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Thomas Schönfeld: „Den Atomkrieg verhindern! Abrüsten!“
Vor zwanzig Jahren, am 15. Mai 1982, fand der Friedensmarsch der 70 000 in Wien statt. Auf den Plakaten und Aufklebern, mit denen zur Teilnahme aufgerufen wurde, stand die Hauptlosung dieser bis dahin größten österreichischen Friedensdemonstration der Nachkriegszeit: „Den Atomkrieg verhindern! Abrüsten!“. Wenn hier an diese eindrucksvolle Manifestation erinnert wird, dann vor allem, um heutige Probleme der Friedenssicherung mit den damaligen in Beziehung zu setzen. Zunächst ist zu fragen: Worin bestand die damalige Zuspitzung der Kriegsgefahr? Wie entstand in wenig mehr als einem Jahr eine so große, zehntausende Menschen dieses Landes mobilisierende Bewegung?
Am 12. Dezember 1979 wurde bei einem Treffen der Außen- und Verteidigungsminister der Nato-Staaten in Brüssel beschlossen, neue amerikanische Mittelstreckenraketen als Atomwaffenträger in Westeuropa zu stationieren. Es sollten in den folgenden Jahren 108 Pershing II Raketen und 464 Marschflugkörper („cruise missiles“) in Stellung gebracht werden. Gleichzeitig erklärten sich die Nato-Minister bereit, über eine Begrenzung und den Abbau derartiger Waffensysteme zu verhandeln. Das Wesentliche war aber der Beschluss, neue amerikanische Atomwaffen in Europa aufzustellen. Die Diskussion über diesen Rüstungsschritt hatte mehr als ein Jahr davor begonnen. Doch auch die davor liegenden Jahre sind zu betrachten. Im Mai 1972 waren die ersten SALT-Verträge zwischen den USA und der Sowjetunion unterzeichnet worden (SALT = Strategic Arms Limitation Talks). Dazu gehörte der Vertrag über die Begrenzung von Abwehrsystemen gegen ballistische Raketen (ABM-Vertrag) und das zeitweilige Abkommen über Maßnahmen zur Begrenzung der strategischen Offensivwaffen. Diese Verträge, die in Moskau von R. Nixon und L. Breshnew unterzeichnet wurden, kamen auf Grund einer wesentliche Haltungsänderung der USA-Regierung zustande. Der in den Jahren davor verfolgte Kurs, mit neuen amerikanischen Raketen eine eindeutige Überlegenheit über die Sowjetunion zu erreichen, hatte nicht zu diesem Ergebnis geführt, sondern auch für die USA zu neuen Gefahren und zu großen wirtschaftlichen Belastungen. So entstand Bereitschaft, mit der Sowjetunion über Begrenzung von Rüstungen zu verhandeln. Dabei war klar, dass Verhandlungsergebnisse nur durch ein Akzeptieren von Parität bzw. von gleichgewichteten Beschränkungen zumindest in bestimmten Rüstungsbereichen zu erreichen sein würden. Nach den SALT-Verträgen kam es zu weiteren Schritten, die die Ost-West-Entspannung voran brachten.
Nach mehrjährigen Verhandlungen wurde die KSZE, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, im August 1975 mit der Annahme der Schlussakte in Helsinki beendet. In diesem Dokument wurden Prinzipien für ein friedliches Zusammenleben der europäischen Staaten festgelegt und Ausgangspunkte für spätere Schritte zur militärischen Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa formuliert. Und die endgültige Niederlage der amerikanischen Intervention in Vietnam im Jahr 1975 war ein wesentlicher Rückschlag für die Politik der USA, sich durch militärische und politische Interventionen eine globale Vormachtstellung zu sichern.
Die Orientierung auf Entspannung und auf Abkommen zur Rüstungsbegrenzung wurde aber von einflussreichen Kreisen in den USA abgelehnt. Sie wollten wieder das Erringen militärischer Überlegenheit forcieren. Wichtige Schritte in diese Richtung gab es bereits unter Präsident J. Carter, der von Jänner 1977 bis Jänner 1981 im Amt war. Beim Nato-Treffen im Mai 1978 in Washington setzten die USA ein langfristiges Programm zur Steigerung der militärischen Anstrengungen aller Nato-Staaten durch, in eklatantem Widerspruch zu der gleichzeitig in New York stattfindenden Sondertagung der Vollversammlung der Vereinten Nationen über Abrüstung, bei der ein Rahmenprogramm für die Abrüstungsbemühungen angenommen wurde. Auf Grund der von Carter erlassenen Präsidentenweisung 59 (Juli 1979) wurde eine langfristige Steigerung der amerikanischen Rüstungsprogramme eingeleitet, und es erfolgte eine wesentliche Änderung der Kernwaffenstrategie. Da nun Raketen mit wesentlich erhöhter Zielgenauigkeit zur Verfügung standen, wurde festgelegt, dass vor allem Raketenabschussrampen sowie die militärischen und politischen Befehlszentren eines gegnerischen Staates (also der UdSSR) die mit Kernwaffen anzugreifenden Ziele sein würden. Bis dahin waren als Kernwaffenziele Großstädte und wichtige Industrieanlagen vorgesehen gewesen. Die Zerstörung solcher Ziele war als Reaktion auf einen Angriff der anderen Seite vorgesehen. Mit Kernwaffen sollte also ein Gegenschlag geführt werden bzw. die Androhung eines Kernwaffeneinsatzes of solche Ziele sollte dazu dienen, die andere Seite von einem Angriff abzuschrecken. Mit der Festlegung, dass Abschussrampen und Befehlszentren die wichtigsten Raketenziele sein sollen. wurde hingegen auf einen Erstschlag mit Kernwaffen orientiert. Das bedeutete die Planung von Kernwaffeneinsätzen, mit denen eine Gegenwehr des Gegners, insbesondere ein Raketengegenschlag, von vornherein ausgeschaltet werden kann. Kernwaffen sollten also für einen Angriff und nicht zur Abschreckung eines gegnerischen Angriffs eingesetzt werden.
Die Verhandlungen über ein zweites SALT-Abkommen wurden zwar weitergeführt und im Juni 1979 wurde der SALT II-Vertrag in Wien von J. Carter und L. Breshnew unterzeichnet. Doch schon in den Wochen vor dem Abschluss der Verhandlungen setzte eine Gegenkampagne in den USA ein, sodass die Möglichkeit der Ratifizierung des Vertrags durch den US-Senat angezweifelt wurde. Nach dem militärischen Eingreifen der Sowjetunion in Afghanistan erklärte die Regierung Carter dann zu Beginn des Jahres 1980, dass sie den SALT II-Vertrag dem US-Senat nicht zur Ratifizierung vorlegen wird. Sie schwenkte also auf die Linie der Gegner von Vereinbarungen über Rüstungsbegrenzung und Abrüstung ein. (Unter Ronald Reagan, der das Präsidentenamt im Jänner 1981 antrat, wurde der Konfrontationskurs verschärft. Mit der von ihm im März 1983 in Auftrag gegebenen „Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI)“, auch als „Krieg der Sterne“ bekannt, erreichte die Konfrontationspolitik seiner Regierungsperiode einen Höhepunkt.)
Nachrüstung oder Erstschlag?
Die neuen Raketentypen Pershing II und Cruise waren vor allem aus zwei Gründen als Waffen für einen Erstschlag anzusehen - wegen ihrer sehr großen Zielgenauigkeit und bei den Pershing II wegen ihrer kurzen Flugzeit zwischen Abschuss und Detonation an einem möglichen Ziel in der Sowjetunion. Bei Interkontinentalraketen beträgt die Flugzeit etwa eine halbe Stunde, bei Pershing II Raketen, die von europäischem Boden abgefeuert werden, aber nur 4 bis 6 Minuten. Bei einer so kurzen Flugzeit hat der Zielstaat praktisch keine Möglichkeit für Abwehrmaßnahmen oder für eine verlässliche Entscheidungsfindung hinsichtlich eines Vergeltungsschlags. Bei Marschflugkörpern ist die Flugzeit zwar länger, sie können aber knapp über der Erdoberfläche einfliegen und sind daher schwer zu detektieren und abzuschießen.
Der Beschluss der Nato, die neuen Mittelstreckenraketen zu stationieren, wurde vor allem mit der Notwendigkeit einer „Nachrüstung“ begründet. Doch die Analysen vieler Experten, die nicht dem Militärapparat der Nato oder einem ihrer Mitgliedstaaten angehörten, und dann auch einer Reihe von Militärs der Nato-Länder ergaben, dass das Argument von der „Nachrüstung“ erfunden ist. Sie zeigten nämlich, dass das Verhältnis bei Atomraketen mittlerer Reichweite in Europa mehr oder weniger ausgewogen ist. Dieses Ergebnis wurde besonders deutlich gefunden, wenn bei der Zusammenstellung der westlichen Potenziale die auf Schiffen und U-Booten befindlichen Raketen und die französischen und britischen Atomraketen berücksichtigt wurden. Die Propagandisten der „Nachrüstung“ argumentierten insbesondere mit der Behauptung, dass die Sowjetunion neue Mittelstreckenraketen SS-20 aufstellt und das Kräfteverhältnis dadurch wesentlich zu ihren Gunsten verändert wird. Auch westliche Experten stellten dann klar, dass die Sowjetunion nicht eine Neustationierung sondern eine Modernisierung ihrer Mittelstreckenraketen durchführt. Ältere Raketen der Typen SS-4 und SS-5 wurden durch die neueren SS-20-Raketen ersetzt. Die älteren Typen verwendeten flüssigen Treibstoff, der vor dem Raketenstart in einem länger dauernden Vorgang in die Rakete eingefüllt werden musste, während die SS-20 mit festem Treibstoff betrieben wird. Das ermöglichte einen schnellen Start dieser Raketen. Von den Experten wurde auch darauf hingewiesen, dass die USA ähnliche Modernisierungsschritte ihrer Raketen mehrmals vorgenommen hatten. Das Argument von der „Nachrüstung“ verlor daher mehr und mehr an Glaubwürdigkeit.
Gegenüber der europäischen Öffentlichkeit sollte die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen vor allem mit der Notwendigkeit einer „Nachrüstung“ begründet werden. In den strategischen Diskussionen in den Führungskreisen der USA spielten aber andere Gesichtspunkte eine wesentliche Rolle. Da war von der Ermöglichung von „Enthauptungsschlägen“ gegen die Sowjetunion und von der Führbarkeit eines „begrenzten Atomkrieges“ die Rede. Dadurch wurde auch für die europäische Öffentlichkeit erkennbar, dass die neuen Mittelstreckenraketen für Erstschläge gedacht waren, dass also Westeuropa als Basis für vorgeschobene Raketenabschussrampen dienen sollte. Es wurde klar, dass diese Stationierung nicht mehr Sicherheit für Europa bringen würde, sondern es zum Ziel von atomaren Gegenschlägen werden könnte. Die Vorstellung eines „begrenzten Atomkrieges“ wurde als eine abenteuerliche und für das Schicksal der Welt äußerst gefährliche Konzeption erkannt, denn sie verschweigt die nicht aufhaltbare Eskalation von Kriegshandlungen in globalem Maßstab als Folge eines ersten Kernwaffeneinsatzes. Für Europa wurde aber vor allem die Absicht amerikanischer Führungskreise sichtbar, einen Kernwaffenkrieg in Europa zu führen, mit dem Einsatz der in Westeuropa stationierten Atomwaffen, wobei - so das Kalkül dieser Strategen des Wahnsinns - die Sowjetunion und große Teile Europas durch Kernwaffen weitgehend zerstört, die USA aber diesen „begrenzten Atomkrieg“ ziemlich unbeschadet überstehen könnten. Diese Erkenntnisse verstärkten die Bewegungen zur Zurückweisung der Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen.
Aus kleinen Schritten wurde eine große Bewegung
Das wichtigste Moment für die Entfaltung der großen Friedensbewegung in Österreich waren die internationalen Entwicklungen: die sich in Europa ausbreitende Erkenntnis von der Gefährlichkeit der Pläne der Nato und die starken Proteste gegen diese Pläne in vielen Ländern Westeuropas. Große Manifestationen gegen die Raketenstationierung gab es in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und in Großbritannien. /1/ In Österreich waren 1980 und 1981 noch keine großen Aktionen geplant, aber es kam zu organisatorischen Formierungen, die als Schritte zur späteren großen Bewegung angesehen werden können. Im Sommer 1980 mobilisierten einige Organisationen, vor allem aus dem Jugendbereich, zu Aktionen um die Lieferung in Österreich erzeugter Panzer an reaktionäre und diktatorische Regime (in Chile, Bolivien und Marokko) zu stoppen. Die in Simmering zur Auslieferung bereit stehenden Panzer waren der Anlass für eine direkte Aktion junger Österreicherinnen und Österreicher gegen diese hässlichen Rüstungsgeschäfte. Die Teilnehmer der Aktionen wurden von dem Standpunkt motiviert, dass Österreich, wenn es sich als demokratischer, neutraler und der Friedensförderung dienender Staat versteht, sich nicht auf derartige Waffenverkäufe einlassen darf. Diese Aktionen wurden für viele Teilnehmer Ausgangspunkt für ein allgemeineres Friedensengagement.
Bei einem Friedensmarsch in Wien im Juni 1981 ging es insbesondere um den Protest gegen Panzerlieferungen nach Argentinien, aber auch andere wichtige Friedensforderungen wurden vertreten. In Oberösterreich wurde auf Grund von Kontakten zwischen einigen Jugendorganisationen, insbesondere der sozialdemokratischen und christlichen Bereiche, der Grundstein für eine regionale Friedensbewegung gelegt. Bei der österreichweiten Aktion der Sozialistischen Jugend „Jugend für den Frieden“, in deren Rahmen Veranstaltungen in ganz Österreich stattfanden und bei der die Frage der atomaren Bedrohung im Mittelpunkt stand, wurden breite Bevölkerungskreise informiert.
Im August 1981 wandte sich ein kleiner Initiatorenkreis an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit dem Vorschlag, aus Anlass der von der Vollversammlung der Vereinten Nationen proklamierten internationalen „Woche für Abrüstung“ (jeweils im Oktober) einen gemeinsamen Aufruf herauszugeben. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, am 2. Oktober 1981, hatten diesen Aufruf „Den Atomkrieg verhindern! Abrüsten!“ /2/ 184 österreichische Persönlichkeiten unterzeichnet. Die Sammlung von Unterschriften unter den Aufruf wurde dann bis zum Frühjahr fortgeführt und der Aufruf Anfang Mai 1982 mit 4344 Unterschriften an Bundespräsident Kirchschläger und Bundeskanzler Kreisky übergeben.
Durch diese Aktionen in Österreich angeregt, vor allem aber auf Grund der sich ausweitenden internationalen Proteste gegen die Pläne zur Raketenstationierung wurden im Herbst 1981 Friedensinitiativen in einigen Städten und auch in kleineren Gemeinden gebildet. Sie traten mit Veranstaltungen und Informationstätigkeit an die Öffentlichkeit. Es war naheliegend, dass der Wunsch entstand, eine große Friedensdemonstration in Österreich zu organisieren, die Friedensbewegung in Österreich also in ähnlicher Weise sichtbar zu machen, wie das in anderen europäischen Ländern erfolgt war. Ein erstes Treffen zur Beratung eines solchen Planes fand am 10. Dezember 1981 in Wien statt. Etwa hundert Organisationen und Initiativen waren vertreten. Das widerspiegelte die intensive Befassung mit Friedensproblemen in den letzten Monaten in einem breiten Spektrum von Organisationen, insbesondere in sozialistischen und katholischen Jugendorganisationen. Die Durchführung einer gesamtösterreichischen Friedensdemonstration wurde beschlossen und bestimmte organisatorische Maßnahmen zur Verwirklichung dieses Projektes wurden vereinbart. Plenartagungen sollten der Beratung im Kreis aller die Aktion unterstützender Gruppen dienen und ein Koordinationsausschuss sollte für die konkreten Vorbereitungen zuständig sein. Am 7. Februar 1982 wurde bei einer Plenartagung die Plattform für den Friedensmarsch am 15. Mai beschlossen /3/. In Anlehnung an den im Oktober veröffentlichten Aufruf österreichischer Persönlichkeiten /2/ wurde als Hauptlosung vereinbart: „Den Atomkrieg verhindern - abrüsten!“
Störaktionen
Der Beschluss zur Durchführung des Friedensmarsches am 15. Mai und die vereinbarte Plattform gaben der sich entwickelnden Friedensbewegung wichtige Impulse. Auf allen Ebenen intensivierte man die Tätigkeit, um den 15. Mai zu einem Erfolg zu machen. Andrerseits setzten Störaktionen ein, mit denen die Friedensbewegung desorientiert und gespalten werden sollte. Dafür gab es verschiedene Motive. In den Führungen der großen Parteien und etablierten Institutionen sah man das Entstehen einer großen, parteiunabhängigen Bewegung zu einer bedeutsamen politischen Frage, der von Frieden und Abrüstung, als eine Konkurrenz. Dort spürte man, dass eine solche Bewegung zu einem unabhängigen Faktor in der Politik werden und Druck auf die Parteien und Institutionen ausüben könnte. Vor allem aber war die Politik der großen Parteien SPÖ und ÖVP - und noch mehr die der wichtigen Medien - ganz im Fahrwasser von USA und Nato. Die Plattform für den 15. Mai forderte zwar nicht die einseitige Abrüstung des Westens, aber die Gegner der Friedensbewegung schätzten ein, dass diese Bewegung in breiten Kreisen zur Erkenntnis der Gefahren der Konfrontations- und Hochrüstungspolitik von USA und Nato führen würde. Sie versuchten deshalb, in die Friedensbewegung hineinzuregieren und eine Änderung ihrer Plattform durchzusetzen.
Für solche Störmanöver wurde der Österreichische Bundesjugendring eingesetzt, in dem - als Dachorganisation konstituiert - Vertreter parteigebundener und kirchlicher Organisationen entscheidenden Einfluss hatten. Er verlangte, dass Formulierungen im Sinn der „Supermachtheorie“ in den Aufruf hineingenommen werden, dass also die Ursachen der derzeitigen Gefahren verzerrt dargestellt werden. Später verlangte der Bundesjugendring, unter Androhung seines Rückzuges von der Vorbereitung des Friedensmarsches, dass bei der Abschlusskundgebung am 15. Mai kein KPÖ-Mitglied sprechen dürfe. Da eine Änderung der Aufrufunterzeichnung große Schwierigkeiten bereitet hätte, wurde das dann auch akzeptiert. Aber viele Aktivisten der Friedensbewegung waren empört. So erklärte die Oberösterreichische Friedensbewegung, dass die Ausgrenzung einzelner Gruppen nicht der Praxis und dem Wesen der Friedensbewegung entspricht und dass eine gleichberechtigte Zusammenarbeit aller Gruppen und Richtungen in der Friedensbewegung notwendig sei. Der damalige Zentralsekretär der SPÖ Fritz Marsch verlangte noch wenige Wochen vor dem 15. Mai von den sozialistischen Jugendorganisationen, dass sie eine Änderung der Plattform des Friedensmarsches durchsetzen. Sein Vorstoß blieb jedoch ohne Erfolg. Ausführliche Darstellungen dieser Auseinandersetzungen sind in Studien über die österreichische Friedensbewegung enthalten, die für Vorlage im universitären Bereich verfasst wurden /4, 5/.
„Größte Demonstration der Nachkriegszeit“
Eine Schilderung des Ablaufs des Friedensmarsches am 15. Mai ist in diesem Artikel natürlich nicht möglich. Es sei aber an den ausgezeichneten, reich bebilderten Band „Friedensmarsch der 70 000“ erinnert, der im Herbst 1982 von „Künstler für den Frieden“ /6/ herausgegeben wurde. In diesem Band sind auch die Zeitungsberichte unmittelbar nach dem 15. Mai zu finden. Die folgenden Schlagzeilen dieser Berichte zeigen, dass Zeitungen, die dem Friedensmarsch zunächst kritisch oder ablehnend gegenüberstanden, dann seinen Erfolg anerkannten: „Rathausplatz: Reden gegen die Rüstung - 'Wir sind nicht dumm und auch nicht einäugig'“ (Kurier, 16. Mai 1982). „Frühjahrsparade für den Frieden: Sogar der Mist wurde weggeräumt“ (Die Presse, 17. Mai 1982). „70 000 bei der größten Demonstration der Nachkriegszeit - 'Wir wollen niemals töten'“ (Arbeiterzeitung, 17. Mai 1982). „Auch viele SPÖ-Politiker bei Friedensmarsch, Kundgebung“ (Arbeiterzeitung, 17. Mai 1982). „Sozialisten, Christen, Kommunisten - alle marschierten sie für den Frieden“ (Vorarlberger Nachrichten, 17. Mai 1982). „70 000 auf dem Friedensmarsch. Gewaltige Jugenddemonstration verlief ohne Zwischenfälle“ (Kärntner Tageszeitung, 16. Mai 1982).
Vorurteile und Engagement: Die Kommunisten
Dass die Gegner der Friedensbewegung, die den Friedensmarsch des 15. Mai verhindern oder schwächen wollten, zu bekannten antikommunistischen Argumentationsmustern griffen, war nicht überraschend. Mit den im „Kalten Krieg“ praktizierten Verunglimpfungen hatten sie schon frühere Friedensaktivitäten in Österreich angegriffen und versucht, sie als „einseitig“ oder sogar als Teil eines Planes zur kommunistischen Machtergreifung zu diffamieren. So wollten sie die Aktivitäten zur Unterstützung des Stockholmer Appells für ein Verbot der Atomwaffen unterbinden, für den in Österreich im Jahr 1950 900 000 Unterschriften gesammelt wurden. Ähnliche „Argumente“ wurden auch gegen die österreichische Ostermarschbewegung eingesetzt, die Mitte der Sechzigerjahre Aktionen gegen das Kernwaffenwettrüsten durchführte. An diesen Bewegungen und an der neuen Bewegung Anfang der Achtzigerjahre nahmen Kommunistinnen und Kommunisten teil, nicht um sie zu „unterwandern“ bzw. den Einfluss von Menschen anderer Gesinnungen zurückzudrängen, sondern weil sie den Zielsetzungen dieser Bewegungen zustimmten. Sie wollten zur Entwicklung dieser Bewegungen beitragen und begrüßten stets die Mitwirkung von Menschen vieler verschiedener politischer und weltanschaulicher Auffassungen. Das Ziel der Gegner der Friedensbewegung war klar: Man versuchte eine Ausgrenzung der Kommunisten zu erreichen, so einen Keil in die Bewegung zu treiben und die freundschaftliche Zusammenarbeit, die sich dort entwickelte, zu zerstören. Bei den Auseinandersetzungen, die auf verschiedenen Ebenen der Friedensbewegung stattfanden, setzte sich aber der Wunsch nach Fortsetzung der Zusammenarbeit und Bewahrung einer einheitlichen Friedensbewegung, bei Akzeptierung unterschiedlicher Positionen und Affiliierungen, durch. Dazu trug sowohl die internationale Entwicklung, die Erkenntnis der Notwendigkeit gemeinsamen Handelns gegen die Gefahren der atomaren Hochrüstung, wie das persönliche Auftreten der von den Gegnern unter Druck gesetzten Kommunistinnen und Kommunisten in vielen Friedensinitiativen und den Gremien der Friedensbewegung bei.
Um eine Ausgrenzung von Kommunisten aus der Friedensbewegung zu erreichen berief sich die Führung der SPÖ zunächst auf die „Eisenstädter Erklärung“, die eine Zusammenarbeit von Sozialisten mit Kommunisten untersagte. Als die in der Friedensbewegung engagierten jungen Sozialisten die Einheit der Friedensbewegung aufrechterhielten, setzten sie zugleich ein Zeichen, dass die Eisenstädter Erklärung überholt ist und nicht mehr durchgesetzt werden kann.
Einige Tage nach dem 15. Mai hat KPÖ-Vorsitzender Franz Muhri die Einstellung der österreichischen Kommunistinnen und Kommunisten zur Friedensbewegung in einem kurzen Artikel zusammengefasst. In der „Volksstimme“ vom 19.Mai 1982 schrieb er: „70 000 Teilnehmer aller Altersstufen, darunter besonders viele junge Menschen am gesamtösterreichischen Friedensmarsch - das hat selbst optimistische Erwartungen übertroffen... Die Einheit, das Zusammenwirken von Menschen unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Ansichten im Rahmen dieser Friedensbewegung, die Stärkung der Initiative und Mitwirkung von der Basis stellen ... die wichtigste Ursache für diese große Beteiligung und für diesen Fortschritt dar. Die Versuche, die es monatelang gegeben hat, dieser Bewegung von außen eine andere Plattform aufzuzwingen, sie zu schwächen und zu spalten, sind miss-lungen, was nicht heißt, dass es nicht weiter solche Bestrebungen geben wird. Der Gedanke, dass mit dieser Friedensbewegung ein neuer und ernst zu nehmender Faktor entstanden ist, wird heute bereits in breiten Kreisen anerkannt. Wie zu erwarten, hat es die verschiedensten Transparente und Aussagen gegeben, doch der überwiegende Teil der Losungen, der Ansprachen, hat Inhalt und Geist der in demokratischer Diskussion in der Friedensbewegung erarbeiteten Plattform entsprochen: Den Atomkrieg verhindern, allseitige Abrüstung bei den atomaren und allen anderen Waffen in West und Ost. ... Und dafür gilt es nun den Kampf verstärkt fortzusetzen, gemeinsam mit den Friedenskräften in der ganzen Welt. ... Die österreichischen Kommunisten waren von Anfang an bestrebt zu dieser Friedensbewegung einen aktiven und positiven Beitrag zu leisten. Wir werden dies auch weiterhin tun.“
Der Linzer Appell
Nach dem erfolgreichen Friedensmarsch des 15. Mai waren weitere Aktionen und Aufgabenstellungen der Friedensbewegung festzulegen. Im Herbst 1982 fanden Friedensveranstaltungen in mehreren Städten, in Linz, Graz, Salzburg, Ybbs und Klagenfurt, und eine große Festveranstaltung von „Künstler für den Frieden“ in der Wiener Stadthalle statt. Es gab aber auch den Wunsch, eine neue gesamtösterreichische Aktion durchzuführen. So entstand der Vorschlag, vor allem von der Friedensbewegung in Oberösterreich eingebracht, eine Unterschriftensammlung zur Frage der Nato-Raketenstationierung in Westeuropa durchzuführen. Bei der Konferenz der Friedensbewegung im Dezember 1982 in Linz wurde dann mit großer Mehrheit der „Linzer Appell“ beschlossen. Dieser lautete: „Ich appelliere an die österreichische Bundesregierung, sich gegen die Stationierung von Pershing-2 und Cruise Missiles in Europa auszusprechen und gemeinsam mit anderen Staaten konkrete und wirksame Maßnahmen zur Verhinderung der Stationierung als ersten Schritt für ein atomwaffenfreies Europa zu treffen“. Wenn es auch in der Friedensbewegung Stimmen gab, die eine stärkere Berücksichtigung sozialer und allgemein antimilitaristischer Forderungen im Rahmen der Aktivitäten der Bewegung wünschten, wurde der Appell als wichtige Aktionsform zur Thematisierung der dringendsten Frage der Friedenspolitik angenommen, und zugleich als eine Aktion im Sinn der Hauptforderung der Plattform des 15. Mai verstanden. Für den Linzer Appell wurden in etwa einem halben Jahr 140 000 Unterschriften gesammelt. In seiner Studie über die österreichische Friedensbewegung, in der er die Konzentrierung der Bewegung auf die Frage der Raketenstationierung auch kritisch betrachtet, charakterisierte Alfred Gusenbauer, der 1980 bis 1984 Verbandssekretär der Sozialistischen Jugend war, das Ergebnis des Linzer Appells als Erfolg. In seiner Studie heißt es: „Auch was die Qualität der Unterschriften betrifft, ist das Ergebnis des Linzer Appells durchaus herzeigbar: Mehrere SPÖ-Nationalratsabgeordnete, Landtagsabgeordnete, Mitglieder von Landesregierungen, Bürgermeister, Gemeinderäte, Vertreter der Gewerkschaften, Universitätsprofessoren, Kulturschaffende und Vertreter konfessioneller Organisationen stellten sich als Erstunterzeichner für den Linzer Appell zur Verfügung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass viele Mandatare und Funktionäre der Sozialistischen Partei erstmals mit ihrer Unterschrift ihr Bekenntnis zu den Aktivitäten der Österreichischen Friedensbewegung abgeben konnten, was als ein Erfolg und eine Folgeerscheinung der großen Demonstration vom 15. Mai 1982 zu werten ist. Auffällig vor allem ist auch der Widerhall, den der Appell bei diversen Betriebsratskörperschaften gefunden hatte, was auf eine Neudefinition des seit der Auseinandersetzung um die österreichischen Waffenexporte getrübten Verhältnisses Arbeiterbewegung und Friedensbewegung schließen läßt....“ /7/.
Mit der Entwicklung der Friedensbewegung beschäftige sich auch die katholische Hierarchie, insbesondere da katholische Jugendorganisationen in der Bewegung eine aktive Rolle spielten und viele Gläubige die Bewegung begrüßten oder in ihr tätig waren. Vor allem der damalige Jugendbischof Egon Kapellari kritisierte die Friedensbewegung wegen ihrer „Einseitigkeit“ und „Unausgewogenheit“, und wandte sich gegen die in der Friedensbewegung sich entwickelnde Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Kommunisten. Diese Haltung dürfte ein Beweggrund für die Entstehung des Friedensappells der österreichischen Bischöfe gewesen sein, der bei der Bischofskonferenz im März 1983 beschlossen wurde. Eine wichtige Rolle spielte sicherlich auch der Wunsch kirchlicher Kreise, die Kirche als Rahmen für Friedensaktivitäten zu profilieren, eine Mitwirkung von Gläubigen in der Friedensbewegung also als überflüssig erscheinen zu lassen. Schon auf Grund des Zeitpunktes der Herausgabe dieses Appells und der Aufforderung, ihn durch Unterschrift zu unterstützen, wurde der Bischofsappell vor allem von Aktivisten der Friedensbewegung als Konkurrenzprojekt zum Linzer Appell verstanden. Katholische Aktivisten der Bewegung haben das auch in sehr kritischen Schreiben an die Bischöfe ausgedrückt. Der Appell der Bischöfe wurde aber von den Teilnehmern der Friedensbewegung nicht grundsätzlich abgelehnt oder bekämpft. Auch im Appell der Bischöfe wird von den Gefahren gesprochen, die sich aus der Stationierung von Mittelstreckenraketen mit Atomwaffen in Europe ergeben, doch bemühte sich dieser Appell um ausgewogene Forderungen an Ost und West. Dadurch drückte der Appell der Bischöfe, wie Vertreter der Friedensbewegung feststellten, Unterstützung für die damalige Verhandlungsposition der Nato-Staaten aus, ein Befund, der allerdings von vielen Unterzeichnern des Appells, die die internationale Diskussion nicht eingehend verfolgten, nicht so wahrgenommen wurde. Für den Appell der Bischöfe wurde eine ähnliche Unterzeichnerzahl wie für den Linzer Appell gemeldet, wobei klar war, dass die Bischöfe alle Gliederungen der Kirche, wie die Verkündung des Appells von allen Kanzeln, einsetzen konnten.
Der 22. Oktober 1983
Anfang 1983 begannen die Friedensbewegungen in westeuropäischen Ländern mit der Vorbereitung großer Aktionen im Herbst gegen die nun heranrückende Raketenstationierung in Durchführung des Nato-Beschlusses. Das erwies sich umso mehr als dringlich, als die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten westlichen Länder im Mai erklärten, dass sie nur der Umfang, aber nicht die Tatsache der Raketenstationierung von einem etwaigen Verhandlungsergebnis über Mittelstreckenraketen abhängig machen würden. Im März kündigte Präsident Reagan auch das Raketenabwehrprojekt SDI an.
Bei einem Treffen der österreichischen Friedensbewegung in Graz am 23. März wurde eine große Demonstration am 22. Oktober in Wien beschlossen. (Für diesen Tag wurden auch in einigen anderen Länder Aktionen für den Frieden geplant.) Die Plattform für den 15. Mai 1982 und der Linzer Appell wurden als Grundlage festgelegt, und am 30. April wurde dann der neue Aufruf angenommen und veröffentlicht /8/. Auf dem später als Flugblatt verteilten Aufruf wurden mehr als 250 Organisationen und Initiativkreise als Unterstützer genannt. Die Junge ÖVP (JVP) versuchte, wie schon im Jahr davor, Einfluss auf die Aktion der Friedensbewegung zu gewinnen, wobei sie wieder die antikommunistische Keule einsetzte. Als im Vorschlag des Koordinationsausschusses der Friedensbewegung für die Liste der Rednerinnen und Redner bei der Abschlusskundgebung kein Vertreter für sie vorgesehen war, mit der Begründung, dass die JVP nicht aktiv in der Friedensbewegung mitwirke, jedoch ein kommunistischer Redner, entwickelten sich längere Auseinandersetzungen. Ein Vertreter der JVP stellte schließlich bei einem Plenum den Antrag, JVP-Obmann Othmar Karas sollte sprechen, anstelle von Walter Baier, der als Redner der kommunistischen Gruppen nominiert war. Die Abstimmung ergab eine klare Mehrheit für Baier, worauf sich die JVP von der Demonstration distanzierte. Die Frage der Redner war aber wohl nur ein Vorwand für diesen Schritt der JVP, denn sie trat, wie die ÖVP insgesamt, für die Stationierung der Nato-Raketen ein und stand damit in direktem Gegensatz zu Hauptforderungen der Friedensbewegung.
Nun setzten Versuche zur Organisierung einer Konkurrenzveranstaltung ein, die auch als Gegenveranstaltung zum Friedensmarsch verstanden wurde. Man lehnte eine Demonstration am 22. Oktober ab und wollte statt dessen eine Menschenkette zwischen den Wiener Botschaften der USA und der Sowjetunion durchführen. Das wurde von Versuchen begleitet, die Aktion der Friedensbewegung als „einseitig“, als „extrem links“, usw. zu diskreditieren. Das Projekt Menschenkette wurde von den meisten Medien unterstützt und auch einige Prominente konnten für eine Zusage gewonnen werden.
Die Auseinandersetzung um den Friedensmarsch fand auf vielen Ebenen statt. Die ganz rechts stehende Junge Europäische Studenteninitiative (JES) übernahm durch einen Trick die Leitung der Österreichischen Hochschülerschaft an der Universität Wien und organisierte mit deren Mitteln eine Gegenkundgebung zum Friedensmarsch am „Eisernen Vorhang“, zu der dann gerade 300 Teilnehmer kamen. Zur Unterstützung des Friedensmarsches erschien am 19. Oktober eine Erklärung österreichischer Wissenschaftler, Hochschullehrer und Ärzte als ganzseitige Anzeige im „Kurier“. Die von den 438 Unterzeichnern finanzierte Anzeige bezog sich auf eine Erklärung von 111 Nobelpreisträgern der Natur- und medizinischen Wissenschaften, die sich 1982 an die Weltöffentlichkeit mit dem Appell gewandt hatten „Tretet ein für Maßnahmen zur Beseitigung der atomaren Bedrohung, die das Überleben der Menschheit in Frage stellt“ und warnten „Noch ist es Zeit sich zu entscheiden, aber diese Zeit geht schnell zu Ende.“ Am Ende der Erklärung der österreichischen Wissenschaftler und Ärzte hieß es: „Am 22. Oktober (kann) die Öffentlichkeit unseres Landes ihre Unterstützung der Friedensbemühungen und der aktuellen Forderungen bekunden: Weltweites Einfrieren und Verminderung der atomaren Arsenale. Keine neuen Mittelstreckenraketen und Beseitigung der vorhandenen Atomraketen! Für ein atomwaffenfreies Europa! Für allgemeine Abrüstung!“
Der Verlauf des 22. Oktober zeigte aber die Kraft der Friedensbewegung: 100 000 Menschen nahmen am Friedensmarsch teil, an der Konkurrenzveranstaltung beteiligten sich 5000. Das kurz darauf durchgeführte Plenum der Friedensbewegung schätzte ein, „gegen alle Spaltungsversuche wurde der 22. Oktober zur größten Massendemonstration der Zweiten Republik“. Zu einigen Aspekten des Friedensmarsches am 22. Oktober sei auch aus den schon genannten Studien zitiert:
A. Gusenbauer: „Was unterscheidet die Menschenkette so wesentlich vom Friedensmarsch? ... Im Wesentlichen hatte sich die internationale Auseinandersetzung auf die Frage der Stationierung neuer Nato-Mittelstreckenraketen in Europa zugespitzt. Alle westeuropäischen Friedensbewegungen mobilisierten in erster Linie gegen diese neue Qualität des Wettrüstens, auch wenn sie darüber hinausgehende Friedens- und Abrüstungsvorschläge verbreiteten. Es stellte sich nun für eine österreichische Friedensbewegung die Frage, bezieht sie in dieser internationalen Auseinandersetzung Stellung oder nicht. Während also die Plattform der Großkundgebung für den 22. Oktober sehr genau darüber Auskunft gibt, was die Österreichische Friedensbewegung zu dieser Thematik denkt, verkneift sich der Menschenketten-Aufruf mögliche konkrete Aussagen in dieser Auseinandersetzung. ... Die politische Gesamtausrichtung der Rathausplatzkundgebung war zwar etwas deutlicher als die eineinhalb Jahre vorher, aber wer glaubte, dass vor allem der KPÖ-Redner die Möglichkeit zu prosowjetischer Agitation nützte, unterlag einem großen Irrtum. Alle Redner, die für die Friedensbewegung auftraten, hielten ihre Reden klar auf Basis der von der Friedensbewegung beschlossenen Plattform, versuchten von verschiedenen Zugängen her vor allem das gemeinsame Anliegen der Friedensbewegung zu dokumentieren. ...“ /9/
A. Löw: „Gerade weil die Friedensbewegung die Kriegstreiber beim Namen nannte und dementsprechend auch ihre Forderungen auf das Wichtigste konzentrierte, gerade weil sich die Friedensbewegung nicht mehr von den Institutionen und Parteien „hineinregieren“ ließ und ihre Entscheidungen autonom nach dem Prinzip der Gleichberechtigung aller in ihr wirkenden Kräfte vertrat, hat sie diese Stärke und Ausstrahlungskraft erringen können“./10/
Friedensbewegung und internationale Entwicklung
Die durch die Initiierung und erfolgreiche Durchführung der großen Demonstrationen des 15. Mai 1982 und 22. Oktober 1983 entstandene österreichische Friedensbewegung war auch in den folgenden Jahren aktiv, wenn auch mit Aktionen viel geringeren Umfangs. Dafür maßgebliche Faktoren können hier nur angedeutet werden: Mit dem Beginn der Stationierung der Nato-Raketen schien die Friedensbewegung eine Schlacht verloren zu haben, auch wenn die Friedensbewegung insbesondere in der BRD weiterkämpfte, nicht zuletzt durch Demonstrationen und Blockaden an den Stützpunkten für die Raketenaufstellung. Konnten da Großdemonstrationen in Österreich noch etwas leisten? Auch zeigten sich bei den Verhandlungen zwischen USA und Sowjetunion über Raketenbegrenzung und -abbau bestimmte Annäherungen. In Zusammenhang damit wurde es auch schwer, die Vorschläge und Gegenvorschläge, die oft in kurzem zeitlichen Abstand veröffentlicht wurden, zu bewerten und dazu von Seite der Friedensbewegung Stellung zu nehmen, waren ja die Strukturen der Friedensbewegung nicht für ein schnelles Reagieren in der Tagespolitik geeignet. Für viele Teilnehmer der Friedensbewegung gewannen auch andere Fragen, sei es der Innenpolitik, der Umweltprobleme oder der Dritten Welt, zunehmend vorrangige Bedeutung und sie wurden in den sich mit diesen Fragen befassenden Organisationen und Bewegungen aktiv.
Jedoch kann nicht bezweifelt werden, dass die Friedensbewegung mit den Höhepunkten 1982/1983 Wichtiges geleistet hat. Sie war ein Beitrag zur Formierung einer gesamteuropäischen, ja weltweiten Bewegung gegen die Hochrüstung mit Mittelstreckenraketen, die Druck auf Regierungen ausübte und ihre Stellungnahmen beeinflusste. Diese Bewegung war ein gewiss nicht unwichtiger Faktor für das Zustandekommen des Vertrags über die Liquidierung der Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite (Vertrag zwischen USA und Sowjetunion, am 8. Dezember 1987 in Washington von R. Reagan und M. Gorbatschow unterzeichnet). Mit diesem Vertrag wurde die sich aus der Stationierung von Mittelstreckenraketen ergebende Gefahr gebannt. Es wurde eine ganze Kategorie besonders gefährlicher Waffen abgebaut und mit der Vereinbarung strikter Überprüfungsmaßnahmen wurden Perspektiven für weitere Abrüstungsvereinbarungen eröffnet. Mit dem Vertrag erfolgte auch eine bestimmte Umorientierung der Politik der amerikanischen Administration. Das Streben nach militärischer Überlegenheit, das den Kern des außenpolitischen Programms Reagans bildete, wurde jedenfalls in einer wesentlichen Frage zurückgenommen und durch einen auf gleichen Verpflichtungen beruhenden Vertrag mit der Sowjetunion ersetzt.
Die Friedensaktionen 1982/1983 zeigten auch neue Entwicklungsmöglichkeiten der Innenpolitik. Nicht nur hat die überparteiliche Friedensbewegung alle Parteien und gesellschaftlichen Organisationen veranlasst, zu ihren Forderungen Stellung zu nehmen. Sie hat auch zu einem Wandel der Positionen politischer Kräfte beigetragen. Das traf insbesondere auf den sozialdemokratischen Bereich zu. Während die Führung der SPÖ zunächst auf die Friedensbewegung mit Ablehnung und mit Berufung auf die Eisenstädter Erklärung reagierte, näherte sie sich dann in ihren eigenen Stellungnahmen denen der Friedensbewegung und blockierte nicht mehr die Mitarbeit von Sozialdemokraten in der Friedensbewegung (siehe /4, 5/).
Neue Gefahren
Ein wesentliches Element der derzeitigen internationalen Lage sind die Aktionen des Präsidenten Bush und seiner Regierung, militärische Überlegenheit der USA auf allen Ebenen zu erreichen und dabei auch Beschränkungen durch internationale Vereinbarungen aufzuheben: Der Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) wurde aufgekündigt und für Versuche zur Entwicklung eines neuen Raketenabwehrsystems werden riesige Mittel zur Verfügung gestellt. Die Verhandlungen über eine Verschärfung des Vertrags über das Verbot biologischer Waffen durch Festlegung von Kontrollmaßnahmen wurden abgebrochen. Die US-Regierung hat erklärt, dass sie den Senat nicht auffordern wird, den Vertrag über das umfassende Verbot von Kernwaffenversuchen zu ratifizieren, den die USA unter der Präsidentschaft Clintons unterzeichnet hatten. In dem im März bekannt gewordenen Dokument der US-Regierung „Nuclear Posture Review“ werden Aufträge zur Entwicklung neuer Typen von Kernwaffen, zur Adaptierung von Waffensystemen für den Einsatz von Kernwaffen und zur Festlegung von Zielen für einen Kernwaffeneinsatz auf dem Gebiet von sieben Staaten (Irak, Iran, Nordkorea, Syrien, Libyen, Russland und China) erteilt. Die Berufung auf eine Gefährdung der USA durch Terroraktionen erweist sich immer deutlicher als Vorwand für die vielfältigen Maßnahmen der Hochrüstung und zum Aufbau von Kapazitäten für Interventionen irgendwo auf der Welt.
Solche Schritte zur Festigung und Verstärkung militärischer Überlegenheit sind eine Gefahr, denn sie sind Grundlage für die Bereitschaft, irgendwelche Konfliktsituationen mit militärischen Mitteln, also durch Kriegführen zu lösen. Die Parallelität dieser Entwicklung zur Situation Anfang der Achtzigerjahre, auf die die Friedensbewegung in vielen Ländern mit großen Aktionen reagiert hat, ist unverkennbar. Die Erfahrungen der Friedensbewegung vor zwanzig Jahren sollen daher herangezogen werden, wenn über diese Formen des Kampfes gegen die heutigen Gefahren beraten wird.
Anmerkungen:
/1/ Große Demonstrationen gegen die Raketenstationierung im Herbst 1981 waren u.a.: Bonn (10. Oktober, 300 000 Teilnehmer), London (24. Oktober, 250 000 Teilnehmer), Rom (25. Oktober, 300 000 Teilnehmer), Amsterdam (21. November, 500 000 Teilnehmer). Eine wichtige Aktion der Friedensbewegung in der BRD war der Krefelder Appell, der Mitte November 1980 beschlossen wurde. Dieser Appell, für den innerhalb einiger Monate vier Millionen Unterschriften gesammelt wurden, richtete an die BRD-Bundesregierung die Aufforderung, „die Zustimmung zur Stationierung von Pershing II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen.“
/2/ Die Initiative österreichischer Persönlichkeiten: Den Atomkrieg verhindern! Abrüsten! Eine Dokumentation über diesen Aufruf ist von der Österreichischen Hochschülerschaft im Herbst 1982 herausgegeben worden: ÖH Express, Sondernummer 57a. Die Initiatoren waren: Marie Therese Kerschbaumer, die die Aktion koordinierte, Univ.Prof. Leonhardt Bauer, Univ. Prof. Engelbert Broda, Herbert Buchinger (1. Bundessprecher des Verbandes Sozialistischer Studenten), Univ.Prof. Fritz Fellner, Univ.Prof. Friedrich Heer, Univ.Prof. Thomas Schönfeld, Herwig Seeböck, Josef Stockinger (Vorsitzender der Österreichischen Hochschülerschaft), Gernot Wolfgruber. Im Schlussteil des Aufrufes hieß es u.a.: ... Wir fordern * Keine weiteren Schritte der Aufrüstung. für einen internationalen Dialog über die Sicherung des Friedens, statt „Politik der Stärke“. Für Verhandlungen und Abbau der gefährlichsten Waffen in der Welt. * Die atomare Aufrüstung in Europa muss gestoppt werden. Für rasche und effektive Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und den USA mit dem Ziel eines beiderseitigen Verzichts auf Stationierung neuer nuklearer Waffen und des Abbaus der bestehenden Waffensysteme. Für eine kernwaffenfreie Zone in Europa! Alle Regierungen müssen der Entspannung neue Impulse geben. * Für eine österreichische Initiative, mit der die internationalen Bemühungen gegen Atomkriegsgefahr gefördert werden und unsere Ablehnung der gefährlichen Aufrüstung manifestiert wird. * Gegen jedes Hineinziehen Österreichs in die Rüstungswelle und das internationale Rüstungsgeschäft. Nicht kurzsichtiges Gewinnstreben darf für Österreich bestimmend sein, sondern die Entschlossenheit, dem Wahnsinn des Rüstungswettlaufes mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzuwirken. * Deshalb: Keine Waffenexporte an faschistische und autoritäre Regime. Schrittweise Umstellung der Waffenproduktion auf zivile Produktion.
/3/ Aus dem Aufruf zum Friedensmarsch am 15.Mai 1982:
Den Atomkrieg verhindern - Abrüsten!
Noch nie in der Geschichte war die gesamte Menschheit so bedroht wie heute. Durch die Entwicklung neuer Massenvernichtungswaffen, durch die Idee des begrenzten Atomkrieges, durch eine Verschlechterung der internationalen Beziehungen und zahlreiche militärische Konflikte in der dritten Welt scheint ein Atomkrieg wahrscheinlicher denn je. ... Eine europäische oder weltweite atomare Katastrophe würde auch uns im neutralen Österreich nicht verschonen. ... Staatsvertrag und Neutralität bilden eine günstige Grundlage für eine Initiative Österreichs für Frieden und Abrüstung.
Wir fordern: * Umrüstung der Rüstungsproduktion auf zivile Produktion, * Keine Aufrüstung des österreichischen Bundesheeres, * Einen stärkeren Beitrag der österreichischen Bundesregierung in den internationalen Bemühungen für Frieden und Abrüstung, * Keine österreichischen Waffenexporte an Staaten, welche die Menschenrechte verletzen ... Als Bürger des neutralen Österreich sind wir von der internationalen Entwicklung betroffen und fordern deshalb: * Keine weitere Stationierung neuer nuklearer Mittelstreckenraketen als erster Schritt zur Errichtung eines atomwaffenfreien Europas. * Eine weltweite Reduzierung und schließliche Beseitigung aller atomaren, biologischen, chemischen und konventionellen Waffen. * Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und wenden uns gegen jede ... Interventionspolitik. ... * Eine demokratische Lösung der gesellschaftlichen Konflikte in Polen unter Einschluss einer freien und unabhängigen Gewerkschaftsbewegung. * Eine umfassende Friedenserziehung in allen gesellschaftlichen Bereichen.
/4/ A. Gusenbauer, Die österreichische Friedensbewegung. Träger, Strukturen und Aktivitäten zwischen 1980 und 1986. Dissertation, Grund- und Integrativwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien 1987, 281 Seiten, mit Anhang ca. 50 Seiten.
/5/ A. Löw, Die Sozialdemokratie und die Friedensbewegung in Österreich zu Beginn der 80er Jahre. Hausarbeit, Institut für Geschichte an der Universität Salzburg 1987, 136 Seiten, mit Anhang 28 Seiten. (Eine Kopie dieser Arbeit befindet sich im Archiv der Alfred Klahr Gesellschaft).
/6/ Friedensmarsch der 70 000. 15. Mai 1982. Wien. Herausgeber: Künstler für den Frieden. Löcker Verlag. Wien 1982, 167 Seiten.
/7/ A. Gusenbauer, in /4/, S. 115.
/8/ Aus dem Aufruf zum Friedensmarsch am 22. Oktober 1983:
Entrüstet euch! Keine neuen Atomraketen! Für ein atomwaffenfreies Europa!
Am 15. Mai vergangenen Jahres demonstrierten 70.000 Menschen in Wien unter dem Motto „Den Atomkrieg verhindern - abrüsten! Seither wurde die Rüstungssituation nicht besser, sondern eher schlechter. Daher sind die Forderungen der Plattform vom 15. Mai nach wie vor aktuell....* Wir fordern ein sofortiges, weltweites Einfrieren und eine Verminderung der atomaren Arsenale... In Hinblick auf die Dringlichkeit der Situation und parallel zum „Linzer Appell“ fordern wir auf: * Nein zur Stationierung von Pershing 2 und Cruise Missiles. * Abbau aller bereits bestehenden atomaren Mittelstreckenwaffen in Europa (SS 4, SS 5, SS 20, Polaris, Poseidon, der französischen und britischen Systeme und der atomwaffentragenden Luftflotten). * Verzicht aller Nuklearmächte auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen. * Vernichtung alle atomaren, chemischen, bakteriologischen und konventionellen Massenvernichtungswaffen in der Welt. * Klare Stellungnahme der österreichischen Bundesregierung zur Unterstützung dieser Forderungen. * Umstellung der Rüstungsproduktion auf Produktion ziviler Güter, ... Verbot österreichischer Rüstungsexporte an Staaten, die die Menschenrechte verletzen, gegen jede Aufrüstung des österreichischen Bundesheeres, ... für den Aus- und Aufbau sozialer Verteidigungsformen. /9/ A. Gusenbauer, in /4/, S. 186, 192.
/10/ A. Löw, in /5/, S. 66.
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 2/2002
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