreichischen Regierung im Ausland, einer Exilregierung, kam, hatte mehrere gewichtige Gründe, die wohl auch Gruber bekannt waren. Darüber ging er aber einfach hinweg. 2. Wenn Gruber hier anzudeuten versucht, die Moskauer Deklaration enthielt keine klare Anerkennung der Existenzberechtigung Österreichs, so geht diese Behauptung einfach ins Leere. Gerade das war ja die Hauptaussage der Deklaration. 3. In der Moskauer Deklaration war eigentlich nichts „verklausuliert“. Sie war natürlich kein Völkerrechtsdokument, kein internationaler Vertrag, sondern eine politische Erklärung. Offensichtlich ging es Gruber in dieser Rede nicht um eine Analyse der Moskauer Deklaration, sondern um Stimmungsmache gegen die Alliierten, um einen Versuch, auf solche Weise Druck für den Abzug der Besatzungstruppen und den Abschluss des Staatsvertrages auszuüben . Dass er dabei eine Grundlage der Wiedererrichtung Österreichs in Frage stellte, spielte ihm keine Rolle.
Vor einem ganz anderen Hörerkreis gab Gruber allerdings eine wesentlich andere Darstellung. Am 17. Dezember 1952 sprach er vor einem Ausschuss der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York. Es ging darum zu erreichen, dass die Vollversammlung eine Resolution beschließt, die sich für einen baldigen Abschluss des Staatsvertrages mit Österreich ausspricht. Da sagte Gruber: „Staatsmänner der Alliierten haben nach Anfang des Zweiten Weltkrieges feierlich erklärt, dass Österreich als souveräner Staat wiedererstehen soll. Diese bei verschiedenen Anlässen gemachten Erklärungen führten schließlich zur Moskauer Deklaration.. Die alliierten Mächte erklärten die Österreich von Deutschland aufgezwungene Annexion für null und nichtig. Die Erklärungen alliierter Staatsmänner gaben unserem Volk die Stärke, allen Methoden der Unterdrückung zu trotzen. Sie schürten Widerstand und bewogen das österreichische Volk bei Kriegsende, die Soldaten der alliierten Armeen, welche Uniform sie auch trugen, als Freunde und Befreier zu begrüßen. Sie führten beim österreichischen Volk zur Überzeugung, dass auf die Jahre der Besetzung und Unsicherheit nun eine lange Periode wirklicher Freiheit, eine Zeit der Sicherheit und des friedlichen Wiederaufbaus folgen würde.“
1976 erschienen die Erinnerungen Karl Grubers. Darin rühmte er sich, schon unmittelbar nach Kriegsende eine antisowjetische und antikommunistische Linie vertreten zu haben. Und er beklagte, dass bei der amerikanischen Besatzungsmacht, mit der er zuerst in Tirol und dann als Bundesminister in Wien zu tun hatte, keineswegs eine antirussische Einstellung vorherrschte. Gruber schrieb: „ Von General Clark abwärts waren sie alle, mit kaum einer Ausnahme, von den russischen Leistungen während des Krieges beeindruckt ... Im Westen rollte ... eine hohe Woge der Sowjetfreundschaft ... Als Österreicher musste man sich während der Jahre der Besatzungszeit immer wieder erst vergewissern, mit den Exponenten welcher amerikanischen Gesinnungsgruppe man es bei Verhandlungen zu tun hatte.“
Für Karl Gruber war der letzte Teil der Moskauer Deklaration, in der Österreich aufgefordert wird, zum Anti-Hitler-Kampf und so zur eigenen Befreiung beizutragen, irritierend. Ihn irritierte auch, dass sich sogar amerikanische Gesprächspartner auf diese Aufforderung der Moskauer Deklaration beriefen. In den Erinnerungen Grubers kamen dann Sätze, die nur als Versuch einer Vernebelung gedeutet werden können: „Die Moskauer Deklaration schien also weitgehend auf die kämpfenden Truppe gemünzt zu sein. Hätten unsere Soldaten (Gruber meint da wohl die Österreicher in der deutschen Wehrmacht) die Moskauer Deklaration gekannt, dann wären sie am ehesten zu dem Schluss gekommen, dass Deutschland und Österreich auch in Zukunft in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden bleiben müßten.“ Und Gruber geht dann auf die politischen Direktiven der alliierten Besatzungsmächte los, die er mit den Hauptmerkmalen „Nichtverbrüderung mit der Bevölkerung Österreichs“ und „Bekämpfung sogenannter Austrofaschisten“ charakterisierte. Gruber kam zum Schluss: „ Wenn Österreich nicht als Linksdiktatur endete, so war das gewiss kein Verdienst der Politoffiziere auf alliierter Seite. Verkappte Kommunisten waren gar nicht so selten.“ Und einige Zeilen weiter hieß es: „Die Volkspartei bildete den festen Kader der antikommunistischen Phalanx.“ Die Widersprüchlichkeit von Stellungnahmen Grubers ist offensichtlich. Vor den Vereinten Nationen lobte er die Moskauer Deklaration, in seinen Erinnerungen sah er sie als Schwächung des Strebens für die Befreiung Österreichs. Die Bemerkungen zur Moskauer Deklaration und verwandten Fragen in seinen Erinnerungen sind also wohl als klarer Ausdruck seiner antisowjetischen und antikommunistischen Haltung zu sehen.

Bruno Kreisky

Bruno Kreiskys Erinnerungen liegen in drei Bänden vor. Der erste Band enthält auch Äußerungen zur Moskauer Deklaration, aber es findet sich da keine Analyse des Zustandekommens und der Bedeutung der Deklaration. Kreisky verwies natürlich darauf, dass er - damals als Emigrant in Schweden - schon vor der Moskauer Deklaration für die Wiederherstellung eines demokratischen Österreich eingetreten ist. Und er fügte hinzu, nicht für die Wiederherstellung eines „vaterländischen Österreich“, womit er deutlich machen wollte, dass es nicht um die Wiederherstellung der Zustände der austrofaschistischen Diktatur Dollfuss – Schuschnigg gehen konnte. Kreisky erinnerte auch daran, dass er mit der von ihm in Schweden vertretenen Position in Gegensatz zu vielen seiner sozialdemokratischen Freunde in England und Amerika stand. Er zitierte die Erklärung, die vom Klub Österreichischer Sozialisten am 28. Juli 1943 in Stockholm beschlossen wurde, zu deren Zustandekommen er wesentlich beitrug und in der die Wiederherstellung einer selbständigen, unabhängigen, demokratischen Republik Österreich gefordert und ein Verbleiben im Rahmen des Deutschen Reiches abgelehnt wird - „im Einverständnis mit der österreichischen Arbeiterschaft und in Kenntnis ihrer Anschauungen“ , wie es im Wortlaut hieß. Die Leitung des sozialdemokratischen Klubs in London wurde aufgefordert, die Erklärung abzugeben, dass die österreichischen Sozialisten auf dem Standpunkt der Wiedererrichtung der österreichischen demokratischen Republik stehen. Kreisky erinnerte auch daran, dass er Initiativen zur Vereinigung aller deutschsprechenden Sozialisten, die u.a. auch von Willy Brandt unterstützt wurden, entgegengetreten ist.
Dass die österreichischen Sozialdemokraten im schwedischen Exil die Moskauer Deklaration ausdrücklich begrüßten, wobei Kreisky als ihr Sprecher gegenüber den schwedischen Medien fungierte, blieb aber in den Erinnerungen unerwähnt. Auskunft darüber gibt jedoch der 1986 von Oliver Rathkolb und Irene Etzersdorfer herausgegebene Band „Der junge Kreisky (1931-1945)“. Gegenüber der schwedischen Zeitung Social-Democrat (Ausgabe vom 4.November 1943) sagte Kreisky damals: „Wir österreichische Sozialisten begrüßen mit größter Freude den Beschluss der Moskauer Konferenz, Österreich als eine freie demokratische Republik wieder herzustellen .. Wir sind auch sicher, dass der Beschluss mit Enthusiasmus in unserem Heimatland begrüßt werden wird. Für die Österreicher ist der Anschluss mit Naziherrschaft und Krieg verbunden. Es ist selbstverständlich, dass Österreich nur durch das Zusammengehen aller demokratischen Kräfte im Land wieder aufgebaut werden kann...“
Auf jenen etwa sieben Seiten der Erinnerungen Kreiskys, in denen eine eingehendere Erörterung der Moskauer Deklaration aus Gründen der Chronologie logisch gewesen wäre, befasste sich aber ein beträchtlicher Teil des Textes mit antikommunistischen Abgrenzungen. Gegen Kriegsende hätten die Kommunisten sich als österreichische Superpatrioten, als extreme Nationalisten gebärdet, um so einen Monopolanspruch zu erheben, schrieb Kreisky. Er betonte auch, dass er als Vorsitzender der Österreichischen Vereinigung in Schweden einen Beitritt zum „Free Austrian World Movement“ ablehnte, denn es hätte die Gefahr bestanden, dass eine kommunistisch beherrschte Bewegung auch ihren Widerhall in Österreich findet. „Die Kommunisten hätten in den ersten Nachkriegstagen in bewährter Manier alles an sich gerissen.“ In den Erinnerungen warf Kreisky den Kommunisten auch vor, sie hätten nach der Befreiung eine eingehende Verfassungsberatung angestrebt, um eigene Interessen durchzusetzen, dies sei aber glücklicherweise von Adolf Schärf verhindert worden. In den Erinnerungen Kreiskys ist also die Darstellung des Zeitabschnittes der Anti-Hitler-Koalition, die für Österreichs Befreiung entscheidend war, vor allem von Denkweisen des Kalten Krieges geprägt.

Schlussbemerkung

Die hier vorgelegte Betrachtung zeigt, dass die Darstellungen und Erinnerungen österreichischer Politiker mit Regierungsverantwortung nicht als Quelle für ein Verständnis der Bedeutung der Moskauer Deklaration dienen können. Es ist eher umgekehrt: Diese Darstellungen und Erinnerungen liefern Einblicke in die Geisteshaltungen und Ziele, die mit Fehldarstellungen und Fehlinterpretationen verfolgt wurden und von anderen in ähnlicher Weise noch heute verfolgt werden.
Die Bedeutung der Anti-Hitler-Koalition für die Wiedergeburt Österreichs vor 58 Jahren - dieses Thema soll, wenn es nach den Absichten der bestimmenden politischen Kräfte dieses Landes geht - möglichst in Vergessenheit geraten. Dem gilt es entgegen zu wirken. Die Verteidigung der Bedeutung der Anti-Hitler-Koalition soll aber auch in einem größeren, internationalen Rahmen gesehen werden. Ein herausragendes Resultat der Anti-Hitler-Koalition war und ist die Entstehung der Vereinten Nationen als weltumspannende Organisation für Friedenssicherung und internationale Zusammenarbeit. Diese Feststellung ist aufrecht zu erhalten , wie immer man ihre Mängel und Unzulänglichkeiten bewertet.(Angemerkt sei: Die ersten Beratungen über die Gründung der Vereinten Nationen fanden bei der Moskauer Außenministerkonferenz 1943 statt, bei der die Moskauer Deklaration über Österreich beschlossen wurde.) So ist die Aufgabe des Bewusstmachens der Moskauer Deklaration heute auch in Zusammenhang mit der höchst aktuellen Notwendigkeit zu sehen, den Versuchen entgegenzutreten, die Vereinten Nationen auszuhebeln und in die Bedeutungslosigkeit abzudrängen. Dass die derzeitige Regierung der USA, die sich auf rücksichtsloses Alleinentscheiden orientiert, solche Versuche unternimmt, haben die letzten Monate gezeigt. Gezeigt hat sich aber auch wachsende Bereitschaft in vielen Ländern, diesen Versuchen entgegenzutreten.

Literaturliste

Karl Renner *1870, +1950, Staatskanzler 1918-1920, Präsident des Nationalrates 1931-1933, Staatskanzler 27. April 1945 - 20. Dezember 1945, Bundespräsident 20. Dezember 1945 - 31.Dezember 1950
Karl Renner, Denkschrift über die Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Österreichs, Österreichische Staatsdruckerei, Wien 1946 / Europa Verlag, Zürich 1946
Karl Renner, Österreich von der ersten zur zweiten Republik (Nachgelassene Werke, II. Band), Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1953
Karl Renner, Für Recht und Frieden (Auswahl der Reden des Bundespräsidenten), Verlag Österreichische Staatsdruckerei, Wien 1950

Adolf Schärf *1890, +1965, Staatssekretär 27.April 1945 - 20. Dezember 1945, Vizekanzler 20. Dezember 1945 - 22. Mai 1957, Bundespräsident 22. Mai 1957 - 28. Februar 1965, Vorsitzender der SPÖ 1945-1957
Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung 1945-1955 , (z.B.) siebente ergänzte Auflage, Wien 1960
Adolf Schärf, Erinnerungen aus meinem Leben, Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1963
Adolf Schärf, Der Teil und das Ganze (ausgewählt von Jacques Hannak), Europa Verlag, Wien 1965

Leopold Figl *1902, +1965, 1938-1943 im KZ Dachau und KZ Mauthausen, Staatssekretär 27. April 1945 - 20. Dezember 1945, Bundeskanzler 20. Dezember 1945 - 2. April 1952, Außenminister 26. November 1953 - 10. Juni 1959, 1. Präsident des Nationalrates 1959-1962, Landeshauptmann von Niederösterreich 1962-1965
Leopold Figl, Ein Jahr freies Österreich (Rede in der gemeinsamen Sitzung des Nationalrates und des Bundesrates am 8. März 1946), Österreichischer Verlag, Wien 1946
Leopold Figl, Lasst uns Österreicher arbeiten! (Erklärung im Nationalrat am 8. Juli 1946) Österreichischer Verlag, Wien 1946
Leopold Figl, Österreich kämpft um den Staatsvertrag (Rede vor dem Plenum der stellvertretenden Außenminister der vier alliierten Mächte in London), Österreichischer Verlag, Wien 1947

Karl Gruber *1909, +1995, Unterstaatssekretär für Äußeres 26. September 1945 - 20. Dezember 1945, Außenminister 20. Dezember 1945 - 26. November 1953, Botschafter in Washington, Madrid, Bonn und Bern 1954-1966, 1969-1972, Staatssekretär 19. April 1966 - 31. Mai 1969
Karl Gruber, Ein politisches Leben. Österreichs Weg zwischen den Diktaturen. Verlag Fritz Molden, Wien 1976
Karl Gruber, Reden und Dokumente 1945 - 1953. Herausgeber Michael Gehler. Böhlau Verlag, Wien 1994.

Bruno Kreisky *1911, +1990, Berater von Bundespräsident Körner 1951-1953, Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten 2. April 1953 - 16. Juli 1959, Außenminister 16. Juli 1959 - 19. April 1966, Bundeskanzler 21. April 1970 - 24. Mai 1983, Vorsitzender der SPÖ 1967-1983
Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Siedler Verlag, Berlin 1986
Oliver Rathkolb, Irene Etzersdorfer, Der junge Kreisky. Jugend und Volk, Wien München 1986

Referat auf dem Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft „60 Jahre Moskauer Deklaration“ am 25. Oktober 2003 in Wien
abgedruckt in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 1/2004

 

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