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Thomas Schönfeld: Walter Hollitscher - hervorragender marxistischer
Wissenschafter, engagierter Kommunist
Wohl die meisten Leser der „Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft“
haben Walter Hollitscher (1911 - 1986) gekannt, sind ihm persönlich bei seinen
Vorträgen oder im kleineren Kreis begegnet oder haben von ihm verfaßte Artikel
und Bücher gelesen. Gewiß erkannten auch jene, deren Begegnungen
- persönlich oder lesend - mit Walter Hollitscher nicht häufig waren,
seine hervorragenden Fähigkeiten und Leistungen - als Wissenschafter mit
bedeutenden Beiträgen zur Weiterentwicklung des marxistisch fundierten
Weltbildes und der kritischen Analyse anderer Auffassungen , als Lehrer in philosophischen
und politischen Fragen, als aktiver Mitstreiter der kommunistischen Bewegung.
Gelehrter mit enzyklopädischem Wissen und zu vielgestaltigem Einsatz seiner
Kapazitäten bereites Mitglied seiner Bewegung, seiner Partei - das hat Walter
Hollitscher ausgezeichnet.
Wenn hier Walter Hollitschers Persönlichkeit, sein Lebenslauf (siehe die
biographischen Daten) und Schaffen in Erinnerung gerufen werden soll, so hat
dies auch aktuellen Anlaß - die zehnte Wiederkehr seines Todestages (6.Juli
1986) und die bevorstehende Wiederzugänglichmachung der
„Walter-Hollitscher-Bibliothek“ in den Räumen der Alfred Klahr Gesellschaft.
Diese Bibliothek, im Testament zum Teil der KPÖ, zum anderen Teil dem Institut
für Philosophie der Leipziger Universität vermacht (das seinen Teil aber dann
wegen der hohen Kosten des Transports und der sachgerechten Aufstellung nicht
übernommen hat), ist von großer wissenschaftlicher Bedeutung. In ihr befinden
sich Werke, die für die Abfassung der Schriften Hollitschers wesentlich waren
und es sind viele Bücher darunter, die an keiner anderen Stelle in Österreich
vorhanden sind.
Nach seiner Rückkehr aus der Emigration (in England) wirkte Walter Hollitscher
vor allem in Österreich und in der Deutschen Demokratischen Republik (1949 -
1953, Professor an der Berliner Humboldt Universität; 1965 - ca. 1984 ,
alljährliche mehrmonatige Aufenthalte als Gastprofessor an der
Karl-Marx-Universität Leipzig). Aber auch in anderen deutschsprachigen Landen,
insbesondere in der BRD, war er vielgesuchter Referent und Teilnehmer an
Dialogveranstaltungen.
Und seine Schriften sind in viele Sprachen übersetzt worden, sein Hauptwerk
über die Natur und den Menschen im Weltbild der modernen Wissenschaften in mehr
als 10 Sprachen. So hatte sein Wirken auch große internationale Ausstrahlung
und fand international Anerkennung.
Nicht nur Erinnerungen sollen hier dargelegt werden. Es soll versucht werden,
die große Aktualität der Werke Hollitschers aufzuzeigen und so zur Befassung
damit anzuregen.
Ein Ausdruck der Wertschätzung für Walter Hollitscher waren die Beiträge, die
ihm Kollegen, Schüler, Freunde und Genossen aus Anlaß seines 70. Geburtstages
widmeten. Die Anzahl derjenigen, die in dieser Form ihre Anerkennung und
Sympathie für ihn ausdrücken wollten, war damals so groß und manche der
Beiträge auch höchst speziell, so daß sich die Herausgabe von zwei Schriften
ergab. In den „Plädoyers für einen wissenschaftlichen Humanismus“,
herausgegeben von Josef Schleifstein, BRD, und Ernst Wimmer, Österreich,
erschienen Beiträge aus der BRD, der DDR und aus Österreich (Globus Verlag
Wien, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt/Main, 198, 168 S.), in der
„Wissenschaftlichen Zeitschrift der Karl-Marx-Universität-Leipzig“
(Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe , 1981, Heft 2) Beiträge
zahlreicher Philosophen der DDR, insbesondere der Leipziger Universität. In
vielen der Hollitscher gewidmeten Beiträge wird eine enge Beziehung zu seinen
Arbeiten, zu seiner Beschäftigung mit verwandten Themen hergestellt. In den
Beiträgen zu den beiden „Hollitscher-Festschriften“ werden weltanschauliche und
politisch-theoretische Schlüsselprobleme der Gegenwart behandelt, den
Stellenwert der Arbeiten Hollitschers in der Klärung dieser Fragen
signalisierend.
Von den zwölf „Plädoyers für einen wissenschaftlichen Humanismus“ fällt eines -
jedenfalls auf den ersten Blick - aus dem Rahmen. Es kam von einem
Nicht-Marxisten, dem Professor der katholischen Theologie an der Universität
Münster, Herbert Vorgrimler. Unter dem Titel „Konfrontation der Ideen zum
Zwecke der Kooperation im Handeln“ berichtet er über Erfahrungen mit dem
marxistisch-christlichen Dialog, über die Mitte der sechziger Jahre ins Leben
gerufene „Paulus Gesellschaft“, und über Walter Hollitschers Engagement in
diesen Aktivitäten. Er verweist insbesondere auf die von 1968 bis 1975
erscheinende „Internationale Dialog-Zeitschrift“ und auf die sechs „äußerst
präzisen und komprimierten Beiträge“ Walter Hollitschers, die dort erschienen
sind. Eine parallele, in mancher Hinsicht verknüpfte Dialog-Aktivität waren die
Symposien über Friedenssuche aus verschiedener weltanschaulicher Sicht, die
gemeinsam vom Institut für Ethik und Sozialwissenschaften der
katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien und vom Internationalen
Institut für den Frieden in Wien, in dessen Leitung Walter Hollitscher als
„Kanzler“ mitwirkte, veranstaltet wurden. Vorgrimlers Beitrag, in dem er viele
Gemeinsamkeiten von Materialisten und Christen - jedenfalls als Möglichkeit -
aufzeigt und zugleich darlegt, wo er die Grenzen der Gemeinsamkeiten sieht, hat
aktuelle Bedeutung, auch wenn die damaligen internationalen Dialog-Aktivitäten
nicht fortgesetzt werden. Heute treten christliche Kreise und prominente
Repräsentanten christlicher Kirchen und Bewegungen der sich verschärfenden
Offensive des Kapitals, den sozialen und kulturellen Zerrüttungen, die sie mit
sich bringt, mit klaren Stellungnahmen entgegen. Die Entwicklung
marxistisch-christlicher Kooperation in den heutigen sozialen
Auseinandersetzungen erweist sich als notwendig und möglich. Die Erfahrungen
des damaligen Dialogs und ein Nachdenken über die Beiträge von Marxisten, wie
Walter Hollitscher sie damals mit großem Einsatz geleistet hat, können für die
Lösung heutiger Aufgaben wertvoll sein.
Was er in seinem Hauptwerk darstellen wollte hat Walter Hollitscher in der
Vorbemerkung zum zweiten Teil dieses Werkes (Der Mensch im Weltbild der
Wissenschaft, 1969) prägnant formuliert: Zuerst - im Buch „Die Natur im
Weltbild der Wissenschaft“ - die historische Entwicklung des Naturbildes
diskutieren, darauf die kosmische und die biologische Evolution, und
schließlich den Prozeß der Menschwerdung und der Bewußtseinsentstehung, also
die „naturgeschichtlichen Voraussetzungen“ des Menschenbildes. Und er hat diese
Vorgangsweise begründet: „Das was ist kann letztlich nur begriffen werden, wenn
zuvor erkundet wurde, wie es geworden ist. Für die Gebilde der Natur wie die
der Gesellschaft ist in Natur- und Gesellschaftsgeschichte der Schlüssel zum
Verständnis des Gegenwartszustandes der Welt zu finden.“ Bei dem zu
entwickelnden Menschenbild bestehe die Aufgabe darin, „die Grundzüge der
gegenwärtigen Hauptformen und der Wandlungen des gesellschaftlichen Seins und
des Bewußtseins, der Lebensweise und der Denkungsart zu kennzeichnen, dabei
sich stützend auf die Wissenschaften, die die körperlichen Wesensmerkmale des
Menschen, seine Nerventätigkeit und seine psychischen Leistungen zum Gegenstand
haben.“ Daß dieses Programm die Behandlung eines großen Spektrums
wissenschaftlicher Fragen erfordert und dies nur von einem Autor mit
enzyklopädischem Wissen und einem Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen
den angesprochenen Wissenschaftszweigen bewältigt werden kann, ist offenkundig.
Walter Hollitscher ist eine Darstellung gelungen, die sich an einen breiten
Leserkreis wendet.
Ein Gebiet, mit dem sich Walter Hollitscher besonders intensiv befaßt und zu
dem er wichtige Beiträge geleistet hat, betrifft die Wechselwirkungen und auch
die Abgrenzungen zwischen den biologischen, psychologischen und
gesellschaftlichen Sphären menschlicher Tätigkeit und menschlichen
Bewußtseins.
Die Auswahl seiner Studienrichtungen in Wien war wohl bereits eine
Entscheidung, die ihn zu diesen Themen führte. An der Universität wurde
allerdings nicht über Marxismus vorgetragen. Dafür war er auf das Selbststudium
angewiesen. Wichtige Anregungen empfing er auch in England durch persönliche
Kontakte zur prominenten Naturwissenschaftern und Philosophen, die einen
marxistischen Standpunkt vertraten (J.D.Bernal, G.B.S.Haldane, J.Needham, M.
Cornforth).
Biologisch-psychologisch-gesellschaftliche Zusammenhänge werden in großen
Abschnitten seines Hauptwerkes behandelt: die Beziehung zwischen individuellem
und gesellschaftlichem Bewußtsein, die Auseinandersetzung mit den Strömungen
bürgerlicher Sozialpsychologie, die die Bewußtseinsbildung ohne
Berücksichtigung der materiell-gesellschaftlichen Tätigkeit der Menschen
darstellen. Der Abschnittt „Irrungen und Pointierungen psychologischer
Theorien“ beschreibt die modernen Hauptströmungen und analysiert sie kritisch -
den Behaviourismus, die Gestaltpsychologie, die vergleichende
Verhaltensforschung und die Psychologie und Pathopsychologie Sigmund Freuds.
Seine eigene Ausbildung als Psychoanalytiker, in Wien und London, hat
Hollitscher besonders zu einer kritischen Analyse des Lebenswerkes Freuds aus
marxistischer Sicht befähigt und zur Ausarbeitung einer Zurückweisung der
Auffassungen, daß der Marxismus einer Ergänzung durch Psychoanalyse oder
ähnliche individualpyschologische Theoriengebäude bedarf.
Auch das 1970 erschienene Buch „Aggression im Menschenbild“ behandelt die
Theorien von Freud und Konrad Lorenz (vergleichende Verhaltensforschung,
Ethologie). Es ist ein Werk, in dem die psychologischen Theorien eingehend
dargelegt und die Schlußfolgerungen pointiert zusammengefaßt werden. Walter
Hollitscher verstand dieses Werk als einen Beitrag zur Diskussion über
Friedensprobleme, als Stellungnahme zur Frage, ob Friedenssicherung ein
realistische Aufgabenstellung ist. Zusammenfassend formulierte er: „ Die
Analogsetzung ´tierischer Aggression´ (an sich schon ein eher unkritisch
gebrauchter Begriff) und menschlich-kriegerischen Verhaltens ist nicht nur
sachlich falsch, sondern auch ideologisch schädlich“. Und etwas später: „Es
gibt beim Menschen keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme angeborener
Aggressionsreaktionen auf soziale Situationen.“ ...“Das Kriegführen ist kein
biologisch-determiniertes Unternehmen, es liegt in keiner ´Natur des Menschen´.
... Der Sinn und Zweck der suggerierten Doktrinen (der Aggressionstheorie wie
die eine Gegenwartsrenaissance erfahrende psychoanalytische Todestrieblehre),
eifrig popularisiert in den Massenmedien, ist: Du kannst die menschliche Natur
nicht ändern. Versuch es daher auch nicht!“
Im letzten Teil seines Hauptwerkes „Die gesellschaftliche Spezifik des
Gegenwartsmenschen“ gibt Walter Hollitscher eine in vieler Hinsicht originelle
Darstellung die „das gesellschaftliche Sein wie das aus ihm resultierende und
darauf zurückwirkende gesellschaftliche Bewußtsein“ umfaßt. Es ist eine
ausgezeichnete Einführung in Kernelemente des Marxismus , in den historischen
Materialismus und die politische Ökonomie. Die Titel der Unterabschnitte zeigen
die Struktur der Darlegung: Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, Zur „Anatomie“
des Kapitalismus, Zur „Anatomie“ des Kommunismus“, Krisentheorie und „Ärzte des
Kapitalismus“. In den Schlußkapiteln des Werkes werden Fragen behandelt, die in
marxistischen Einführungsschriften oft unberücksichtigt geblieben sind, die
aber, wie gerade Hollitschers Darstellung zeigt, große Bedeutung haben, so daß
hier auch eine Aufforderung zu intensiverer Befassung vorliegt. Die
Abschnitt-Titel lauten: „Gesellschaftliches Bewußtsein im Übergang“ und „Die
bewußte Aneignung der Wirklichkeit“ (u.a. mit Abschnitten über politisches und
Rechtsbewußtsein, über moralische Widerspiegelungen und über künstlerische
Aneignung).
Walter Hollitscher war sich der großen Fortschritte auf den meisten von ihm
erörterten einzelwissenschaftlichen Gebiete sehr bewußt. Da ein wichtiges
Merkmal und ein wesentlicher Vorzug seines Hauptwerkes aber die
Berücksichtigung des aktuellen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse war
- und auch bleiben sollte - hat er zunächst bei den Neuauflagen einige
Ergänzungen eingefügt. Doch der Wissenschaftsfortschritt wurde so stürmisch,
daß es selbst einem über enzyklopädisches Wissen verfügenden und zu großer
Arbeitsintensität fähigen Gelehrten wie Walter Hollitscher nicht mehr möglich
war, die Entwicklungen der Einzelwissenschaften umfassend zu verfolgen und das
Werk für Neuauflagen auf den aktuellen Stand zu bringen. Da entstand der
Gedanke, für eine angestrebte Neuausgabe Mitbearbeiter heranzuziehen. Diese
Neuausgabe ist in Form von sechs Taschenbuchbänden zwischen 1983 und 1985 vom
Akademie-Verlag Berlin herausgebracht worden. Hochqualifizierte Wissenschafter
der DDR wurden als Mitbearbeiter gewonnen. In der Neuausgabe ist die Einfügung
wichtigen neuen Materials gelungen. Doch es zeigte sich, daß bei dieser Art
einer Neubearbeitung auch Nachteile auftreten. Es gibt einen Verlust der
Einheitlichkeit des Stils, da ja nun einzelne Abschnitte oder ganze Kapitel von
anderen Autoren geschrieben wurden. Auch die Aufteilung des ursprünglich
zweibändigen in ein sechsbändiges Werk führte zur Änderung einiger Merkmale,
insbesondere da die sechs Bände nicht in der Reihung ihres Inhalts in der
zweibändigen Ausgabe erschienen sind.
Walter Hollitscher ist rund drei Jahre vor dem Zerfall der sozialistischen
Ordnung in der Sowjetunion und in Osteuropa gestorben. Die Frage interessiert,
ob er zum Zerfall führende Faktoren bereits erkannt hat. In seinem Hauptwerk
(1969) - in dem bereits genannten Kapitel „Zur ´Anatomie´ des Kommunismus“ gibt
es im Rahmen der Darstellung der beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft
zu lösenden Probleme und der dabei erreichten Errungenschaften auch Stellen,
die mit großer Klarheit auf Fehler und Mißgriffe bei der Gestaltung der
sozialistischen Ordnung eingehen. So werden die „Fehler, Mißgriffe und die
Verletzungen ökonomischer beziehungsweise politisch-moralischer Grundsätze
unter Stalins Führung, und den sich aus der exaltierten Stellung Stalins
ergebende große „Verstärkereffekt“ dargestellt. Hollitscher betont: „Es gibt
für Menschen mit Gewissen und Gedächtnis keine Absolution, die sie von der
Mitverantwortung an dem der eigenen Sache durch Angehörige der eigenen Bewegung
Angetanes lossagen könnte.“ Und er zitiert Karl Marx, der in „Der achtzehnte
Brumaire des Louis Bonaparte“ (1851/52), damals noch vor der ersten erfolgreichen
proletarischen Revolution, schrieb, daß solche Revolutionen die Halbheiten,
Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche verhöhnen, sie „scheinen
ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und
sich riesenhaft ihnen gegenüber wieder aufrichtet.“
Die Industrialisierungsperiode in der Sowjetunion besprechend schreibt
Hollitscher über die zu lange fortgesetzten Zentralisierungsmaßnahmen und die
dadurch hervorgerufenen Widersprüche, über die Hemmungen der Entwicklung der
Produktion, die sich aus der ungenügenden Nutzung ökonomischer Hebel und ihrer
Ersetzung durch moralisch-politische Appelle ergaben. Hinsichtlich der Zeit
nach dem Zweiten Weltkrieg vertritt er die Einschätzung, daß manche Fehler
hätten vermieden werden können wenn man sich mit größerer Bewußtheit auf die
Einsicht Lenins über die Verschiedenheit der Übergangsformen zum Sozialismus
gestützt hätte und alternative ökonomische Wege im Rahmen der sozialistischen
Ordnung unvoreingenommen analysiert hätte.
Stalins Schrift „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ (1952)
übertrug theoretische Analysen früherer Entwicklungsstufen der sozialistischen
Ökonomie unkritisch auf neue Probleme, woraus sich Fehleinschätzungen in
mehreren wichtigen Aspekten der ökonomischen Politik ergaben. Aus der Negierung
der Wirkung des Wertgesetzes in der Warenproduktion und -zirkulation im
Sozialismus resultierten Fehler in der Kontrolle der gesellschaftlichen
Produktion, Zirkulation und Distribution, es konnte keine wirtschaftliche
Rechnungsführung gewährleistet werden. Hollitschers Einschätzung hinsichtlich
des Fortschritts bei der Überwindung solcher Fehler, beim Aufbau neuer Systeme
der Wirtschaftsleitung und der Nutzung mathematischer Modellierungsmodelle in
der Ökonomie der sozialistischen Länder dürfte zu optimistisch gewesen sein.
Hier ist anzumerken, daß die von Hollitscher geschriebenen Kritik übenden
Stellen (enthalten in der in Österreich 1969 erschienenen Ausgabe) in der
Neuausgabe 1985 (in der DDR erschienen) wesentlich gekürzt aufscheinen.
Aus Gesprächen mit Hollitscher weiß der Verfasser auch, daß die Frage
fehlerhafter Entwicklungen im realen Sozialismus für ihn nicht nur eine Sache
war, für die es einige knappe Formulierungen zu finden galt, sondern ihn
hinsichtlich vieler Aspekte oft beschäftigte. Aber seine Überzeugung blieb
aufrecht, daß mit dem Entstehen und der in wichtigen Bereichen positiven
Entwicklung der sozialistischen Staaten die den Kapitalismus logisch ablösende
sozialistische Ordnung real entstanden ist und diese Errungenschaft keineswegs
preisgegeben werden dürfe. Diese Einstellung beruht auf seiner grundsätzlichen
Gegnerschaft zur kapitalistischen Ordnung, die bei ihm tief in
wissenschaftlichen Erkenntnissen wurzelte, und auf seiner Verbundenheit mit der
Bewegung, die für die Überwindung dieser Ordnung kämpft.
Der Zerfall der sozialistischen Ordnung hätte ihn zutiefst enttäuscht und
erschüttert, auch wenn er manche Faktoren, die dies verursachen können ,
erkannt hatte, allerdings - wie viele andere auch - nicht in ihrem vollem
Ausmaß und hinsichtlich der Auswirkung einer Kumulation solcher Faktoren.
Von seiner grundsätzlichen Position wäre er aber keineswegs abgegangen. Bereits
zu seinen Lebzeiten hätte er sich durch eine genügend scharf vorgetragene
Kritik am realen Sozialismus, seine Stagnation und Rückschritte angreifend, von
der kommunistischen Bewegung distanzieren können, und für solches Handeln hätte
er wohl eine Stelle in irgendeiner Institution des bürgerlichen
Wissenschaftsbetriebes und damit die Möglichkeit eines wesentlich bequemeren
Lebens erhalten.
Einen solchen Weg zu gehen, ist ihm nie in den Sinn gekommen. Die Entscheidung
seiner Jugendjahre war für ihn unwiderruflich und wäre das auch in der neuen
Situation geblieben.
Es gibt keinen Grund zu zweifeln, daß er sich in der neuen - der nach -1989
Periode - nach Kräften bei der Bearbeitung von aktuellen Fragen beteiligt
hätte. Die Fehler bei der Gestaltung des Sozialismus sind allseitiger zu
erforschen, und daraus sind Lehren zu ziehen. Der Kampf gegen den Kapitalismus
in seiner heutigen Ausprägung und seinen krisenhaften Erscheinungsformen
erfordert neue Formierungen und neue Methoden.
Real ist jedenfalls die Erwartung: Die von Walter Hollitscher hinterlassenen
Ideen, seine Schriften werden weiter studiert werden und werden so zur Lösung
der sich jetzt ergebenden Fragen Beiträge leisten können.
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 4/1996
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