Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Jakob Zanger: 70 Jahre Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1929

Am 7. Dezember 1929 wurde vom Nationalrat die Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1929 verabschiedet und am 10. Dezember 1929 in der Wiener Zeitung kundgemacht. Zum Verständnis der Tragweite dieser Novelle ist ein Mindestmaß an Kenntnis der Hintergründe, die zu ihrer Verabschiedung führten, erforderlich. Aus diesem Grund erfolgt zunächst eine kurze theoretische Analyse des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 und ein geraffter geschichtlicher Überblick über die wirtschaftliche und politische Entwicklung, die zur Verfassungsreform führte.

Das Wesen des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920

Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volke aus./1/
Art.1 B-VG hat zunächst programmatische Bedeutung. Er bestimmt als Staatsform die Demokratie und als Regierungsform die Republik, verneint also die Staatsform der Monarchie.
Die Feststellung, daß das Recht vom Volke ausgeht, bedeutet die theoretische Verankerung der „Volkssouveränität“ des Gedankens, daß von Mensch zu Mensch das Volk der ursprüngliche Träger der Staatsgewalt sei. Also die Festlegung der Identität von Herrschenden und Beherrschten, wobei die Mitwirkung des Volkes an der staatlichen Willensbildung sich im überwiegenden Maß durch das Mittel der Wahl von Repräsentanten, die an der Gesetzgebung und an der Vollziehung mitzuwirken haben, vollzieht.
Das B-VG hat daher nicht die Staatsform der unmittelbaren, sondern jene der mittelbaren, repräsentativen Demokratie verwirklicht /2/, in dem es der sogenannten „Repräsentationstheorie“, also der Behauptung folgte, daß es das Volk sei, das vermittels seines Parlamentes oder vermittels seiner Regierung den staatlichen Willen bilde, weil es im Akte der Wahl seinen Willen auf das Parlament oder auf seine Regierung übertragen habe.
Parlamentarismus bedeutet also: Bildung des staatlichen Willens durch ein vom Volk gewähltes Kollegialorgan. Charakteristisch ist die Mittelbarkeit der Willensbildung, daß also der staatliche Wille nicht unmittelbar durch das Volk selbst, sondern durch das Parlament erzeugt wird./3/
Im B-VG 1920 hatten die Instrumente der unmittelbaren Demokratie - Volksbegehren und Volksabstimmung - keine überragende Bedeutung, außer für den Fall der Gesamtänderung des B-VG (also bei Änderung des demokratischen, republikanischen, bundesstaatlichen oder rechtsstaatlichen Prinzips), weil diesfalls eine obligatorische Volksabstimmung normiert worden war.
Die Frage behandelnd, weshalb im B-VG 1920 dem Gedanken der Volksabstimmung nicht im weiteren Ausmaß Rechnung getragen wurde, beantworteten die sozialdemokratischen Abgeordneten in der konstituierenden Nationalversammlung am 29. September 1920 damit, daß der SDAP die Volksabstimmung keineswegs als etwas absolut Demokratisches und Zweckmäßiges erscheine, deshalb, weil es bei der Kompliziertheit der heutigen Gesetzgebung sehr schwer ist, einfach mit JA oder NEIN zu entscheiden, und weil komplizierte Gesetze, wie man sie heute zu machen hat, eben nur in einer beratende Körperschaft wirklich gemacht und entschieden werden können.
Auch Kelsen wies darauf hin, daß, obwohl durch die Institution des Referendums dem Volke ein stärkerer Anteil an der Gemeinschaftsbildung eingeräumt wird, der Durchführung dieser Institution in modernen Großstaaten nicht geringe Hemmungen entgegen stehen und man leicht die Bedeutung überschätzt, die dem Referendum vom Standpunkt der realen Selbstbestimmung des Volkes zukommt. Die Wirkung ist mehr eine subjektive als eine objektive./4/ Die moderne Demokratie ist eine parlamentarische und der Parlamentarismus ist offenbar, jedenfalls nach den bisherigen Erfahrungen, die einzige mögliche Form, die in der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute realisierbar ist.
Das B-VG 1920 hat daher nicht die Staatsform der unmittelbaren, sondern jene der mittelbaren, repräsentativen Demokratie verwirklicht./5/ Es hatte darüber hinaus, offenbar in Anlehnung an die von Karl Marx im „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ aus der Pariser Komune gezogenen Lehren (die mit Dekret vom 29. März 1871 die Gewaltentrennung beseitigte und die Verwaltungsangelegenheiten in die eigenen Hände nahm) und in bewußter Ablehnung des Postulates der „Gewaltenteilung“, die Republik bis in die letzten Konsequenzen als rein parlamentariche Demokratie eingerichtet./6 u. 7/
Bei den parlamentarischen Körperschaften im Bund und in den Ländere, Nationalrat und Landtagen, lag in allen wichtigen Fragen des politischen Lebens die Entscheidung. Ihrem Einfluß waren alle übrigen Organe, schon durch die Art ihrer Bestellung, untergeordnet./8/ Die unmittelbare Wahl der Regierung durch das Parlament, also die Aufhebung der Gewaltentrennung, ist allerdings eine in den geltenden Verfassungen nur ausnahmsweise zu verzeichnende Berufungsform der obersten Exekutivorgane. Der politische Gedanke der Volkssouveränität, sofern er in der repräsentativen Demokratie verwirklicht ist, bezweckt die Verhinderung der Loslösung der vollziehenden Gewalt von dem Gesetzgebungsorgan.
Das politische Axiom der Trennung der Gewalten ist seinerzeit nicht zuletzt zu dem Zweck geschaffen worden, um den aus dem Absolutismus in die Beschränkung des Konstitutionalismus verdrängten Monarchen ein letztes Übergewicht über die im Parlament konzentrierte Gewalt zu geben./9/ Übrigens ist die politische Absicht, mit der das Dogma von der Gewaltentrennung seit Montesquieu vorgetragen wurde, durchaus nicht gewesen, der Demokratie den Weg zu bereiten, sondern eher umgekehrt, dem durch die demokratische Bewegung von der Gesetzgebung halb und halb verdrängten Monarchen auf dem Gebiet der Vollziehung noch eine Möglichkeit der Machtentfaltung zu geben.
Das Gewaltentrennungsdogma ist der Kernpunkt in der Ideologie der konstitutionellen Monarchie./10/ Im B-VG 1920 hatte die Ablehnung des Postulats der Gewaltentrennung seinen Niederschlag:
– im Legalitätsprinzip, wonach die gesamte staatliche Verwaltung ohne jede Einschränkung (ohne jedes Notverordnungsrecht), nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden darf (Art.18);
– in der Wahl des Bundespräsidenten, der von der Bundesversammlung gewählt wurde (Art.60 ff) und von ihr für die Verfassungsmäßigkeit seiner Amtsführung zur Verantwortung gezogen werden konnte;
– dem Bundespräsidenten stand auf die Berufung und auf die Geschäftsführung der Mitglieder der Regierung kein Einfluß zu;
– darin, daß die Mitglieder der Bundesregierung vom Nationalrat gewählt wurden und auch nur vom Nationalrat abberufen werden konnten (Art.70 ff);
– in der Verfügung über das Bundesheer (Art.80), den Rechnungshof (Art.122 f), den Verfassungsgerichtshof (Art.147) und den Verwaltungsgerichtshof (Art.135).
Der Nationalrat war in seiner Machtstellung vollkommen unbeschränkt. Er hatte (teilweise gemeinsam mit dem Bundesrat) das ausschließliche Gesetzgebungsmopol. Notverordnungen waren verfassungsmäßig ausgeschlossen.
Der Nationalrat wurde zwar nach erfolgter Nationalratswahl vom Bundespräsidenten zu seiner ersten Sitzung einberufen; ihm allein oblag jedoch die Vertagung und Wiedereinberufung und nur der Nationalrat konnte seine Auflösung beschließen (Art.24 ff).

Die politische Entwicklung der Republik

Die ersten Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung vom 16. Feber 1919 hatten der Sozialdemokratie einen großen Erfolg gebracht. Sie zog mit 70 Mandaten in das neue Haus ein. Sie erhielt 1.311.870 Stimmen und erreichte 40, 47%. Die Christlichsozialen 1.068.382 Stimmen und 30, 5% und die Deutschnationalen 547.626 Stimmen, was 18, 42% entsprach. Erster Präsident des Nationalrates wurde der Sozialdemokrat Karl Seitz. Sie war im neuen Parlament die stärkste Fraktion, verfügte aber nicht über die absolute Mehrheit, waren daher zur Koalition gezwungen.
Unter ihrer Führung wurden - zunächst in den Großbetrieben - der Achtstundentag und die Sonn- und Feiertagsruhe eingeführt; die Arbeitslosenunterstützung beschlossen; der im Krieg eingeführte Mieterschutz verlängert (der Kündigungsschutz blieb im Prinzip Teil der Österreichischen Rechtsordnung), das Bäckereigesetz und Entschädigungsbestimmungen für Invalide; das Arbeiterurlaubsgesetz; das Verbot der Nachtarbeit für Frauen und die Einführung von Betriebsräten beschlossen./12/
An Stelle der kaiserlichen Armee trat - bereits unter der provisorischen Koalitionsregierung Karl Renner - eine Volkswehr, die - im Gegensatz zur deutschen Reichswehr - nicht als Instrument der Konterrevolution benutzt werden konnte.
Es entstanden Arbeiter- und Soldatenräte, die von den Staatsorganen respektiert werden mußten./13/
Mit der Ratifizierung des Friedensvertrages von Saint Germain durch die konstituierende Nationalversammlung am 17. Oktober 1919 begann die Periode der langsamen, aber stetigen Festigung der bürgerlichen Ordnung./14/

Bruch der Koalition

Es kam jedoch zum Bruch der Koalition im Zusammenhang mit der Umwandlung der aus Soldatenräten bestandenen Volkswehr in ein auf 30.000 Mann von den Alliierten beschränktes Heer. Die großdeutsche Opposition hatte - wohl im stillen Einverständnis mit den Christlichsozialen - scharf gegen einen Erlaß des sozialdemokratischen Staatssekretär für Heereswesen, Julius Deutsch, Stellung bezogen, indem die Kommandogewalt der Offiziere durch die Befugnisse der Soldatenräte beschränkt wurde. Schon in den Monaten zuvor hatte Deutsch den Unwillen der Bürgerlichen erregt, weil er das neue Bundesheer nicht den alten monarchistischen Offizieren überlassen wollte.
Bei der Diskussion um die Vorwürfe der Großdeutschen in der Nationalratssitzung vom 10. Juni 1920 nahmen die Christlichsozialen gegen den eigenen sozialdemokratischen Koalitionspartner Stellung. Es kam zu Tumulten.
Die Sozialdemokraten, die ihre Position in der Regierung dadurch geschwächt sahen, daß in ihnen von der Bevölkerung zunehmend die Hauptverantwortlichen für die nach wie vor anhaltenden schweren Belastungen gesehen wurde, legten noch am gleichen Tag alle Regierungsämter nieder /15/.
Man einigte sich auf die Bildung einer Proporz- und Übergangsregierung, bestehend aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Großdeutschen, und auf die Ausschreibung von Nationalratswahlen für den 17. Oktober 1920, 12 Tage nach Verlautbarung des Bundesverfassungsgesetzes 1920./16/
Die Wahlen zum Nationalrat am 17. Oktober 1920 brachten den bürgerlichen Parteien zwar nicht den erwartetengroßen Sieg, die Sozialdemokraten gingen jedoch geschwächt aus den Wahlen hervor. Sie verloren ca. 140.000 Stimmen und fielen auf 35, 99% zurück, und sie erhielten (obwohl die Zahl der zu vergehenden Mandate gegenüber 1919 ton 170 auf 183 erhöht worden war) statt 72 nur noch 69 Mandate. Die Christlichsozialen gewannen ca. 180.000 Stimmen und erhielten mit 41, 79% statt 65 nun 85 Mandate. Die Großdeutschen verloren zwar geringfügig an Stimmen, erzielten aber 17, 25% gemeinsam mit der Bauernpartei, erreichten aber (gemeinsam mit der Bauernpartei und der Bürgerlichen Arbeitspartei) 28 statt bisher 27 Mandate.
Im Hinblick auf dieses Ergebnis lehnten es die Sozialdemokraten ab, die Koalition mit den Christlichsozialen zu erneuern.
Dr. Otto Bauer begründete diese Haltung auf dem 1920 abgehaltenen Parteitag in seinem Referat „Die politische Lage und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ wie folgt: „Die Regierung des bürgerlichen Staates, solange er bürgerlicher Staat bleibt, fällt naturgemäß den bürgerlichen Klassen zu. Und die natürliche Stellung des Proletariats gegenüber dem bürgerlichen Staat, auch in seiner republikanischen Form, ist die Stellung der Opposition.
Niemand von uns wird Lust haben, zurückzufallen in jene Irrtümer und Illusionen des revisionistischen Ministerialismus. Wir haben zu sehr erfahren, wie furchtbar gefährlich die Teilnahme der Arbeiterklasse an der Regierung ist, als daß wir den Wunsch hätten, anders als in Stunden unvermeidlicher Notwendigkeit ein solches Experiment zu wagen.
Es gibt in revolutionären Zeiten Stunden, in denen dem Proletariat kein anderer Weg bleibt als der der Koalition. Das ist dann der Fall, wenn das Proletariat nicht stark genug ist, die Herrschaft allein zu übernehmen, aber auf der anderen Seite die Bourgeoisie einfach nicht mehr imstande ist, den Staat zu regieren.
In solchen Stunden ist die Koalition etwas Unvermeidliches ... und für das Proletariat auch fruchtbar, weil die Bourgeoisie zu schwach ist, um allein zu regieren. In jeder anderen Zeitepoche aber, wo die Bourgeoise imstande ist, den Staat zu regieren, ist jene Teilnahme von Sozialdemokraten an der Regierung notwendig unfruchtbar...
Deswegen glaube ich, wenn wir nicht soweit gehen können, zu sagen, daß die Koalition nie und unter keinen Umständen sozialistische Politik sein könnte .... so müssen wir ebenso entschieden feststellen, daß wir uns der vollen Gefährlichkeit eines solchen Experimentes bewußt sind ... (und) wir deswegen in einer solchen Koalitionspolitik nicht ein normales, nicht ein natürliches, nicht ein jeden Tag brauchbares Mittel der sozialistischen Politik sehen, sondern sie nur in ganz besonderen revolutionären Situationen als überhaupt möglich und diskutierbar ansehen können.“/17/
Die österreichischen Sozialdemokraten hatten mit ihrem Ausscheiden aus der Koalition sich der Möglichkeit beraubt, ihr wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Programm auf staatlicher Ebene zu realisieren.
Die Politik der Christlichsozialen unter ihrem Führer Ignaz Seipel war zudem darauf ausgerichtet, die SDAP von staatlicher Macht fernzuhalten. Die Fronten zwischen bürgerlichem und sozialistischem Lager verstanden sich als Klassenfronten, in denen die ideologischen Positionen politische Kompromisse auszuschließen schienen./18/

Die wirtschaftliche Entwicklung

Das heimische Kapital verlor durch die Auflösung der österreichische ungarischen Monarchie die Geltung, die es bisher in Zentral- und Osteuropa besessen hatte. Rohstoffmangel auf der einen und der Verlust der Absatzmärkte auf der anderen Seite bewirkten eine Schrumpfung der österreichischen Industrie. Zugleich büßten die Wiener Banken ihre beherrschende Stellung im Donauraum ein.
Die rasch steigende Zahl der Arbeitslosen, die durch die Verelendung der Massen erzwungene. Einschränkung des Konsums und die in katastrophaler Weise anwachsenden Lasten des Staatshaushaltes, waren Anzeichen einer Krise, die selbst die Not der Kriegszeit übertraf. Eine übergroße Menge von Banknoten überschwemmte das Land. Die Inflation riß die letzten Dämme hinweg; Österreich schien im Chaos zu versinken./21/
Zunächst gelang es der Regierung Schober von der Tschechoslowakei ein Darlehen zu erlangen, die Inflation war für kurze Zeit gestoppt. Die Großdeutschen bezeichneten den Vertrag mit den Tschechen als Verrat an den Sudetendeutschen, die Sozialdemokraten stellten Bedingungen für die Unterstützung der Regierung; die diese ablehnte. Die Notenpresse begann wieder zu laufen. Österreich schlitterte in eine Hyperinflation. Im Mai stürzte die Opposition die Regierung mit einem Mißtrauensantrag gegen den Finanzminister./22/ Die Nachfolge des parteilosen Johannes Schober trat der Prälat Ignaz Seipel an, der mit einer Unterbrechung 1924/25 bis 1929 österreichischer Bundeskanzler blieb. Er wandte sich an das äusländische Kapital. Es gelang ihm, eine Völkerbundanleihe zu erhalten, deren Bedingungen so konstruiert waren, daß sie eine Kontrolle des auswärtigen Kapitals über Österreich darstellten.
„Die Genfer Sanierung“ hatte zwar den Staatshaushalt von seinem Defizit befreit und die Währung stabilisiert, aber dieser Erfolg wurde teuer erkauft, denn er war begleitet von einer weitgehenden Drosselung der Volkswirtschaft. Der Konsum der Massen sank, die Arbeitslosigkeit stieg von 1921 bis 1926 von 12.000 auf 178.000 und erreichte 1926 zeitweilig 18 % der Arbeitnehmer. Österreich erlebte aber bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 eine Hochkonjunktur. Die Industrieproduktion konnte jedoch bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise den Stand von 1913 nicht erreichen. Im Jahre 1928, dem besten Wirtschaftsjahr der Zwischenkriegszeit, erreichte die Ausnutzung der Anlagen der Schwerindustrie oft nicht einmal 50%./23/ Am 6. Oktober 1929 krachte in Wien die Boden-Creditanstalt; am 24. Oktober kam es an der New-Yorker Börse zu so großen Kurseinbrüchen, daß sie am 25. Oktober, dem „schwarzen Freitag“, zusperren mußte. Der endgültige Zusammenbruch der Boden-Creditanstalt, der die ganze österreichische Wirtschaft ruiniert hätte, konnte nur durch riesige staatliche Zuschüße verhindert werden./24/ So mündete die Genfer Sanierung schließlich in eine neue und schwere Krise./25/

Faschistische Gefahren

In Österreich hatten sich bald nach dem Umsturz des Jahres 1918 unter dem Namen Heimatschutz und Heimwehren bewaffnete Kampfverbände gebildet. Sie setzen sich aus ehemaligen k.u.k.Offizieren, beschäftigungslosen Aristokraten, abenteuerlichen Söhnen der Bourgeoisie, aber auch aus Arbeitslosen - die in dieser Zeit der Not einen Taglohn von fünf Schilling erhielten - zusammen. Sie waren zum Schutz des kapitalistischen Eigentums, insbesondere aber als Gegengewicht gegen die unter dem Einfluß der Arbeiterklasse stehende Armee gegründet worden.
Ihre Führer waren „Fürst“ Ernst Rüdiger Starhemberg und der Innsbrucker Rechtsanwalt und Landeshauptmannstellvertreter Richard Steidle. Sie erhielten die massive Unterstützung Mussolinis und wurden von Bundeskanzler Seipel planmäßig gefördert, insbesondere im Zusammenhang mit der Genfer Sanierung, die von Otto Bauer zwar als „Knechtschafts-Vertrag“ bezeichnet wurde; aber es war schließlich die SDAP, die es Seipel ermöglichte, eine parlamentarische Mehrheit zu erhalten. Um die Jahreswende 1922/23 kam es unter dem Kommando des Rechtsanwaltes Walter Pfrimer zu bewaffneten Provokationen in Judenburg, in deren Verlauf der christlichsoziale Landeshauptmann der Steiermark, Anton Rintelen, Judenburger SDAP-Führer verhaften ließ, während Walter Pfrimer, mit Hilfe von 6.000 Bewaffneten, den Abbruch eines Proteststreiks im Judenburger Gußstahlwerk erzwang.
1924 trat Bundeskanzler Ignaz Seipel, infolge des im November durchgeführten Eisenbahnerstreiks zurück und machte Rudolf Ramek Platz, dessen Regierung von Förderern der Heimwehren durchsetzt war. Die Regierung Ramek mußte jedoch im Herbst, infolge von Korruptionsskandalen, zurücktreten und Prälat Ignaz Seipel bildete am 20.10.26 eine Regierung aus Christlichsozialen und Großdeutschen. In der Folge schaltete sich die Christlichsoziale-Partei in die Bemühungen ein, die bisher zersplitterten Heimwehrverbände zu einigen. Im November 1926 gelang es, den Verband der „Alpenländischen Heimwehren“, unter Führung Richard Steidles, zu bilden./26/
Bundeskanzler Seipel förderte die Heimwehrbewegung planmäßig. Sie konnte es nun wagen, eine Provokation nach der anderen zu setzen, wohl wissend, daß die Regierung ihre schätzende Hand über sie hielt. Es kam wiederholt zur Ermordung von Vertrauensmännern der Arbeiterschaft, zu Überfällen auf Versammlungen und zu anderen terroristischen Anschlägen. Am Beginn des Jahres 1927 wurde bei einem Aufmarsch der Heimwehren in dem burgenländischen Grenzort Schattendorf ein Arbeiter und ein Kind getötet. Die Schuldtragenden wurden von den Geschworenen freigesprochen. Dieses Fehlurteil führte zu Straßendemonstrationen der Arbeiter in Wien, in deren Verlauf es zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei kam. Neunzig Tote und hunderte Verwundete waren Opfer dieses Tages. Zum Protest fand ein Generalstreik der Eisenbahner statt, dem ein Streik der Arbeiter folgte.
Die Heimwehren setzten in Tirol und Steiermark die streikenden Eisenbahner unter schweren Druck. Der Verkehrstreik mußte abgebrochen werden.
Nun wurde das Auftreten der Heimwehren immer herausfordender. Sie trafen ziemlich unverhüllte Vorbereitungen, um die Herrschaft im Staat an sich zu reißen - offensichtlich spielte ein Teil des Staatsapparates mit den Heimwehren zusammen./27/ Im Herbst 1928 verhärteten sich die politischen Gegensätze zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie zusehens. Die nach der Wahl vom 24. April 1927 - bei der die bürgerliche Einheitsliste aus Großdeutschen und Christlichsozialen rund 160.000 Stimmen verloren, die SDAP aber 230.000 Stimmen und insgesamt 43 % gewonnen hatte /28/ - gebildete „Bürgerblockregierung“ fühlte sich auf parlamentarischen Boden durch die „Obstruktionspolitik“ der Sozialdemokraten immer mehr eingeengt.

Das Ringen um eine Verfassungsreform

Ab Ende 1925 reifte der Gedanke einer Verfassungsreform, trat jedoch bis zum Sommer 1928 in den Hintergrund, um sodann neuerlich von Seipel und der Heimwehr in den Mittelpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzungen gestellt zu werden.
Der Heimwehrführer Steidle äußerte sich im April 1928: „Weil wir uns nicht als Selbstzweck betrachten, sondern weil wir den Bürgerfriede und einen Ordnungsstaat wollen, der nur durch eine Verstärkung der Staatsautorität gesichert werden kann, rufen wir nach einer Verfassungsreform, welche eine ruhige Staatsleitung auch in dem Falle gewährleistet, wenn eine verantwortungs- und hemmungslose Opposition die parlamentarische Einrichtungen mißbraucht.“/29/
Auf Grund der Aktivitäten Seipels wurde die Frage der Verfassungsreform generell zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen. In einer Rede vom 16. Juli 1928 legte er seine Überzeugung dar, daß „wahre Demokratie“ nur durch Überwindung der Parteienherrschaft erreicht werden könne. Er bezeichnete die Heimwehr als eine starke Volksbewegung, welche die Demokratie von der Parteienherrschaft befreien will.
Anläßlich eines Heimwehraufmarsches auf dem Wiener Heldenplatz am 8. August 1928 forderte Steidle eine Reform der Verfassung, die darin bestehen muß, daß wirklich das Volk regiert und eine Regierung vorhanden ist, die über genügend Autorität verfügt. Er drohte: “Wenn die Herren es nicht anders wollen, so werden wir die Änderung durch den Druck erzwingen, der sich täglich noch verschärfen wird.“ Einige Tage später erklärte er: „Unser Ziel ist die Reinigung der politischen Luft von den Giftgasen, welche marxistische und Parteiendiktatur erzeugt haben, die Errichtung einer Verfassung, welche Volksrechte und Volksfreiheit verbürgt. Dazu braucht es keine neue Partei; dazu braucht es Kämpfer, fanatische und entschlossene Kämpfer und das sind die Heimwehren“./30/
Im November 1928 wurde der Landbund mit Anträgen im Nationalrat aktiv, gerichtet auf die Stärkung der Stellung des Bundespräsidenten und Umbau des Bundesrates in eine ständische Vertretung. In einer von Seipel veranlaßten Obmännerkonferenz am 13. November 1928 schlug er vor, die Verfassung in der Form zu ändern, daß der Bundespräsident vom Volk gewählt werde und erhöhte Befugnisse erhalten sollte. Namens der sozialdemokratischen Partei lehnte Seitz diese Pläne ab. Ähnliche erfolglose Bemühungen unternahm Seipel im Finanz- und Budgetausschuß am 20. November 1928.
Da es zu keiner Änderung der Verfassung kam, wurde daher am 5. Dezember 1928 der christlichsoziale Abgeordnete Wilhelm Miklas, noch auf Grund der geltenden Verfassungsbestimmungen, zum Bundespräsidenten gewählt.
Im April 1929 demissionierte die Regierung Seipel, was zu einer einmonatigen Regierungskrise und schließlich zur Bildung der Regierung Streeruwitz führte, die scheinbar der Verfassungsreform keine Bedeutung beimaß.
Am 18. August 1929 verpflichteten sich die österreichischen Faschistenführer Steidle, Pfrimer und Pabst namens der Heimwehr schriftlich, „die entscheidende Aktion zur Änderung der österreichischen Staatsverfassung spätestens in dem Zeitraum zwischen 15. Februar und 15. März durchzuführen. Die Bundesführung werde aber mit allen Kräften trachten, die Aktion bereits im Herbst 1929 zu unternehmen.“ Die Heimwehren wurden nicht nur in Aufrufen immer aggressiver, sondern gingen auch zu blutigen Aktionen über. Sie überfielen am 11. August Arbeiterheime in Purkersdorf und Hadersdorf-Weidlingau, und am 18. August kam es in St.Lorenzen (Steiermark) zu einer schweren Auseinandersetzung mit dem Schutzbund, bei der Tote und Verwundete zu beklagen waren.
In der Folge entwickelte der Landbund Aktivitäten zur Änderung der Bundesverfassung, die nicht die Unterstützung der Heimwehren fanden. Anfang September erklärten sich aber auch die anderen bürgerlichen Parteien zu einer Verfassungsreform bereit. Am 5. September wurde ein Aufruf der sozialdemokratischen Parteienvertretung veröffentliche in dem es u.a.h ieß: „Die bürgerlichen Parteien glauben, die Heimwehren benützen zu können, um das vom ganzen Volk gewählte Parlament unter den Druck von Putschdrohungen zu setzen, ihm mit Putschdrohungen eine durch und durch reaktionäre Verfassungsrevision abzupressen, aber die Sozialdemokraten werden sich nicht die Rechte der Arbeiterklasse abringen lassen.“
Bundeskanzler Ernst Streeruwitz widersetzte sicht nicht den Forderungen des Landbundes, schob jedoch die Erledigung zunächst auf die lange Bank und nahm an einer Völkerbundversammlung teil. Obwohl er vor seiner Abreise in einer Verlautbarung betont hatte, daß durch seine Abwesenheit die Arbeiten an der Verfassungsreform nicht behindert würden, herrschte eine derart gespannte Lage, daß die Christlichsoziale Partei mit dem Gedanken spielte, das Parlament von Wien wegzuverlegen.
In der Folge legte Streeruwitz den Entwurf einer Verfassungsreform vor, nachdem im Zuge einer Debatte im Rechnungshofausschuß Julius Deutsch zu erkennen gegeben hatte, daß über eine Verfassungsreform verhandelt werden könne./31/ Tatsächlich wurde dem Ministerrat am 21. September der Entwurf einer Verfassungsreform vorgelegt. Den Heimwehren ging diese Reform nicht weit genug. Der Heimwehrführer Hanns Rauter erklärte anläßlich einer Kundgebung auf dem Heldenplatz: „Wir müssen mit allem Nachdruck gegen die Auffassung stellungnehmen, daß die Verfassungsreform nur auf parlamentarischem Wege zu erreichen ist. .Wir treten zum Entscheidungskampf an. Wir sind sicher des Sieges.“ Weiter hieß es: „Der Marxismus kann nur mit Blut- und Eisen niedergeworfen werden, man muß mit der Faust die parlamentarisch-demokratische Verfassung zerschlagen. Wir wollen die Diktatur.“/32/
In der Folge kam es jedoch wegen der Verfassungsreform zwischen den Regierungsparteien zum Streit. Bundeskanzler Streeruwitz trat zurück und schlug den Wiener Polizeipräsidenten Schober zum Bundeskanzler vor. Schober, der mit den Verfassungsreformideen der Heimwehren sympathisierte, brachte am 18. Oktober die Regierungsvorlage zur Verfassungsreform im Nationalrat ein.

Die Schoberverfassung

Die vorgeschlagene Reform hatte zum Ziel, daß:
— an Stelle der bestehenden Parlamentsherrschaft ein Scheinparlamentarismus unter einer Majoritätsdiktatur geschaffen werde, der durch eine wesentlich erweiterte Macht des Bundespräsidenten und der der Majoritätsregierung unterstehenden Bürokratie charakterisiert wäre;
—  die Befugnisse der Polizei– und Militärbehörden erheblich erweitert;
—  der Bundesrat in einen Ständerat verwandelt und seine Zusammensetzung – vornehmlich zum Nachteil Wiens – geändert;
—  die Kompetenz des Nationalrates generell geschmälert, sein Einfluß auf die Budgetgestaltung, die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH), des Verwaltungsgerichtshofes und auf das Bundesheer gekappt;
—  die Kompetenzen der Bundesländer zugunsten des Bundes stark eingeschränkt werden;
—  die Stadt Wien ihren Status als Bundesland verlieren sollte.
Insgesamt waren die beabsichtigten Änderungen derart gravierend, daß es sich um eine Gesamtänderung der Verfassung gehandelt hätte, für deren legale Durchführung die Bestimmungen des Art.44(2) B–VG galten, wonach zu einem bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder des Nationalrates, mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen gefaßten Beschluß, noch eine Volksabstimmung hinzutreten muß./31/

Die Stellung des Bundespräsidenten

An der Spitze der Bestimmungen, die die Verwaltung betrafen, stand die Wahl des Bundespräsidenten. Er sollte nicht wie bisher von der Bundesversammlung (Nationalrat und Bundesrat), sondern im ersten Wahlgang in direkter Wahl vom Bundesvolk – mit Wahlpflicht – im Wege einer Volksabstimmung für die Dauer von sieben Jahren gewählt werden.
Zu den seltsamsten Einfällen des Entwurfes gehörte es, daß dann, wenn kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht hätte, die Wahl auf die Bundesversammlung überzugehen hätte. Diese sollte nach der Vorlage durch den Nationalrat, aus Ständerat und sämtlichen Mitgliedern der Landesregierungen – die nach den Entwurf nach dem Mehrheitsprinzip (ausgenommen Wien) zu bestellen wären – zusammengesetzt sein. Auf diese Weise wollte der Entwurf sichern, daß selbst dann, wann die Sozialdemokraten im Nationalrat die Mehrheit gehabt hätten, auf jeden Fall ein bürgerlicher Kandidat gewählt wird.
Der Entwurf wollte dem Nationalrat die Befugnis, die Mitglieder der Bundesregierung zu wählen, entziehen und dem Bundespräsidenten das Recht übertragen, die Minister und Staatssekretäre zu ernennen. Ihm sollte – anstelle des Nationalrates – der Oberbefehl über das Bundesheer übertragen werden.
Durch die Verfassungsreform sollte das Rechtsschutzprinzip dadurch durchbrochen werden, daß dem Bundespräsidenten das Recht zustünde, gesetzesändernde – allerdings nicht verfassungsändernde – Notverordnungen zu erlassen, sofern die erforderliche Beschlußfassung des Nationalrates nicht abgewartet werden könne, ohne daß unwiederbringlicher Schaden für die Allgemeinheit eintreten würde. Derartige Notverordnungen sollten selbst dann zulässig sein, wenn der Nationalrat versammelt war, ja sogar, wenn schon ein Gesetzesantrag in Beratung stand. Der Bundespräsident hätte also ein konkurrierendes Gesetzgebungsrecht, ein Recht, das weit über das Verordnungsrecht des Kaisers, gemäß §14 des alten Grundgesetzes von 1867, hinausging. Danach war das Notverordnungsrecht auf die Zeit beschränkt, in der der Reichsrat nicht versammelt war.
Der Bundespräsident sollte ferner (über Antrag der Bundesregierung) das Recht zur Verhängung des Ausnahmezustandes – Aufhebung der Freiheit der Person, des Hausrechtes, der Freiheit der Meinungsäußerung – erhalten, wodurch er auch dazu berechtigt gewesen wäre, Druckwerke zu verbieten und Druckereien einzustellen.
Man macht sich gewiß keiner Übertreibung schuldig, wenn man behauptet, daß ein Verordnungsrecht, wie es der Entwurf dem Bundespräsidenten einräumen wollte, keine Verfassung einer konstitutionellen Monarchie dem Monarchen je übertragen hat./32/
Während der Nationalrat nach der bisherigen Verfassung in Permanenz tagte und er allein das Recht der Selbstauflösung hatte, sollte dem Bundespräsidenten ohne jede Beschränkung das Recht der Auflösung des Nationalrates eingeräumt werden und darüber hinaus seinem Ermessen bzw. dem der Bundesregierung anheimgestellt sein, ob und wann eine Neuwahl des Nationalrates stattzufinden hat. Dadurch, daß der Bundespräsident das Recht haben sollte, zu entscheiden, wann der neugewählte Nationalrat zusammentritt, wäre praktisch der Weg zur Diktatur eröffnet worden. Außerdem war auch ein Notverordnungsrecht der Polizei vorgesehen, die, entgegen der bisher geltenden Regel, auch Anordnungen ohne bestehende gesetzliche Vorschriften hätte treffen können. Damit wäre ebenfalls das im Art.18 B–VG statuierte Prinzip der Rechtstaatlichkeit durchbrochen worden.

Der Bundesrat

Der Bundesrat sollte radikal umgestaltet werden, die Länder sollten nicht mehr im Verhältnis zu ihrer Größe, sondern alle Bundesländer und auch die Gemeinde Wien, nur durch je zwei Stimmen vertreten sein und die Mitglieder des Bundesrates nicht mehr von den Landtagen gewählt werden, sondern ihm der Landeshauptmann und Finanzreferent jedes Bundeslandes angehören. Darüberhinaus war für die Wahl der Landesregierung (mit Ausnahme des Stadtsenats von Wien) das Mehrheitsprinzip vorgesehen. Aus allen Landesregierungen, die nach den BV–G 1920 proportionell zusammengesetzt waren, hätten daher die Vertreter der sozialdemokratischen Opposition ausscheiden müssen. Bei den gegebenen Verhältnissen stünden im Länderrat 16 Angehörigen der Rechten, 2 Angehörige der Sozialdemokratischen Partei gegenüber. Der Bundesrat sollte sich aus dem Länderrat und dem Ständerat zusammensetzen und beiden Kammern das Recht zustehen, gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates ein suspensives Veto einzulegen.

Das Bundesland Wien

Die bedeutendsten Änderungen betrafen die Stadt Wien. Die Regierung wollte Wien als Bundesland entstaatlichen (enthaupten), das heißt, seines Charakters als Land berauben, zur bundesunmittelbaren Stadt erklären und in der mittelbaren Bundesverwaltung zur Bezirkshauptmanschaft degradieren./33/
Auch für den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde wäre dem Minister ein Weisungsrecht zugestanden. Wien hätte sich nicht, wie die anderen Bundesländer, selbst regieren können, die Funktion der Amtsführenden Stadträte sollte abgeschafft werden. Die Bundesregierung hätte alle Beschlüsse des Gemeinderates außer Kraft setzen können.
Die Wiener Polizeidirektion sollte der Bundesregierung mittelbar unterstellt werden und der Instanzenzug an den zuständigen Bundesminister gehen. Der Entwurf sah vor, den Stadtschulrat in einen Bezirksschulrat, also zur unmittelbaren Bundesbehörde umzuwandeln. So hätten 140.000 Vorarlberger das Schulwesen selbst verwalten können, nicht aber 1.860.000 Wiener. Wo die Mehrheit klerikal war, sollte die Selbstverwaltung des Schulwesens bestehen bleiben, wo dies nicht der Fall war, sollte sie aufgehoben werden.
Der Entwurf sah die Entrechtung der Arbeiterklasse vor. In den Ländern sollten die Landesregierungen mit absoluter Mehrheit gewählt werden. Es bestand die Absicht, die sozialistischen Minderheiten in Niederösterreich und den anderen Bundesländern – ausgenommen Wien – einfach aus den Landesregierungen zu eliminieren.
In Gemeinden mit weniger als dreitausend Einwohner sollte der Proporz abgeschafft werden. In Österreich waren dies viertausend Gemeinden mit mehr als 3,3 Mio. Einwohner. In größeren Gemeinden also, in denen die Bürgerlichen in der Minderheit waren, sollte der Proporz bleiben, in den kleineren Gemeinden, wo in der Regel die Sozialdemokraten die Minderheit waren, sollten sie durch Beseitigung des Proporzes rechtlos werden.

Diktatur der Majorität

Der Weg der Bundesgesetzgebung sollte, abgesehen davon, daß der Länderrat und der Ständerat ein Einspruchsrecht erhalten hätten, einschneidend reformiert werden. Nach geltendem Recht waren Verfassungsgesetzänderungen nur auf Grund eines mit Zweidrittel der im Nationalrat gültig abgegebenen Stimmen gefaßter Beschlüsse zulässig. Der Entwurf sah nun vor: Wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Nationalrates es verlangt, ist der verfassungändernde Gesetzesvorschlag einer Volksabstimmung zu unterziehen.
Ergibt sich für den Gesetzesvorschlag, der im Nationalrat eine einfache Mehrheit erlangt hat, bei der Volksabstimmung eine absolute Mehrheit der gültig abgegebenen Stimmen – ein bestimmtes Quorum war für die Volksabstimmung nicht vorgesehen – so ist der Gesetzesbeschluß als Bundesverfassungsgesetz zu beurkunden und kundzumachen. Das hätte nicht nur die Beseitigung jeder Stabilität der Verfassung, sondern vor allem zur Aufhebung des wichtigsten Minoritätsrechtes geführt. Für die Demokratie bedeutete dies: Diktatur der Majorität./34/

Die Gerichtsbarkeit

Die Regierungsvorlage wollte die Geschworenengerichte beseitigen. Nach dem geltenden Recht hatten bei mit schwerem Kerker bedrohten Verbrechen sowie bei allen politischen Verbrechen und Vergehen Geschworene über die Schuld des Angeklagten zu entscheiden. Die Regierungsvorlage wollte den Geschworenen die Entscheidung wegnehmen und an ihre Stelle die Teilnahme von Schöffen setzen. Die Mitglieder des VfGH wurden nach dem BV–G 1920 zur Hälfte vom Nationalrat – der auch den Präsidenten und den Vizepräsidenten bestellte – zur anderen Hälfte vom Bundesrat gewählt. Präsident, Vizepräsident und zwei Drittel (von 12) der Mitglieder durften nicht Mitglieder des Nationalrates, des Bundesrates oder eines Landtages sein. Regierungsmitglieder konnten ihm nicht angehören. Daß man die Berufung von Mitgliedern eines politischen Gerichtshofs parlamentarischen Organen übertrug, hatte auch darum seinen guten Sinn, weil der Kreationsakt zumindest unter der Kontrolle der parlamentarischen Minorität erfolgte. Beim Schutz der Minoritätsrechte aber erfüllt gerade ein Verfassungsgericht eine seiner wichtigsten Aufgaben.
Der die Regierungsvorlage prägende Geist kam auch in den Bestimmungen zum Ausdruck, die der Entpolitisierung des Verfassungs– und Verwaltungsgerichtshofes dienen sollten. In der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, in dem Männer wie Hans Kelsen und Friedrich Austerlitz saßen, zur Frage der Wiener Straßenpolizei, dem Umfang der Zuständigkeiten der Bundespolizeibehörden, vor allem aber in der Rechtsprechung zur Dispensehe, hatte sich der Verfassungsgerichtshof die Gegnerschaft der Christlichsozialen Partei zugezogen. Nach dem damaligen Stand hatten die Christlichsozialen vier, die Sozialdemokraten drei „Vertrauensmänner“,  die Großdeutschen einen „Vertrauensmann“ in diesem Gerichtshof. Dennoch waren die Christlichsozialen entschlossen, den von Ihnen behaupteten sozialdemokratischen Einfluß im Verfassungsgerichtshof zu brechen. Schon frühzeitig wurde erkannt, daß es sich nicht um eine Entpolitisierung, sondern um eine Umpolitisierung des Verfassungsgerichtshofes handeln sollte./35/ Dagegen war eine Entpolitisierung des Obersten Gerichtshofes, dessen Präsident Franz Dinghofer, ein prominenter Vertreter der Großdeutschen Volkspartei war, nicht gedacht.
Der Reformentwurf wollte das Parlament völlig ausschalten. Präsident und Vizepräsident wären auf Vorschlag der Bundesregierung vom Bundespräsidenten, zwei Mitglieder (von 10) von der Vollversammlung des Obersten Gerichtshofes, zwei Mitglieder von der Vollversammlung des VwGH – immer aus ihrer Mitte – zu wählen gewesen. Sechs Mitglieder sollten auf Grund eines Dreiervorschlages des VfGH vom Bundespräsidenten ernannt werden, wobei aber, da der amtierende VfGH aufgelöst werden sollte, auch die übrigen sechs Mitglieder vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung zu ernennen gewesen wären.
Die Regierung hätte also Präsidenten, Vizepräsidenten und sechs Mitglieder (von zwölf also acht) zu ernennen gehabt. (In der Monarchie wurden zwar die Mitglieder des Reichsgerichtshofes vom Kaiser ernannt, aber alle zwölf Mitglieder auf Vorschlag des Parlamentes.) Darüber hinaus sollte dem VfGH die Kompetenz entzogen werden, über Beschwerden, mit denen die Verletzung verfassungsmäßig gewährleisteter Rechte behauptet wird, zu entscheiden.

Stärkung des Bundes gegenüber den Ländern

Hatte schon die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 der Verfassung ein für alle Bundesstaaten der Erde einzig dastehendes zentralistisches Gepräge gegeben und eine Verfassungsgesetz–Novelle des Jahres 1925 den Bund, auf Kosten der Länder, in wichtigen Punkten gestärkt, so sollte die Novelle 1929 diesen Zentralisierungsprozeß fortsetzen (und tat es auch). Die Neuerungen sollten eine weitere Aushöhlung der ohnedies mehr als dürftigen Verfassungsautonomie der Länder, insbesondere Wiens, dienen, andererseits wichtige Kompetenzen von den Ländern auf den Bund übertragen./36/
Nicht nur durch die Zentralisierung der Polizeikompetenzen wollte man die Machtstellung der Bundesvollziehung stärken, sondern auch durch die Übertragung anderer Gesetzgebungs– und Vollziehungskompetenzen, wie der des Theater– und Kinowesens, öffentlicher Schaustellungen u.a., die bis dahin als selbstverständliche Länderkompetenzen angesehen worden waren.

Die Militärbehörden

Der Entwurf wollte auch die Macht der Militärbehörden erheblich stärken. Nach der geltenden Verfassung durfte das Heer zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Inneren nur verwendet werden, „soweit die gesetzmäßige, bürgerliche Gewalt seine Mitwirkung in Anspruch nimmt“. Der Entwurf schränkte diesen Grundsatz in mehr als bedenklicher Weise ein. Er erklärte nämlich ein „selbständiges militärisches Einschreiten“ zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Inneren für zulässig, „wenn die zuständigen Behörden durch höhere Gewalt außerstande gesetzt sind, das militärische Einschreiten herbeizuführen oder wenn es sich um Zurückweisung von Angriffen oder Widersetzlichkeit gegen Teile des Bundesheeres handelt“. Die Beurteilung der Frage, ob die Zivilbehörde wirklich durch höhere Gewalt außerstande gesetzt ist, das militärische Einschreiten herbeizuführen, was dem Ermessen der jeweiligen Kommandanten überlassen bliebe, bedeutete also, daß gerade in gefährlichen Augenblicken die Entscheidungsgewalt von der Zivil– auf die Militärbehörde übergehen sollte. Das war charakteristisch für jenes System, das man als Militarismus bezeichnet./38/

Das Budgetrecht

Einschneidend sollte auch das Budgetrecht des Nationalrates geändert werden. Ursprünglich war das Recht der parlamentarischen Budgetbewilligung ein Mittel des Parlaments – und damit der Parlamentsmehrheit – zur Kontrolle der Regierung, das stärkste Mittel, um die Regierung unter dem Einfluß des Parlaments und sohin der Parlamentsmehrheit zu stellen. Im System einer Parlamentsherrschaft, wie sie in Österreich nach dem Bundes–Verfassungsgesetz 1920 bestand, wäre es sinnlos gewesen, der Parlamentsmehrheit durch das Mittel der Budgetverweigerung die Möglichkeit zu geben, die Regierung zum Rücktritt zu zwingen. Daher die Vorschrift, daß der Nationalrat der Regierung das Vertrauen entziehen konnte, was zwangsläufig deren Enthebung vom Amte zur Folge hätte. Die Institution der alljährlichen Budgetbewilligung war nicht nur Kontrollmittel des Parlaments, sondern auch Machtmittel gegen die Regierung, das die Minorität gebrauchen konnte, um die Majorität zu beeinflussen, zur stärksten Möglichkeit, die Bildung des Staatswillens im Parlament in der Richtung eines Kompromisses zwischen Majorität und Minorität zu drängen.
Der Entwurf sah nun für den Fall, daß der Nationalrat den Bundesvoranschlagsentwurf nicht vor Ablauf des Finanzjahres genehmigte, vor, im folgenden Finanzjahr die Abgabe nach den bestehenden Vorschriften einzuheben und die Ausgaben auf Rechnung der gesetzlich festzustellenden Kredite zu bestreiten. Die Höchstgrenze der zulässigen Bundesausgaben wären die im Bundesfinanzgesetz für das abgelaufende Jahr bewilligten Ausgabenkredite. Dadurch hätte die jährliche Budgetbewilligung ihren Charakter als Generalbedingung für die Fortgeltung der die Einnahmen und Ausgaben des Staates statuierenden Gesetze und eben dadurch, jede politische Bedeutung verloren.
Dieser Reformvorschlag hatte das gleiche Ziel, wie die von dem Entwurf geplante Möglichkeit, Verfassungsgesetze mit einfacher Mehrheit abändern zu lassen: Den Einfluß der Opposition im parlamentarischen Verfahren auszuschalten./38/ Die Regierung hätte die Ermächtigung, fortan die Staatsverwaltung ohne gesetzliche Regelung zu führen.

Empörungssturm der Linken

Der Schoberentwurf rief in der Linken einen Sturm der Entrüstung hervor. Die Arbeiter–Zeitung schrieb: “Die Regierung hat gestern ihre Verfassungsvorlage im Nationalrat eingebracht. Man hat reaktionäre Vorlagen erwarten müssen. Aber das erbärmliche Machwerk, das Herr Schober gestern eingebracht hat, übertrifft an reaktionäres Gesinnung, an ältesten Polizeigeist, an Feindseligkeit gegen alle Grundsätze der Demokratie, die Errungenschaften der Arbeiterklasse, mehr als man erwarten mochte“. Die Arbeiter–Zeitung verwies auf die Absicht der Verfassungsvorlage, Österreich in einem Polizeistaat zu verwandeln und nannte sie ein Attentat auf die Freiheit der Bürger./39/ Das Zentralorgan der KPÖ forderte zum „Massenkampf gegen die Diktaturverfassung“ auf, verurteilte insbesonders den faschistischen Angriff auf die Stellung Wiens, rief zu einer „revolutionären Vertauensmänner–Konferenz“ auf /40/ und forderte die Mobilisierung gegen den angekündigten legalisierten Staatsstreich. /41/ Scharf verurteilte sie die von der Sozialdemokratie erklärte Bereitschaft, über eine Verfassungsreform verhandeln zu wollen. “Diese Bereitschaft beweise neuerlich, daß diese Partei, weil sie grundsätzlich auf dem Boden der kapitalistischen Republik steht, die Arbeiterschaft nie zu einem erfolgreichen Kampf gegen den Faschismus führen kann“./42/ Der Abgeordnete Robert Danneberg charakterisierte die Verfassungsreform als kaudinisches Joch /43/, durch das man die Sozialdemokratie zwingen wolle, und fügte an: „Durch das kaudinische Joch sind nur Besiegte gegangen, das Maulreißertum der Heimwehr aber hat uns wahrlich noch nicht besiegt. Die Gegner versuchen jetzt mit allen Mitteln der Gewalt, die SP zu etwas zu zwingen, was uns nur ein in einem Bürgerkrieg siegreicher Gegner aufzwingen könnte."/44/ Vom 8.–11. Oktober 1929 (also bereits vor Einbringung der Vorlage) fand der Parteitag der Sozialdemokraten statt. Otto Bauer erklärte in seiner Rede: „Die bürgerlichen Parteien wollen eine autoritäre Reform der demokratischen Verfassung, die Faschisten aber das Scheitern der parlamentarischen Verhandlungen, um dadurch den Staatsstreich zu ermöglichen“. Er erklärte daher seine Bereitschaft, über eine Reform zu verhandeln, und zwar mit der Begründung, daß eine rasche Überwindung der Krise auch im wirtschaftlichen Interesse der Arbeiter und Angestellten liege. Er präzisierte in einigen Punkten, welche Reformen für die SDAP. unannehmbar wären: Das Notverordnungsrecht; Der Ausnahmezustand; Die Ständerkammer; eine Änderung der Stellung Wiens.
In der Folge rief die SDAP für den 24. November 1929 eine Reichskonferenz der Partei ein, in der der Abgeordnete Danneberg, der von der SP beauftragt worden war, mit den Regierungsparteien über die Verfassungsfragen zu verhandeln, das Hauptreferat hielt.
Er erläuterte eingehend den Verfassungsentwurf und begründete die Verhandlungsbereitschaft wie folg: “Weil wir zwar den Bürgerkrieg, den die anderen heraufbeschwören wollen, nicht fürchten, weil wir aber wissen, daß das Ende dieses Bürgerkrieges nur ein Trümmerhaufen sein kann, auf dem das Leben in diesem Lande kaum mehr möglich wäre. Mit Menschenleben darf man nicht spielen, und wenn irgendeine Möglichkeit besteht, bei Wahrung aller unserer entscheidenden Interessen den Bürgerkrieg zu vermeiden, dann gebietet es das Gewissen der ganzen Partei, nichts unversucht zu lassen, um einen Weg zu suchen, der diese Frage zu einer möglichen und erträglichen Lösung führt, ohne daß Flammenwerfer und Maschinengewehre dabei in Aktion treten.“/45/
Diese Erklärung erfolgte inbesondere auch im Hinblick auf eine vorangegangene Erklärung der Wiener Heimwehr: „Die Roten mögen schreiben was sie wollen, unser Weg steht fest, ein Irremachen gibt es nicht, Gewehr bei Fuß steht die gesamte Heimwehr, um scharf darauf zu achten, daß die eingebrachte Verfassungsreform unverändert angenommen und unverzüglich zum Gesetz erhoben werde. Kompromisse, Packeleien und Kulissenschiebungen kämen einem Verrat an unserer Bewegung gleich, auf den es für uns nur die eine Antwort gibt: Gewehr heraus."/46/ Die Konferenz beschloß eine Resolution, die in fünfzehn Punkten die alleräußerste Grenze dessen festsetzte, die man der Sozialdemokratie und der Arbeiterklasse zumuten könne.
In der Folge wurde in einem Unterausschuß und in drei Lesungen im Plenum des Nationalrates verhandelt (seitens der Sozialdemokraten Bauer, Danneberg und Seitz) und schließlich am 7. Dezember 1929 die VfG–Novelle 1929 vom Nationalrat verabschiedet. Der Bundesrat stimmte am 10. Dezember zu, und die Novelle wurde am gleichen Tag kundgemacht.

Das Ergebnis

1. Der Bundespräsident:
a) Wird vom Bundesvolk mit Wahlpflicht auf die Dauer von sechs Jahre gewählt. Ergibt der erste Wahlgang keine absolute Mehrheit, erfolgt eine Stichwahl zwischen den zwei Kandidaten, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben (Art.60 B–VG). (Also die beabsichtigte Wahl im 2. Wahlgang durch Nationalrat, Ständerat und Mitglieder der Bundesregierung wurde nicht umgesetzt.)
b) Er erhält das Recht, den Nationalrat aufzulösen – jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß. Die Neuwahl ist in diesem Fall von der Bundesregierung so anzuordnen, daß der neugewählte Nationalrat längstens am hundertsten Tag nach seiner Auflösung zusammentreten kann (Art.29 B–VG). (Also wurde die Regelung des Entwurfs, wonach es dem Bundespräsidenten anheim gestellt werden sollte, bei besonderen Verhältnissen nach Auflösung des Nationalrates zu bestimmen, wann eine Neuwahl stattzufinden habe, nicht durchgesetzt.)
c) Ihm wurde ein Notverordnungsrecht zugestanden, jedoch nur zu einer Zeit, in der der Nationalrat nicht versammelt war und nicht rechtzeitig zusammen treten konnte. Jedoch nur auf Vorschlag der Bundesregierung, die aber ihren Vorschlag ausschließlich im Einvernahme mit dem vom Hauptausschuß des Nationalrats einzusetzenden ständigen Unterausschuß erstatten durfte (Art.18 B–VG). (Also keine Notverordnungen, wenn der Nationalrat versammelt ist oder eine Gesetzesvorlage bereits im Nationalrat eingebracht war.)
Von den Notverordnungen waren insbesondere ausgenommen: Arbeitsrecht, Arbeiter– und Angestelltenschutz, Sozial– und Vertragsversicherungswesen, Kammer für Arbeiter und Angestellte, Koalitionsrecht und Mieterschutz.
d) Er erhielt, anstelle des Nationalrates, die Befugnis, die Bundesregierung zu ernennen. Aber die Bundesregierung ist auf das Vertrauen des Nationalrates angewiesen. Versagt der Nationalrat der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder das Vertrauen, so ist die Bundesregierung oder der betreffende Bundesminister zu entheben. Das Ernennungsrecht ist also nichts mehr als eine Formalität (Art.70 B–VG).
2. Das im Entwurf geforderte Recht zur Verhängung des Ausnahmezustandes wurde vom Nationalrat verworfen, desgleichen die beabsichtigte Wiedereinführung der Zensur.
3. Dem Nationalrat wurde jedoch das ihm vom B–VG 1920 erteilte Verfügungsrecht über das Bundesheer entzogen. (Art.80 B–VG).
4. Die bisherige Regelung, nach der der Nationalrat in Permanenz tagte, wurde abgeändert und die Tagungen in Sessionen geteilt, allerdings Beginn und Ende limitiert.
Die Forderung, wonach der Bundespräsident die Tagungen des Nationalrates hätte für geschlossen erklären können fiel durch. Diese Demütigung des Nationalrates wurde nicht Gesetz. Der Bundespräsident  kann nur auf Beschluß des Nationalrates die Tagung für beendet erklären. (Art.28 B– VG).
5. Der Entwurf sah vor, der Polizei ein Notverordnungsrecht einzuräumen. Sie sollte unter gewissen Voraussetzungen Anordnungen auch ohne gesetzliche Vorschriften treffen können.
Mit der Novelle erhielten die Sicherheitsbehörden nur das Recht, zum Schutze der gefährdeten körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums innerhalb ihres Wirkungskreises die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Anordnungen zu treffen und deren Nichtbefolgung als Verwaltungsübertretungen zur erklären. Diese Anordnungen dürfen nicht gegen bestehende gesetzliche Vorschrift verstoßen. (Art.18 i.V. mit Art.118(6) B–VG, Art II §4(2) Verf.Überleitungsgesetz v. 7.12.29.)
6. Der Bundesrat sollte nach der Regierungsvorlage durch den Länderrat und Ständerat ersezt werden, in dem jedes Bundesland zwei Vertreter – immer den Landeshauptmann und den Finanzreferenten entsenden sollte, so daß Wien nicht mehr Vertreter gehabt hätte, als Vorarlberg. Diese Änderungen wurden abgelehnt. Die bisherige Regelung blieb aufrecht.
Die Bundesländer sind im Bundesrat im Verhältnis zu ihrer Bürgerzahl vertreten. Danach erhielt Wien 12, NÖ. 10, Steiermark 7., OÖ. 6, Kärnten, Tirol, Vorarlberg und Burgenland je 3 Mitglieder. Die Mitglieder werden vom Landtag nach dem Grundsatz der Verhältniswahl gewählt und wenigstens ein Mandat muß der Partei zufallen, die die zweithöchste Anzahl von Sitzen im Landtag hat. (Art.34 B–VG)
Das Vorhaben, die Opposition aus den Gemeindevertretungen kleiner Gemeinden zu verdrängen, mißlang. Es galt weiter das Verhältniswahlrecht, wonach im Gemeinderat vertretende Wahlparteien nach Maßgabe ihrer Stärke auf Vertretung im Gemeindevorstand Anspruch haben. (Art.117 (5) B–VG).
7. Die Absicht, Wien als Bundesland zu köpfen, mißlang vollkommen. Es gab nur zwei Änderungen. In Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung, in jenen also, die der Bürgermeister als Beauftragter des Bundes besorgt, endet der Instanzenzug nicht beim Landeshauptmann, sondern beim Bundesminister. Auch wurden als Rechtsmittelinstanz Kollegialbehörden geschaffen, wobei es Sache der Gemeinde Wien war, diese Kollegialbehörde zu bestimmen. (Art. 109 in V. mit Art.102 B–VG)
8. Die Verfassungsreform hielt die bisherige Bestimmung aufrecht, wonach Änderungen im Schulwesen nur durch übereinstimmende Gesetze des Bundes und der Länder verfügt werden können. Es blieb daher der Zustand, soweit es sich um Volks– und Hauptschulen handelt, unverändert aufrecht. Die Mittelschulen wurden jedoch in der Gesetzgebung dem Bund allein unterstellt. (Art.14 B–VG) Aufrecht blieben das Verhältnis von Schule und Kirche und die Schulaufsichtsgesetze, die die Rechte zwischen Orts–, Bezirks– und Landesschulräte – in Wien des Stadtschulrates – regeln.
9. Nach der Regierungsvorlage hätte das ganze Budgetrecht des Nationalrates illusorisch gemacht werden können. Die Novelle traf aber die Regelung, daß, wenn der Bundesvoranschlag nicht vor Ablauf des Finanzjahres verfassungsmäßig genehmigt ist, ein Budgetprovisorium gemacht werden muß. (Art.51 B–VG)
10. Die Beseitigung der Geschworenengerichte wurde nicht Gesetz. Die bisherige Regelung blieb aufrecht. (Art.91 B–VG)
11. Die Rechte des Nationalrates inbezug auf den Verfassungsgerichtshof wurden erheblich geschmälert. Die Zusammensetzung des VfGH erfolgte folgendermaßen: Präsident und Vizepräsident ernennt der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung. Weiters ernennt er auf Vorschlag der Bundesregierung sechs Mitglieder (und die Ersatzmitglieder), die jedoch nicht aus dem Kreise der Richter und Verwaltungsbeamten und Professoren an den juristischen Fakultäten der Universitäten ernannt werden. Sechs Mitglieder (und drei Ersatz) schlägt das Parlament vor (Hälfte Nationalrat, Hälfte Bundesrat). (Art.147 B–VG)

Resumeé

Durch die Novelle wurde die Vormachtstellung des Parlamentes beseitigt, die Gewaltentrennung durchgesetzt, die in Händen der Reaktion befindliche Exekutive gestärkt und Österreich in eine abgeschwächte Präsidentschaftsrepublik umgewandelt. Die Sozialdemokratie rechtfertigte ihre Zustimmung zur Verfassungsreform mit der Begründung, dadurch einen Bürgerkrieg vereitelt und darüberhinaus dem österreichischen Bürgertum gelehrt zu haben, daß es klüger daran täte, die Rechte der Arbeiter und Angestellten anzuerkennen und sich mit der Machtstellung. die sich die Arbeiterklasse in jahrelange Kämpfen erstritten hat, abzufinden. Die SDAP habe in Sorge um die Republik, aus Verantwortungsgefühl für die österreichische Volkswirtschaft und in der Überzeugung gehandelt, daß, wer immer in einem Bürgerkrieg gesiegt hätte, einen Sieg auf einen Trümmerfeld erreicht hätte, auf dem das Schicksal der Arbeiterklasse für viele Jahre ein gesteigertes Elend gewesen wäre./47/
Trotz der revolutionären Tradition der österreichischen Arbeiterbewegung und ihrer unbestreitbaren Erfolge, war die sozialdemokratische Partei seit 1905 sukzessiv vor der Reaktion zurückgewichen. Insbesonders „der 15. Juli 1927 gab der Reaktion die Gewißheit, daß die Führung der sozialdemokratischen Partei die große Macht und Kampfkraft der Arbeiterklasse, trotz aller programmatischer Worte, nicht einsetzen würde. Der 15. Juli entmutigte die Arbeiter und erschütterte das Vertrauen in die eigene Kraft. Von nun an begann der offene, direkte Vormarsch des Austrofaschismus, der 1934 die Demokratie in Österreich zerschlug.“/48/
Die am 24. November 1929 abgehaltene Reichskonferenz der SDAP hatte in ihrer Resolution Robert Danneberg die ausdrückliche Weisung erteilt, einer Verfassungsreform nur zuzustimmen, wenn ihre in 15 Punkte aufgelisteten Forderungen durchgesetzt würden. Eine dieser Forderungen war: Beseitigung des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz aus 1917. Die sozialdemokratische Verhandlungsdelegation unter Führung Dannebergs hielt sich nicht an die Weisungen und verzichtete auf Beseitigung dieses Gesetzes.
1934 benützte die Bundesregierung dieses kriegswirtschaftliche Ermächtigunsgesetz zur Beseitigung der Demokratie und, gestützt auf die päpstliche Enzyklika Quadragesimo Anno, zur Errichtung des austrofaschistischen Ständestaates.

Anmerkungen:

1/ Art.1 Bundesverfassungsgesetz
2/ Adamovich, Österreichisches Verfassungsrecht, 4. Auflage, S. 62
3/ Hans Kelsen: Demokratie und Sozialismus, Hg. Norbert Leser, S. 18f.
4/ Ebenda
5/ Adamovich, ebda
6/ Ebenda
7/ Jean Bruhat, Jean Fautry, Emile Tersen, Die Pariser Kommune von 1871, Berlin 1971.
8/ Adamovich, a.a.O. S. 64.
9/ Hans Kelsen, Die Organisation der vollziehenden Gewalt Deutschösterreichs, Zeitschrift für Öffentliches Recht (ZÖR), 1/1929
10/ Hans Kelsen, ebda.
11/ Adamovich, a.a.O., S. 65
12/ Manfred Scheuch, Österreich in 20. Jahrhundert, in: „Der Standard“, 8. Mai1999
13/ KPÖ Beiträge zu ihrer Geschichte und Politik, Wien 1987, S. 42.
14/ Ebenda, S. 57.
15/ Manfred Scheuch, a.a.O.
16/ KPÖ, Beiträge... .a.a.O., S. 58 f.
17/ Otto Bauer, Werksausgabe Bd. 5, Wien 1978, S. 214f
18/ Manfred Scheuch, Österreich im 20. Jahrhundert, in: „Der Standard“, 29. Mai 1999
19/ Julius Deutsch. Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, 3. ergänzte Auflage, S. 79f
20/ Manfred Scheuch, Österreich im 20. Jahrhundert, a.a.O.
21/ Hans Hautmann, Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, Wien 1974, S. 142f
22/ KPÖ, Beiträge.... a.a.O. S. 149f
23/ Deutsch, Arbeiterbewegung ...a.a.O., S. 80f
24/ KPÖ, Beiträge...a.a.O., S. 78 f.
25/ Deusch, Arbeiterbewegung, a.a.O., S. 83f
26/ KPÖ, Beiträge, a.a.O., S. 106
27/ Klaus Berchtold, Wilhem Braumüller, Die Verfassungsreform 1929, Dokumente und Materialien zur Bundesverfassungsgesetz-Novelle von 1929, Teil I, S. 3f
28/ Ebenda, S. 6
29/ Ebenda, S. 9
30/ Hans Kelsen, Die Verfassungsreform, JB1, Nr. 21/1929, S. 457
31/ Hans Kelsen, Die Verfassungsreform, JB1, Nr. 21/1929
32/ Ebenda
33/ „Arbeiter-Zeitung“, 7. Dezember 1929
34/ Hans Kelsen, a.a.O.
35/ Klaus Berchtold, Wilhelm Braumüller, a.a.O., S.17
36/ Adolf Merkl, Der rechtliche Gehalt der österreichischen Verfassungreform vom 7. Dezember 1929, ZÖR, Band X, 1930. S. 175
37/ Hans Kelsen, a.a.O., S. 451
38/ ebda.
39/ „Arbeiter-Zeitung“, 19. Oktober 1929
40/ „Die Rote Fahne“, 16. Oktober 1929
41/ „Die Rote Fahne“, 15. Oktober 1929
42/ a.a.O.
43/ Kaudinisches Joch: Ein von den Samniten aus Speeren gebildetes Joch durch das das römische Heer nach seiner Niederlage am kaudinischen Paß 321 v.u.Z., waffenlos durchschreiten mußte. Danach Bezeichnung für schimpfliche Demütigung.
44/ „Arbeiter-Zeitung“, 30.10.1929
45/ „Arbeiter-Zeitung“, 25.11.1929
46/ „Arbeiter-Zeitung“, 20.11.1929
47/ „Arbeiter-Zeitung“, 12.12.1929
48/ Hans Hautmann, Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, Wien 1974, S. 153

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3 & 4/1999

 

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