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Jakob Zanger: 70 Jahre Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1929
Am 7. Dezember 1929 wurde vom Nationalrat die
Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1929 verabschiedet und am 10. Dezember 1929 in
der Wiener Zeitung kundgemacht. Zum Verständnis der Tragweite dieser Novelle
ist ein Mindestmaß an Kenntnis der Hintergründe, die zu ihrer Verabschiedung
führten, erforderlich. Aus diesem Grund erfolgt zunächst eine kurze
theoretische Analyse des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 und ein geraffter
geschichtlicher Überblick über die wirtschaftliche und politische Entwicklung,
die zur Verfassungsreform führte.
Das Wesen des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920
Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volke aus./1/
Art.1 B-VG hat zunächst programmatische Bedeutung. Er bestimmt als Staatsform
die Demokratie und als Regierungsform die Republik, verneint also die
Staatsform der Monarchie.
Die Feststellung, daß das Recht vom Volke ausgeht, bedeutet die theoretische
Verankerung der „Volkssouveränität“ des Gedankens, daß von Mensch zu Mensch das
Volk der ursprüngliche Träger der Staatsgewalt sei. Also die Festlegung der
Identität von Herrschenden und Beherrschten, wobei die Mitwirkung des Volkes an
der staatlichen Willensbildung sich im überwiegenden Maß durch das Mittel der
Wahl von Repräsentanten, die an der Gesetzgebung und an der Vollziehung
mitzuwirken haben, vollzieht.
Das B-VG hat daher nicht die Staatsform der unmittelbaren, sondern jene der
mittelbaren, repräsentativen Demokratie verwirklicht /2/, in dem es der
sogenannten „Repräsentationstheorie“, also der Behauptung folgte, daß es das
Volk sei, das vermittels seines Parlamentes oder vermittels seiner Regierung
den staatlichen Willen bilde, weil es im Akte der Wahl seinen Willen auf das
Parlament oder auf seine Regierung übertragen habe.
Parlamentarismus bedeutet also: Bildung des staatlichen Willens durch ein vom
Volk gewähltes Kollegialorgan. Charakteristisch ist die Mittelbarkeit der
Willensbildung, daß also der staatliche Wille nicht unmittelbar durch das Volk
selbst, sondern durch das Parlament erzeugt wird./3/
Im B-VG 1920 hatten die Instrumente der unmittelbaren Demokratie -
Volksbegehren und Volksabstimmung - keine überragende Bedeutung, außer für den
Fall der Gesamtänderung des B-VG (also bei Änderung des demokratischen,
republikanischen, bundesstaatlichen oder rechtsstaatlichen Prinzips), weil
diesfalls eine obligatorische Volksabstimmung normiert worden war.
Die Frage behandelnd, weshalb im B-VG 1920 dem Gedanken der Volksabstimmung
nicht im weiteren Ausmaß Rechnung getragen wurde, beantworteten die
sozialdemokratischen Abgeordneten in der konstituierenden Nationalversammlung
am 29. September 1920 damit, daß der SDAP die Volksabstimmung keineswegs als
etwas absolut Demokratisches und Zweckmäßiges erscheine, deshalb, weil es bei
der Kompliziertheit der heutigen Gesetzgebung sehr schwer ist, einfach mit JA
oder NEIN zu entscheiden, und weil komplizierte Gesetze, wie man sie heute zu
machen hat, eben nur in einer beratende Körperschaft wirklich gemacht und
entschieden werden können.
Auch Kelsen wies darauf hin, daß, obwohl durch die Institution des Referendums
dem Volke ein stärkerer Anteil an der Gemeinschaftsbildung eingeräumt wird, der
Durchführung dieser Institution in modernen Großstaaten nicht geringe Hemmungen
entgegen stehen und man leicht die Bedeutung überschätzt, die dem Referendum
vom Standpunkt der realen Selbstbestimmung des Volkes zukommt. Die Wirkung ist
mehr eine subjektive als eine objektive./4/ Die moderne Demokratie ist eine
parlamentarische und der Parlamentarismus ist offenbar, jedenfalls nach den
bisherigen Erfahrungen, die einzige mögliche Form, die in der Demokratie
innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute realisierbar ist.
Das B-VG 1920 hat daher nicht die Staatsform der unmittelbaren, sondern jene
der mittelbaren, repräsentativen Demokratie verwirklicht./5/ Es hatte darüber
hinaus, offenbar in Anlehnung an die von Karl Marx im „Der Bürgerkrieg in
Frankreich“ aus der Pariser Komune gezogenen Lehren (die mit Dekret vom 29.
März 1871 die Gewaltentrennung beseitigte und die Verwaltungsangelegenheiten in
die eigenen Hände nahm) und in bewußter Ablehnung des Postulates der
„Gewaltenteilung“, die Republik bis in die letzten Konsequenzen als rein
parlamentariche Demokratie eingerichtet./6 u. 7/
Bei den parlamentarischen Körperschaften im Bund und in den Ländere,
Nationalrat und Landtagen, lag in allen wichtigen Fragen des politischen Lebens
die Entscheidung. Ihrem Einfluß waren alle übrigen Organe, schon durch die Art
ihrer Bestellung, untergeordnet./8/ Die unmittelbare Wahl der Regierung durch
das Parlament, also die Aufhebung der Gewaltentrennung, ist allerdings eine in
den geltenden Verfassungen nur ausnahmsweise zu verzeichnende Berufungsform der
obersten Exekutivorgane. Der politische Gedanke der Volkssouveränität, sofern
er in der repräsentativen Demokratie verwirklicht ist, bezweckt die
Verhinderung der Loslösung der vollziehenden Gewalt von dem Gesetzgebungsorgan.
Das politische Axiom der Trennung der Gewalten ist seinerzeit nicht zuletzt zu
dem Zweck geschaffen worden, um den aus dem Absolutismus in die Beschränkung
des Konstitutionalismus verdrängten Monarchen ein letztes Übergewicht über die
im Parlament konzentrierte Gewalt zu geben./9/ Übrigens ist die politische
Absicht, mit der das Dogma von der Gewaltentrennung seit Montesquieu
vorgetragen wurde, durchaus nicht gewesen, der Demokratie den Weg zu bereiten,
sondern eher umgekehrt, dem durch die demokratische Bewegung von der
Gesetzgebung halb und halb verdrängten Monarchen auf dem Gebiet der Vollziehung
noch eine Möglichkeit der Machtentfaltung zu geben.
Das Gewaltentrennungsdogma ist der Kernpunkt in der Ideologie der
konstitutionellen Monarchie./10/ Im B-VG 1920 hatte die Ablehnung des Postulats
der Gewaltentrennung seinen Niederschlag:
– im Legalitätsprinzip, wonach die gesamte staatliche Verwaltung ohne jede
Einschränkung (ohne jedes Notverordnungsrecht), nur auf Grund der Gesetze
ausgeübt werden darf (Art.18);
– in der Wahl des Bundespräsidenten, der von der Bundesversammlung gewählt
wurde (Art.60 ff) und von ihr für die Verfassungsmäßigkeit seiner Amtsführung
zur Verantwortung gezogen werden konnte;
– dem Bundespräsidenten stand auf die Berufung und auf die Geschäftsführung der
Mitglieder der Regierung kein Einfluß zu;
– darin, daß die Mitglieder der Bundesregierung vom Nationalrat gewählt wurden
und auch nur vom Nationalrat abberufen werden konnten (Art.70 ff);
– in der Verfügung über das Bundesheer (Art.80), den Rechnungshof (Art.122 f),
den Verfassungsgerichtshof (Art.147) und den Verwaltungsgerichtshof (Art.135).
Der Nationalrat war in seiner Machtstellung vollkommen unbeschränkt. Er hatte
(teilweise gemeinsam mit dem Bundesrat) das ausschließliche Gesetzgebungsmopol.
Notverordnungen waren verfassungsmäßig ausgeschlossen.
Der Nationalrat wurde zwar nach erfolgter Nationalratswahl vom
Bundespräsidenten zu seiner ersten Sitzung einberufen; ihm allein oblag jedoch
die Vertagung und Wiedereinberufung und nur der Nationalrat konnte seine
Auflösung beschließen (Art.24 ff).
Die politische Entwicklung der Republik
Die ersten Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung vom 16. Feber
1919 hatten der Sozialdemokratie einen großen Erfolg gebracht. Sie zog mit 70
Mandaten in das neue Haus ein. Sie erhielt 1.311.870 Stimmen und erreichte 40,
47%. Die Christlichsozialen 1.068.382 Stimmen und 30, 5% und die
Deutschnationalen 547.626 Stimmen, was 18, 42% entsprach. Erster Präsident des
Nationalrates wurde der Sozialdemokrat Karl Seitz. Sie war im neuen Parlament
die stärkste Fraktion, verfügte aber nicht über die absolute Mehrheit, waren
daher zur Koalition gezwungen.
Unter ihrer Führung wurden - zunächst in den Großbetrieben - der Achtstundentag
und die Sonn- und Feiertagsruhe eingeführt; die Arbeitslosenunterstützung
beschlossen; der im Krieg eingeführte Mieterschutz verlängert (der
Kündigungsschutz blieb im Prinzip Teil der Österreichischen Rechtsordnung), das
Bäckereigesetz und Entschädigungsbestimmungen für Invalide; das
Arbeiterurlaubsgesetz; das Verbot der Nachtarbeit für Frauen und die Einführung
von Betriebsräten beschlossen./12/
An Stelle der kaiserlichen Armee trat - bereits unter der provisorischen
Koalitionsregierung Karl Renner - eine Volkswehr, die - im Gegensatz zur
deutschen Reichswehr - nicht als Instrument der Konterrevolution benutzt werden
konnte.
Es entstanden Arbeiter- und Soldatenräte, die von den Staatsorganen respektiert
werden mußten./13/
Mit der Ratifizierung des Friedensvertrages von Saint Germain durch die
konstituierende Nationalversammlung am 17. Oktober 1919 begann die Periode der
langsamen, aber stetigen Festigung der bürgerlichen Ordnung./14/
Bruch der Koalition
Es kam jedoch zum Bruch der Koalition im Zusammenhang mit der Umwandlung der
aus Soldatenräten bestandenen Volkswehr in ein auf 30.000 Mann von den
Alliierten beschränktes Heer. Die großdeutsche Opposition hatte - wohl im
stillen Einverständnis mit den Christlichsozialen - scharf gegen einen Erlaß
des sozialdemokratischen Staatssekretär für Heereswesen, Julius Deutsch,
Stellung bezogen, indem die Kommandogewalt der Offiziere durch die Befugnisse
der Soldatenräte beschränkt wurde. Schon in den Monaten zuvor hatte Deutsch den
Unwillen der Bürgerlichen erregt, weil er das neue Bundesheer nicht den alten
monarchistischen Offizieren überlassen wollte.
Bei der Diskussion um die Vorwürfe der Großdeutschen in der Nationalratssitzung
vom 10. Juni 1920 nahmen die Christlichsozialen gegen den eigenen
sozialdemokratischen Koalitionspartner Stellung. Es kam zu Tumulten.
Die Sozialdemokraten, die ihre Position in der Regierung dadurch geschwächt
sahen, daß in ihnen von der Bevölkerung zunehmend die Hauptverantwortlichen für
die nach wie vor anhaltenden schweren Belastungen gesehen wurde, legten noch am
gleichen Tag alle Regierungsämter nieder /15/.
Man einigte sich auf die Bildung einer Proporz- und Übergangsregierung,
bestehend aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Großdeutschen, und auf
die Ausschreibung von Nationalratswahlen für den 17. Oktober 1920, 12 Tage nach
Verlautbarung des Bundesverfassungsgesetzes 1920./16/
Die Wahlen zum Nationalrat am 17. Oktober 1920 brachten den bürgerlichen
Parteien zwar nicht den erwartetengroßen Sieg, die Sozialdemokraten gingen
jedoch geschwächt aus den Wahlen hervor. Sie verloren ca. 140.000 Stimmen und
fielen auf 35, 99% zurück, und sie erhielten (obwohl die Zahl der zu
vergehenden Mandate gegenüber 1919 ton 170 auf 183 erhöht worden war) statt 72
nur noch 69 Mandate. Die Christlichsozialen gewannen ca. 180.000 Stimmen und
erhielten mit 41, 79% statt 65 nun 85 Mandate. Die Großdeutschen verloren zwar
geringfügig an Stimmen, erzielten aber 17, 25% gemeinsam mit der Bauernpartei,
erreichten aber (gemeinsam mit der Bauernpartei und der Bürgerlichen
Arbeitspartei) 28 statt bisher 27 Mandate.
Im Hinblick auf dieses Ergebnis lehnten es die Sozialdemokraten ab, die
Koalition mit den Christlichsozialen zu erneuern.
Dr. Otto Bauer begründete diese Haltung auf dem 1920 abgehaltenen Parteitag in
seinem Referat „Die politische Lage und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ wie
folgt: „Die Regierung des bürgerlichen Staates, solange er bürgerlicher Staat
bleibt, fällt naturgemäß den bürgerlichen Klassen zu. Und die natürliche
Stellung des Proletariats gegenüber dem bürgerlichen Staat, auch in seiner
republikanischen Form, ist die Stellung der Opposition.
Niemand von uns wird Lust haben, zurückzufallen in jene Irrtümer und Illusionen
des revisionistischen Ministerialismus. Wir haben zu sehr erfahren, wie
furchtbar gefährlich die Teilnahme der Arbeiterklasse an der Regierung ist, als
daß wir den Wunsch hätten, anders als in Stunden unvermeidlicher Notwendigkeit
ein solches Experiment zu wagen.
Es gibt in revolutionären Zeiten Stunden, in denen dem Proletariat kein anderer
Weg bleibt als der der Koalition. Das ist dann der Fall, wenn das Proletariat
nicht stark genug ist, die Herrschaft allein zu übernehmen, aber auf der
anderen Seite die Bourgeoisie einfach nicht mehr imstande ist, den Staat zu
regieren.
In solchen Stunden ist die Koalition etwas Unvermeidliches ... und für das
Proletariat auch fruchtbar, weil die Bourgeoisie zu schwach ist, um allein zu
regieren. In jeder anderen Zeitepoche aber, wo die Bourgeoise imstande ist, den
Staat zu regieren, ist jene Teilnahme von Sozialdemokraten an der Regierung
notwendig unfruchtbar...
Deswegen glaube ich, wenn wir nicht soweit gehen können, zu sagen, daß die
Koalition nie und unter keinen Umständen sozialistische Politik sein könnte
.... so müssen wir ebenso entschieden feststellen, daß wir uns der vollen
Gefährlichkeit eines solchen Experimentes bewußt sind ... (und) wir deswegen in
einer solchen Koalitionspolitik nicht ein normales, nicht ein natürliches,
nicht ein jeden Tag brauchbares Mittel der sozialistischen Politik sehen,
sondern sie nur in ganz besonderen revolutionären Situationen als überhaupt
möglich und diskutierbar ansehen können.“/17/
Die österreichischen Sozialdemokraten hatten mit ihrem Ausscheiden aus der
Koalition sich der Möglichkeit beraubt, ihr wirtschafts- und gesellschaftspolitisches
Programm auf staatlicher Ebene zu realisieren.
Die Politik der Christlichsozialen unter ihrem Führer Ignaz Seipel war zudem
darauf ausgerichtet, die SDAP von staatlicher Macht fernzuhalten. Die Fronten
zwischen bürgerlichem und sozialistischem Lager verstanden sich als
Klassenfronten, in denen die ideologischen Positionen politische Kompromisse
auszuschließen schienen./18/
Die wirtschaftliche Entwicklung
Das heimische Kapital verlor durch die Auflösung der österreichische
ungarischen Monarchie die Geltung, die es bisher in Zentral- und Osteuropa
besessen hatte. Rohstoffmangel auf der einen und der Verlust der Absatzmärkte
auf der anderen Seite bewirkten eine Schrumpfung der österreichischen
Industrie. Zugleich büßten die Wiener Banken ihre beherrschende Stellung im
Donauraum ein.
Die rasch steigende Zahl der Arbeitslosen, die durch die Verelendung der Massen
erzwungene. Einschränkung des Konsums und die in katastrophaler Weise
anwachsenden Lasten des Staatshaushaltes, waren Anzeichen einer Krise, die
selbst die Not der Kriegszeit übertraf. Eine übergroße Menge von Banknoten
überschwemmte das Land. Die Inflation riß die letzten Dämme hinweg; Österreich
schien im Chaos zu versinken./21/
Zunächst gelang es der Regierung Schober von der Tschechoslowakei ein Darlehen
zu erlangen, die Inflation war für kurze Zeit gestoppt. Die Großdeutschen
bezeichneten den Vertrag mit den Tschechen als Verrat an den Sudetendeutschen,
die Sozialdemokraten stellten Bedingungen für die Unterstützung der Regierung;
die diese ablehnte. Die Notenpresse begann wieder zu laufen. Österreich
schlitterte in eine Hyperinflation. Im Mai stürzte die Opposition die Regierung
mit einem Mißtrauensantrag gegen den Finanzminister./22/ Die Nachfolge des
parteilosen Johannes Schober trat der Prälat Ignaz Seipel an, der mit einer
Unterbrechung 1924/25 bis 1929 österreichischer Bundeskanzler blieb. Er wandte
sich an das äusländische Kapital. Es gelang ihm, eine Völkerbundanleihe zu
erhalten, deren Bedingungen so konstruiert waren, daß sie eine Kontrolle des
auswärtigen Kapitals über Österreich darstellten.
„Die Genfer Sanierung“ hatte zwar den Staatshaushalt von seinem Defizit befreit
und die Währung stabilisiert, aber dieser Erfolg wurde teuer erkauft, denn er
war begleitet von einer weitgehenden Drosselung der Volkswirtschaft. Der Konsum
der Massen sank, die Arbeitslosigkeit stieg von 1921 bis 1926 von 12.000 auf
178.000 und erreichte 1926 zeitweilig 18 % der Arbeitnehmer. Österreich erlebte
aber bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 eine Hochkonjunktur. Die
Industrieproduktion konnte jedoch bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise den
Stand von 1913 nicht erreichen. Im Jahre 1928, dem besten Wirtschaftsjahr der
Zwischenkriegszeit, erreichte die Ausnutzung der Anlagen der Schwerindustrie
oft nicht einmal 50%./23/ Am 6. Oktober 1929 krachte in Wien die
Boden-Creditanstalt; am 24. Oktober kam es an der New-Yorker Börse zu so großen
Kurseinbrüchen, daß sie am 25. Oktober, dem „schwarzen Freitag“, zusperren
mußte. Der endgültige Zusammenbruch der Boden-Creditanstalt, der die ganze
österreichische Wirtschaft ruiniert hätte, konnte nur durch riesige staatliche
Zuschüße verhindert werden./24/ So mündete die Genfer Sanierung schließlich in
eine neue und schwere Krise./25/
Faschistische Gefahren
In Österreich hatten sich bald nach dem Umsturz des Jahres 1918 unter dem
Namen Heimatschutz und Heimwehren bewaffnete Kampfverbände gebildet. Sie setzen
sich aus ehemaligen k.u.k.Offizieren, beschäftigungslosen Aristokraten,
abenteuerlichen Söhnen der Bourgeoisie, aber auch aus Arbeitslosen - die in
dieser Zeit der Not einen Taglohn von fünf Schilling erhielten - zusammen. Sie
waren zum Schutz des kapitalistischen Eigentums, insbesondere aber als
Gegengewicht gegen die unter dem Einfluß der Arbeiterklasse stehende Armee
gegründet worden.
Ihre Führer waren „Fürst“ Ernst Rüdiger Starhemberg und der Innsbrucker
Rechtsanwalt und Landeshauptmannstellvertreter Richard Steidle. Sie erhielten
die massive Unterstützung Mussolinis und wurden von Bundeskanzler Seipel
planmäßig gefördert, insbesondere im Zusammenhang mit der Genfer Sanierung, die
von Otto Bauer zwar als „Knechtschafts-Vertrag“ bezeichnet wurde; aber es war
schließlich die SDAP, die es Seipel ermöglichte, eine parlamentarische Mehrheit
zu erhalten. Um die Jahreswende 1922/23 kam es unter dem Kommando des
Rechtsanwaltes Walter Pfrimer zu bewaffneten Provokationen in Judenburg, in
deren Verlauf der christlichsoziale Landeshauptmann der Steiermark, Anton
Rintelen, Judenburger SDAP-Führer verhaften ließ, während Walter Pfrimer, mit
Hilfe von 6.000 Bewaffneten, den Abbruch eines Proteststreiks im Judenburger
Gußstahlwerk erzwang.
1924 trat Bundeskanzler Ignaz Seipel, infolge des im November durchgeführten
Eisenbahnerstreiks zurück und machte Rudolf Ramek Platz, dessen Regierung von
Förderern der Heimwehren durchsetzt war. Die Regierung Ramek mußte jedoch im
Herbst, infolge von Korruptionsskandalen, zurücktreten und Prälat Ignaz Seipel
bildete am 20.10.26 eine Regierung aus Christlichsozialen und Großdeutschen. In
der Folge schaltete sich die Christlichsoziale-Partei in die Bemühungen ein,
die bisher zersplitterten Heimwehrverbände zu einigen. Im November 1926 gelang
es, den Verband der „Alpenländischen Heimwehren“, unter Führung Richard
Steidles, zu bilden./26/
Bundeskanzler Seipel förderte die Heimwehrbewegung planmäßig. Sie konnte es nun
wagen, eine Provokation nach der anderen zu setzen, wohl wissend, daß die
Regierung ihre schätzende Hand über sie hielt. Es kam wiederholt zur Ermordung
von Vertrauensmännern der Arbeiterschaft, zu Überfällen auf Versammlungen und
zu anderen terroristischen Anschlägen. Am Beginn des Jahres 1927 wurde bei
einem Aufmarsch der Heimwehren in dem burgenländischen Grenzort Schattendorf
ein Arbeiter und ein Kind getötet. Die Schuldtragenden wurden von den
Geschworenen freigesprochen. Dieses Fehlurteil führte zu Straßendemonstrationen
der Arbeiter in Wien, in deren Verlauf es zu blutigen Zusammenstößen mit der
Polizei kam. Neunzig Tote und hunderte Verwundete waren Opfer dieses Tages. Zum
Protest fand ein Generalstreik der Eisenbahner statt, dem ein Streik der
Arbeiter folgte.
Die Heimwehren setzten in Tirol und Steiermark die streikenden Eisenbahner
unter schweren Druck. Der Verkehrstreik mußte abgebrochen werden.
Nun wurde das Auftreten der Heimwehren immer herausfordender. Sie trafen
ziemlich unverhüllte Vorbereitungen, um die Herrschaft im Staat an sich zu
reißen - offensichtlich spielte ein Teil des Staatsapparates mit den Heimwehren
zusammen./27/ Im Herbst 1928 verhärteten sich die politischen Gegensätze
zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie zusehens. Die nach
der Wahl vom 24. April 1927 - bei der die bürgerliche Einheitsliste aus
Großdeutschen und Christlichsozialen rund 160.000 Stimmen verloren, die SDAP aber
230.000 Stimmen und insgesamt 43 % gewonnen hatte /28/ - gebildete
„Bürgerblockregierung“ fühlte sich auf parlamentarischen Boden durch die
„Obstruktionspolitik“ der Sozialdemokraten immer mehr eingeengt.
Das Ringen um eine Verfassungsreform
Ab Ende 1925 reifte der Gedanke einer Verfassungsreform, trat jedoch bis zum
Sommer 1928 in den Hintergrund, um sodann neuerlich von Seipel und der Heimwehr
in den Mittelpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzungen gestellt zu
werden.
Der Heimwehrführer Steidle äußerte sich im April 1928: „Weil wir uns nicht als
Selbstzweck betrachten, sondern weil wir den Bürgerfriede und einen
Ordnungsstaat wollen, der nur durch eine Verstärkung der Staatsautorität
gesichert werden kann, rufen wir nach einer Verfassungsreform, welche eine
ruhige Staatsleitung auch in dem Falle gewährleistet, wenn eine verantwortungs-
und hemmungslose Opposition die parlamentarische Einrichtungen mißbraucht.“/29/
Auf Grund der Aktivitäten Seipels wurde die Frage der Verfassungsreform
generell zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen. In einer Rede vom
16. Juli 1928 legte er seine Überzeugung dar, daß „wahre Demokratie“ nur durch
Überwindung der Parteienherrschaft erreicht werden könne. Er bezeichnete die
Heimwehr als eine starke Volksbewegung, welche die Demokratie von der
Parteienherrschaft befreien will.
Anläßlich eines Heimwehraufmarsches auf dem Wiener Heldenplatz am 8. August
1928 forderte Steidle eine Reform der Verfassung, die darin bestehen muß, daß
wirklich das Volk regiert und eine Regierung vorhanden ist, die über genügend
Autorität verfügt. Er drohte: “Wenn die Herren es nicht anders wollen, so
werden wir die Änderung durch den Druck erzwingen, der sich täglich noch
verschärfen wird.“ Einige Tage später erklärte er: „Unser Ziel ist die
Reinigung der politischen Luft von den Giftgasen, welche marxistische und
Parteiendiktatur erzeugt haben, die Errichtung einer Verfassung, welche
Volksrechte und Volksfreiheit verbürgt. Dazu braucht es keine neue Partei; dazu
braucht es Kämpfer, fanatische und entschlossene Kämpfer und das sind die
Heimwehren“./30/
Im November 1928 wurde der Landbund mit Anträgen im Nationalrat aktiv,
gerichtet auf die Stärkung der Stellung des Bundespräsidenten und Umbau des
Bundesrates in eine ständische Vertretung. In einer von Seipel veranlaßten
Obmännerkonferenz am 13. November 1928 schlug er vor, die Verfassung in der
Form zu ändern, daß der Bundespräsident vom Volk gewählt werde und erhöhte
Befugnisse erhalten sollte. Namens der sozialdemokratischen Partei lehnte Seitz
diese Pläne ab. Ähnliche erfolglose Bemühungen unternahm Seipel im Finanz- und
Budgetausschuß am 20. November 1928.
Da es zu keiner Änderung der Verfassung kam, wurde daher am 5. Dezember 1928
der christlichsoziale Abgeordnete Wilhelm Miklas, noch auf Grund der geltenden
Verfassungsbestimmungen, zum Bundespräsidenten gewählt.
Im April 1929 demissionierte die Regierung Seipel, was zu einer einmonatigen
Regierungskrise und schließlich zur Bildung der Regierung Streeruwitz führte,
die scheinbar der Verfassungsreform keine Bedeutung beimaß.
Am 18. August 1929 verpflichteten sich die österreichischen Faschistenführer
Steidle, Pfrimer und Pabst namens der Heimwehr schriftlich, „die entscheidende
Aktion zur Änderung der österreichischen Staatsverfassung spätestens in dem
Zeitraum zwischen 15. Februar und 15. März durchzuführen. Die Bundesführung
werde aber mit allen Kräften trachten, die Aktion bereits im Herbst 1929 zu
unternehmen.“ Die Heimwehren wurden nicht nur in Aufrufen immer aggressiver,
sondern gingen auch zu blutigen Aktionen über. Sie überfielen am 11. August
Arbeiterheime in Purkersdorf und Hadersdorf-Weidlingau, und am 18. August kam
es in St.Lorenzen (Steiermark) zu einer schweren Auseinandersetzung mit dem
Schutzbund, bei der Tote und Verwundete zu beklagen waren.
In der Folge entwickelte der Landbund Aktivitäten zur Änderung der
Bundesverfassung, die nicht die Unterstützung der Heimwehren fanden. Anfang
September erklärten sich aber auch die anderen bürgerlichen Parteien zu einer
Verfassungsreform bereit. Am 5. September wurde ein Aufruf der
sozialdemokratischen Parteienvertretung veröffentliche in dem es u.a.h ieß: „Die
bürgerlichen Parteien glauben, die Heimwehren benützen zu können, um das vom
ganzen Volk gewählte Parlament unter den Druck von Putschdrohungen zu setzen,
ihm mit Putschdrohungen eine durch und durch reaktionäre Verfassungsrevision
abzupressen, aber die Sozialdemokraten werden sich nicht die Rechte der
Arbeiterklasse abringen lassen.“
Bundeskanzler Ernst Streeruwitz widersetzte sicht nicht den Forderungen des
Landbundes, schob jedoch die Erledigung zunächst auf die lange Bank und nahm an
einer Völkerbundversammlung teil. Obwohl er vor seiner Abreise in einer
Verlautbarung betont hatte, daß durch seine Abwesenheit die Arbeiten an der
Verfassungsreform nicht behindert würden, herrschte eine derart gespannte Lage,
daß die Christlichsoziale Partei mit dem Gedanken spielte, das Parlament von
Wien wegzuverlegen.
In der Folge legte Streeruwitz den Entwurf einer Verfassungsreform vor, nachdem
im Zuge einer Debatte im Rechnungshofausschuß Julius Deutsch zu erkennen
gegeben hatte, daß über eine Verfassungsreform verhandelt werden könne./31/
Tatsächlich wurde dem Ministerrat am 21. September der Entwurf einer
Verfassungsreform vorgelegt. Den Heimwehren ging diese Reform nicht weit genug.
Der Heimwehrführer Hanns Rauter erklärte anläßlich einer Kundgebung auf dem
Heldenplatz: „Wir müssen mit allem Nachdruck gegen die Auffassung
stellungnehmen, daß die Verfassungsreform nur auf parlamentarischem Wege zu
erreichen ist. .Wir treten zum Entscheidungskampf an. Wir sind sicher des
Sieges.“ Weiter hieß es: „Der Marxismus kann nur mit Blut- und Eisen
niedergeworfen werden, man muß mit der Faust die parlamentarisch-demokratische
Verfassung zerschlagen. Wir wollen die Diktatur.“/32/
In der Folge kam es jedoch wegen der Verfassungsreform zwischen den
Regierungsparteien zum Streit. Bundeskanzler Streeruwitz trat zurück und schlug
den Wiener Polizeipräsidenten Schober zum Bundeskanzler vor. Schober, der mit
den Verfassungsreformideen der Heimwehren sympathisierte, brachte am 18.
Oktober die Regierungsvorlage zur Verfassungsreform im Nationalrat ein.
Die Schoberverfassung
Die vorgeschlagene Reform hatte zum Ziel, daß:
— an Stelle der bestehenden Parlamentsherrschaft ein Scheinparlamentarismus
unter einer Majoritätsdiktatur geschaffen werde, der durch eine wesentlich
erweiterte Macht des Bundespräsidenten und der der Majoritätsregierung
unterstehenden Bürokratie charakterisiert wäre;
— die Befugnisse der Polizei– und Militärbehörden erheblich erweitert;
— der Bundesrat in einen Ständerat verwandelt und seine Zusammensetzung –
vornehmlich zum Nachteil Wiens – geändert;
— die Kompetenz des Nationalrates generell geschmälert, sein Einfluß auf
die Budgetgestaltung, die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH),
des Verwaltungsgerichtshofes und auf das Bundesheer gekappt;
— die Kompetenzen der Bundesländer zugunsten des Bundes stark
eingeschränkt werden;
— die Stadt Wien ihren Status als Bundesland verlieren sollte.
Insgesamt waren die beabsichtigten Änderungen derart gravierend, daß es sich um
eine Gesamtänderung der Verfassung gehandelt hätte, für deren legale
Durchführung die Bestimmungen des Art.44(2) B–VG galten, wonach zu einem bei
Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder des Nationalrates, mit
einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen gefaßten Beschluß,
noch eine Volksabstimmung hinzutreten muß./31/
Die Stellung des Bundespräsidenten
An der Spitze der Bestimmungen, die die Verwaltung betrafen, stand die Wahl
des Bundespräsidenten. Er sollte nicht wie bisher von der Bundesversammlung
(Nationalrat und Bundesrat), sondern im ersten Wahlgang in direkter Wahl vom
Bundesvolk – mit Wahlpflicht – im Wege einer Volksabstimmung für die Dauer von
sieben Jahren gewählt werden.
Zu den seltsamsten Einfällen des Entwurfes gehörte es, daß dann, wenn kein
Kandidat die absolute Mehrheit erreicht hätte, die Wahl auf die
Bundesversammlung überzugehen hätte. Diese sollte nach der Vorlage durch den
Nationalrat, aus Ständerat und sämtlichen Mitgliedern der Landesregierungen –
die nach den Entwurf nach dem Mehrheitsprinzip (ausgenommen Wien) zu bestellen
wären – zusammengesetzt sein. Auf diese Weise wollte der Entwurf sichern, daß
selbst dann, wann die Sozialdemokraten im Nationalrat die Mehrheit gehabt
hätten, auf jeden Fall ein bürgerlicher Kandidat gewählt wird.
Der Entwurf wollte dem Nationalrat die Befugnis, die Mitglieder der
Bundesregierung zu wählen, entziehen und dem Bundespräsidenten das Recht
übertragen, die Minister und Staatssekretäre zu ernennen. Ihm sollte – anstelle
des Nationalrates – der Oberbefehl über das Bundesheer übertragen werden.
Durch die Verfassungsreform sollte das Rechtsschutzprinzip dadurch durchbrochen
werden, daß dem Bundespräsidenten das Recht zustünde, gesetzesändernde –
allerdings nicht verfassungsändernde – Notverordnungen zu erlassen, sofern die
erforderliche Beschlußfassung des Nationalrates nicht abgewartet werden könne,
ohne daß unwiederbringlicher Schaden für die Allgemeinheit eintreten würde.
Derartige Notverordnungen sollten selbst dann zulässig sein, wenn der
Nationalrat versammelt war, ja sogar, wenn schon ein Gesetzesantrag in Beratung
stand. Der Bundespräsident hätte also ein konkurrierendes Gesetzgebungsrecht,
ein Recht, das weit über das Verordnungsrecht des Kaisers, gemäß §14 des alten
Grundgesetzes von 1867, hinausging. Danach war das Notverordnungsrecht auf die
Zeit beschränkt, in der der Reichsrat nicht versammelt war.
Der Bundespräsident sollte ferner (über Antrag der Bundesregierung) das Recht
zur Verhängung des Ausnahmezustandes – Aufhebung der Freiheit der Person, des
Hausrechtes, der Freiheit der Meinungsäußerung – erhalten, wodurch er auch dazu
berechtigt gewesen wäre, Druckwerke zu verbieten und Druckereien einzustellen.
Man macht sich gewiß keiner Übertreibung schuldig, wenn man behauptet, daß ein
Verordnungsrecht, wie es der Entwurf dem Bundespräsidenten einräumen wollte,
keine Verfassung einer konstitutionellen Monarchie dem Monarchen je übertragen
hat./32/
Während der Nationalrat nach der bisherigen Verfassung in Permanenz tagte und er
allein das Recht der Selbstauflösung hatte, sollte dem Bundespräsidenten ohne
jede Beschränkung das Recht der Auflösung des Nationalrates eingeräumt werden
und darüber hinaus seinem Ermessen bzw. dem der Bundesregierung anheimgestellt
sein, ob und wann eine Neuwahl des Nationalrates stattzufinden hat. Dadurch,
daß der Bundespräsident das Recht haben sollte, zu entscheiden, wann der
neugewählte Nationalrat zusammentritt, wäre praktisch der Weg zur Diktatur
eröffnet worden. Außerdem war auch ein Notverordnungsrecht der Polizei
vorgesehen, die, entgegen der bisher geltenden Regel, auch Anordnungen ohne
bestehende gesetzliche Vorschriften hätte treffen können. Damit wäre ebenfalls
das im Art.18 B–VG statuierte Prinzip der Rechtstaatlichkeit durchbrochen
worden.
Der Bundesrat
Der Bundesrat sollte radikal umgestaltet werden, die Länder sollten nicht
mehr im Verhältnis zu ihrer Größe, sondern alle Bundesländer und auch die Gemeinde
Wien, nur durch je zwei Stimmen vertreten sein und die Mitglieder des
Bundesrates nicht mehr von den Landtagen gewählt werden, sondern ihm der
Landeshauptmann und Finanzreferent jedes Bundeslandes angehören. Darüberhinaus
war für die Wahl der Landesregierung (mit Ausnahme des Stadtsenats von Wien)
das Mehrheitsprinzip vorgesehen. Aus allen Landesregierungen, die nach den BV–G
1920 proportionell zusammengesetzt waren, hätten daher die Vertreter der
sozialdemokratischen Opposition ausscheiden müssen. Bei den gegebenen
Verhältnissen stünden im Länderrat 16 Angehörigen der Rechten, 2 Angehörige der
Sozialdemokratischen Partei gegenüber. Der Bundesrat sollte sich aus dem
Länderrat und dem Ständerat zusammensetzen und beiden Kammern das Recht
zustehen, gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates ein suspensives Veto
einzulegen.
Das Bundesland Wien
Die bedeutendsten Änderungen betrafen die Stadt Wien. Die Regierung wollte
Wien als Bundesland entstaatlichen (enthaupten), das heißt, seines Charakters
als Land berauben, zur bundesunmittelbaren Stadt erklären und in der
mittelbaren Bundesverwaltung zur Bezirkshauptmanschaft degradieren./33/
Auch für den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde wäre dem Minister ein
Weisungsrecht zugestanden. Wien hätte sich nicht, wie die anderen Bundesländer,
selbst regieren können, die Funktion der Amtsführenden Stadträte sollte
abgeschafft werden. Die Bundesregierung hätte alle Beschlüsse des Gemeinderates
außer Kraft setzen können.
Die Wiener Polizeidirektion sollte der Bundesregierung mittelbar unterstellt
werden und der Instanzenzug an den zuständigen Bundesminister gehen. Der
Entwurf sah vor, den Stadtschulrat in einen Bezirksschulrat, also zur
unmittelbaren Bundesbehörde umzuwandeln. So hätten 140.000 Vorarlberger das
Schulwesen selbst verwalten können, nicht aber 1.860.000 Wiener. Wo die
Mehrheit klerikal war, sollte die Selbstverwaltung des Schulwesens bestehen
bleiben, wo dies nicht der Fall war, sollte sie aufgehoben werden.
Der Entwurf sah die Entrechtung der Arbeiterklasse vor. In den Ländern sollten
die Landesregierungen mit absoluter Mehrheit gewählt werden. Es bestand die
Absicht, die sozialistischen Minderheiten in Niederösterreich und den anderen
Bundesländern – ausgenommen Wien – einfach aus den Landesregierungen zu eliminieren.
In Gemeinden mit weniger als dreitausend Einwohner sollte der Proporz
abgeschafft werden. In Österreich waren dies viertausend Gemeinden mit mehr als
3,3 Mio. Einwohner. In größeren Gemeinden also, in denen die Bürgerlichen in
der Minderheit waren, sollte der Proporz bleiben, in den kleineren Gemeinden,
wo in der Regel die Sozialdemokraten die Minderheit waren, sollten sie durch
Beseitigung des Proporzes rechtlos werden.
Diktatur der Majorität
Der Weg der Bundesgesetzgebung sollte, abgesehen davon, daß der Länderrat
und der Ständerat ein Einspruchsrecht erhalten hätten, einschneidend reformiert
werden. Nach geltendem Recht waren Verfassungsgesetzänderungen nur auf Grund
eines mit Zweidrittel der im Nationalrat gültig abgegebenen Stimmen gefaßter Beschlüsse
zulässig. Der Entwurf sah nun vor: Wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des
Nationalrates es verlangt, ist der verfassungändernde Gesetzesvorschlag einer
Volksabstimmung zu unterziehen.
Ergibt sich für den Gesetzesvorschlag, der im Nationalrat eine einfache
Mehrheit erlangt hat, bei der Volksabstimmung eine absolute Mehrheit der gültig
abgegebenen Stimmen – ein bestimmtes Quorum war für die Volksabstimmung nicht
vorgesehen – so ist der Gesetzesbeschluß als Bundesverfassungsgesetz zu
beurkunden und kundzumachen. Das hätte nicht nur die Beseitigung jeder
Stabilität der Verfassung, sondern vor allem zur Aufhebung des wichtigsten
Minoritätsrechtes geführt. Für die Demokratie bedeutete dies: Diktatur der
Majorität./34/
Die Gerichtsbarkeit
Die Regierungsvorlage wollte die Geschworenengerichte beseitigen. Nach dem
geltenden Recht hatten bei mit schwerem Kerker bedrohten Verbrechen sowie bei
allen politischen Verbrechen und Vergehen Geschworene über die Schuld des
Angeklagten zu entscheiden. Die Regierungsvorlage wollte den Geschworenen die
Entscheidung wegnehmen und an ihre Stelle die Teilnahme von Schöffen setzen.
Die Mitglieder des VfGH wurden nach dem BV–G 1920 zur Hälfte vom Nationalrat –
der auch den Präsidenten und den Vizepräsidenten bestellte – zur anderen Hälfte
vom Bundesrat gewählt. Präsident, Vizepräsident und zwei Drittel (von 12) der
Mitglieder durften nicht Mitglieder des Nationalrates, des Bundesrates oder
eines Landtages sein. Regierungsmitglieder konnten ihm nicht angehören. Daß man
die Berufung von Mitgliedern eines politischen Gerichtshofs parlamentarischen
Organen übertrug, hatte auch darum seinen guten Sinn, weil der Kreationsakt
zumindest unter der Kontrolle der parlamentarischen Minorität erfolgte. Beim
Schutz der Minoritätsrechte aber erfüllt gerade ein Verfassungsgericht eine
seiner wichtigsten Aufgaben.
Der die Regierungsvorlage prägende Geist kam auch in den Bestimmungen zum
Ausdruck, die der Entpolitisierung des Verfassungs– und
Verwaltungsgerichtshofes dienen sollten. In der Rechtsprechung des
Verfassungsgerichtshofes, in dem Männer wie Hans Kelsen und Friedrich
Austerlitz saßen, zur Frage der Wiener Straßenpolizei, dem Umfang der
Zuständigkeiten der Bundespolizeibehörden, vor allem aber in der Rechtsprechung
zur Dispensehe, hatte sich der Verfassungsgerichtshof die Gegnerschaft der
Christlichsozialen Partei zugezogen. Nach dem damaligen Stand hatten die
Christlichsozialen vier, die Sozialdemokraten drei „Vertrauensmänner“,
die Großdeutschen einen „Vertrauensmann“ in diesem Gerichtshof. Dennoch waren
die Christlichsozialen entschlossen, den von Ihnen behaupteten
sozialdemokratischen Einfluß im Verfassungsgerichtshof zu brechen. Schon
frühzeitig wurde erkannt, daß es sich nicht um eine Entpolitisierung, sondern
um eine Umpolitisierung des Verfassungsgerichtshofes handeln sollte./35/
Dagegen war eine Entpolitisierung des Obersten Gerichtshofes, dessen Präsident
Franz Dinghofer, ein prominenter Vertreter der Großdeutschen Volkspartei war,
nicht gedacht.
Der Reformentwurf wollte das Parlament völlig ausschalten. Präsident und
Vizepräsident wären auf Vorschlag der Bundesregierung vom Bundespräsidenten,
zwei Mitglieder (von 10) von der Vollversammlung des Obersten Gerichtshofes,
zwei Mitglieder von der Vollversammlung des VwGH – immer aus ihrer Mitte – zu
wählen gewesen. Sechs Mitglieder sollten auf Grund eines Dreiervorschlages des
VfGH vom Bundespräsidenten ernannt werden, wobei aber, da der amtierende VfGH
aufgelöst werden sollte, auch die übrigen sechs Mitglieder vom Bundespräsidenten
auf Vorschlag der Bundesregierung zu ernennen gewesen wären.
Die Regierung hätte also Präsidenten, Vizepräsidenten und sechs Mitglieder (von
zwölf also acht) zu ernennen gehabt. (In der Monarchie wurden zwar die
Mitglieder des Reichsgerichtshofes vom Kaiser ernannt, aber alle zwölf
Mitglieder auf Vorschlag des Parlamentes.) Darüber hinaus sollte dem VfGH die
Kompetenz entzogen werden, über Beschwerden, mit denen die Verletzung
verfassungsmäßig gewährleisteter Rechte behauptet wird, zu entscheiden.
Stärkung des Bundes gegenüber den Ländern
Hatte schon die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 der Verfassung ein für
alle Bundesstaaten der Erde einzig dastehendes zentralistisches Gepräge gegeben
und eine Verfassungsgesetz–Novelle des Jahres 1925 den Bund, auf Kosten der
Länder, in wichtigen Punkten gestärkt, so sollte die Novelle 1929 diesen
Zentralisierungsprozeß fortsetzen (und tat es auch). Die Neuerungen sollten
eine weitere Aushöhlung der ohnedies mehr als dürftigen Verfassungsautonomie
der Länder, insbesondere Wiens, dienen, andererseits wichtige Kompetenzen von
den Ländern auf den Bund übertragen./36/
Nicht nur durch die Zentralisierung der Polizeikompetenzen wollte man die
Machtstellung der Bundesvollziehung stärken, sondern auch durch die Übertragung
anderer Gesetzgebungs– und Vollziehungskompetenzen, wie der des Theater– und
Kinowesens, öffentlicher Schaustellungen u.a., die bis dahin als
selbstverständliche Länderkompetenzen angesehen worden waren.
Die Militärbehörden
Der Entwurf wollte auch die Macht der Militärbehörden erheblich stärken.
Nach der geltenden Verfassung durfte das Heer zur Aufrechterhaltung der Ordnung
im Inneren nur verwendet werden, „soweit die gesetzmäßige, bürgerliche Gewalt
seine Mitwirkung in Anspruch nimmt“. Der Entwurf schränkte diesen Grundsatz in
mehr als bedenklicher Weise ein. Er erklärte nämlich ein „selbständiges
militärisches Einschreiten“ zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Inneren für
zulässig, „wenn die zuständigen Behörden durch höhere Gewalt außerstande
gesetzt sind, das militärische Einschreiten herbeizuführen oder wenn es sich um
Zurückweisung von Angriffen oder Widersetzlichkeit gegen Teile des Bundesheeres
handelt“. Die Beurteilung der Frage, ob die Zivilbehörde wirklich durch höhere
Gewalt außerstande gesetzt ist, das militärische Einschreiten herbeizuführen,
was dem Ermessen der jeweiligen Kommandanten überlassen bliebe, bedeutete also,
daß gerade in gefährlichen Augenblicken die Entscheidungsgewalt von der Zivil–
auf die Militärbehörde übergehen sollte. Das war charakteristisch für jenes
System, das man als Militarismus bezeichnet./38/
Das Budgetrecht
Einschneidend sollte auch das Budgetrecht des Nationalrates geändert werden.
Ursprünglich war das Recht der parlamentarischen Budgetbewilligung ein Mittel
des Parlaments – und damit der Parlamentsmehrheit – zur Kontrolle der
Regierung, das stärkste Mittel, um die Regierung unter dem Einfluß des
Parlaments und sohin der Parlamentsmehrheit zu stellen. Im System einer
Parlamentsherrschaft, wie sie in Österreich nach dem Bundes–Verfassungsgesetz
1920 bestand, wäre es sinnlos gewesen, der Parlamentsmehrheit durch das Mittel
der Budgetverweigerung die Möglichkeit zu geben, die Regierung zum Rücktritt zu
zwingen. Daher die Vorschrift, daß der Nationalrat der Regierung das Vertrauen
entziehen konnte, was zwangsläufig deren Enthebung vom Amte zur Folge hätte.
Die Institution der alljährlichen Budgetbewilligung war nicht nur
Kontrollmittel des Parlaments, sondern auch Machtmittel gegen die Regierung,
das die Minorität gebrauchen konnte, um die Majorität zu beeinflussen, zur
stärksten Möglichkeit, die Bildung des Staatswillens im Parlament in der
Richtung eines Kompromisses zwischen Majorität und Minorität zu drängen.
Der Entwurf sah nun für den Fall, daß der Nationalrat den
Bundesvoranschlagsentwurf nicht vor Ablauf des Finanzjahres genehmigte, vor, im
folgenden Finanzjahr die Abgabe nach den bestehenden Vorschriften einzuheben
und die Ausgaben auf Rechnung der gesetzlich festzustellenden Kredite zu
bestreiten. Die Höchstgrenze der zulässigen Bundesausgaben wären die im
Bundesfinanzgesetz für das abgelaufende Jahr bewilligten Ausgabenkredite.
Dadurch hätte die jährliche Budgetbewilligung ihren Charakter als
Generalbedingung für die Fortgeltung der die Einnahmen und Ausgaben des Staates
statuierenden Gesetze und eben dadurch, jede politische Bedeutung verloren.
Dieser Reformvorschlag hatte das gleiche Ziel, wie die von dem Entwurf geplante
Möglichkeit, Verfassungsgesetze mit einfacher Mehrheit abändern zu lassen: Den
Einfluß der Opposition im parlamentarischen Verfahren auszuschalten./38/ Die
Regierung hätte die Ermächtigung, fortan die Staatsverwaltung ohne gesetzliche
Regelung zu führen.
Empörungssturm der Linken
Der Schoberentwurf rief in der Linken einen Sturm der Entrüstung hervor. Die
Arbeiter–Zeitung schrieb: “Die Regierung hat gestern ihre Verfassungsvorlage im
Nationalrat eingebracht. Man hat reaktionäre Vorlagen erwarten müssen. Aber das
erbärmliche Machwerk, das Herr Schober gestern eingebracht hat, übertrifft an
reaktionäres Gesinnung, an ältesten Polizeigeist, an Feindseligkeit gegen alle
Grundsätze der Demokratie, die Errungenschaften der Arbeiterklasse, mehr als
man erwarten mochte“. Die Arbeiter–Zeitung verwies auf die Absicht der Verfassungsvorlage,
Österreich in einem Polizeistaat zu verwandeln und nannte sie ein Attentat auf
die Freiheit der Bürger./39/ Das Zentralorgan der KPÖ forderte zum „Massenkampf
gegen die Diktaturverfassung“ auf, verurteilte insbesonders den faschistischen
Angriff auf die Stellung Wiens, rief zu einer „revolutionären
Vertauensmänner–Konferenz“ auf /40/ und forderte die Mobilisierung gegen den
angekündigten legalisierten Staatsstreich. /41/ Scharf verurteilte sie die von
der Sozialdemokratie erklärte Bereitschaft, über eine Verfassungsreform
verhandeln zu wollen. “Diese Bereitschaft beweise neuerlich, daß diese Partei,
weil sie grundsätzlich auf dem Boden der kapitalistischen Republik steht, die
Arbeiterschaft nie zu einem erfolgreichen Kampf gegen den Faschismus führen
kann“./42/ Der Abgeordnete Robert Danneberg charakterisierte die
Verfassungsreform als kaudinisches Joch /43/, durch das man die
Sozialdemokratie zwingen wolle, und fügte an: „Durch das kaudinische Joch sind
nur Besiegte gegangen, das Maulreißertum der Heimwehr aber hat uns wahrlich
noch nicht besiegt. Die Gegner versuchen jetzt mit allen Mitteln der Gewalt,
die SP zu etwas zu zwingen, was uns nur ein in einem Bürgerkrieg siegreicher
Gegner aufzwingen könnte."/44/ Vom 8.–11. Oktober 1929 (also bereits vor
Einbringung der Vorlage) fand der Parteitag der Sozialdemokraten statt. Otto
Bauer erklärte in seiner Rede: „Die bürgerlichen Parteien wollen eine
autoritäre Reform der demokratischen Verfassung, die Faschisten aber das
Scheitern der parlamentarischen Verhandlungen, um dadurch den Staatsstreich zu
ermöglichen“. Er erklärte daher seine Bereitschaft, über eine Reform zu
verhandeln, und zwar mit der Begründung, daß eine rasche Überwindung der Krise
auch im wirtschaftlichen Interesse der Arbeiter und Angestellten liege. Er
präzisierte in einigen Punkten, welche Reformen für die SDAP. unannehmbar
wären: Das Notverordnungsrecht; Der Ausnahmezustand; Die Ständerkammer; eine
Änderung der Stellung Wiens.
In der Folge rief die SDAP für den 24. November 1929 eine Reichskonferenz der
Partei ein, in der der Abgeordnete Danneberg, der von der SP beauftragt worden
war, mit den Regierungsparteien über die Verfassungsfragen zu verhandeln, das
Hauptreferat hielt.
Er erläuterte eingehend den Verfassungsentwurf und begründete die
Verhandlungsbereitschaft wie folg: “Weil wir zwar den Bürgerkrieg, den die
anderen heraufbeschwören wollen, nicht fürchten, weil wir aber wissen, daß das
Ende dieses Bürgerkrieges nur ein Trümmerhaufen sein kann, auf dem das Leben in
diesem Lande kaum mehr möglich wäre. Mit Menschenleben darf man nicht spielen,
und wenn irgendeine Möglichkeit besteht, bei Wahrung aller unserer
entscheidenden Interessen den Bürgerkrieg zu vermeiden, dann gebietet es das
Gewissen der ganzen Partei, nichts unversucht zu lassen, um einen Weg zu
suchen, der diese Frage zu einer möglichen und erträglichen Lösung führt, ohne
daß Flammenwerfer und Maschinengewehre dabei in Aktion treten.“/45/
Diese Erklärung erfolgte inbesondere auch im Hinblick auf eine vorangegangene
Erklärung der Wiener Heimwehr: „Die Roten mögen schreiben was sie wollen, unser
Weg steht fest, ein Irremachen gibt es nicht, Gewehr bei Fuß steht die gesamte
Heimwehr, um scharf darauf zu achten, daß die eingebrachte Verfassungsreform
unverändert angenommen und unverzüglich zum Gesetz erhoben werde. Kompromisse,
Packeleien und Kulissenschiebungen kämen einem Verrat an unserer Bewegung
gleich, auf den es für uns nur die eine Antwort gibt: Gewehr heraus."/46/
Die Konferenz beschloß eine Resolution, die in fünfzehn Punkten die
alleräußerste Grenze dessen festsetzte, die man der Sozialdemokratie und der
Arbeiterklasse zumuten könne.
In der Folge wurde in einem Unterausschuß und in drei Lesungen im Plenum des
Nationalrates verhandelt (seitens der Sozialdemokraten Bauer, Danneberg und
Seitz) und schließlich am 7. Dezember 1929 die VfG–Novelle 1929 vom Nationalrat
verabschiedet. Der Bundesrat stimmte am 10. Dezember zu, und die Novelle wurde
am gleichen Tag kundgemacht.
Das Ergebnis
1. Der Bundespräsident:
a) Wird vom Bundesvolk mit Wahlpflicht auf die Dauer von sechs Jahre gewählt.
Ergibt der erste Wahlgang keine absolute Mehrheit, erfolgt eine Stichwahl
zwischen den zwei Kandidaten, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen
erhalten haben (Art.60 B–VG). (Also die beabsichtigte Wahl im 2. Wahlgang durch
Nationalrat, Ständerat und Mitglieder der Bundesregierung wurde nicht
umgesetzt.)
b) Er erhält das Recht, den Nationalrat aufzulösen – jedoch nur einmal aus dem
gleichen Anlaß. Die Neuwahl ist in diesem Fall von der Bundesregierung so
anzuordnen, daß der neugewählte Nationalrat längstens am hundertsten Tag nach
seiner Auflösung zusammentreten kann (Art.29 B–VG). (Also wurde die Regelung
des Entwurfs, wonach es dem Bundespräsidenten anheim gestellt werden sollte,
bei besonderen Verhältnissen nach Auflösung des Nationalrates zu bestimmen,
wann eine Neuwahl stattzufinden habe, nicht durchgesetzt.)
c) Ihm wurde ein Notverordnungsrecht zugestanden, jedoch nur zu einer Zeit, in
der der Nationalrat nicht versammelt war und nicht rechtzeitig zusammen treten
konnte. Jedoch nur auf Vorschlag der Bundesregierung, die aber ihren Vorschlag
ausschließlich im Einvernahme mit dem vom Hauptausschuß des Nationalrats
einzusetzenden ständigen Unterausschuß erstatten durfte (Art.18 B–VG). (Also keine
Notverordnungen, wenn der Nationalrat versammelt ist oder eine Gesetzesvorlage
bereits im Nationalrat eingebracht war.)
Von den Notverordnungen waren insbesondere ausgenommen: Arbeitsrecht, Arbeiter–
und Angestelltenschutz, Sozial– und Vertragsversicherungswesen, Kammer für
Arbeiter und Angestellte, Koalitionsrecht und Mieterschutz.
d) Er erhielt, anstelle des Nationalrates, die Befugnis, die Bundesregierung zu
ernennen. Aber die Bundesregierung ist auf das Vertrauen des Nationalrates
angewiesen. Versagt der Nationalrat der Bundesregierung oder einzelnen ihrer
Mitglieder das Vertrauen, so ist die Bundesregierung oder der betreffende
Bundesminister zu entheben. Das Ernennungsrecht ist also nichts mehr als eine
Formalität (Art.70 B–VG).
2. Das im Entwurf geforderte Recht zur Verhängung des Ausnahmezustandes wurde
vom Nationalrat verworfen, desgleichen die beabsichtigte Wiedereinführung der
Zensur.
3. Dem Nationalrat wurde jedoch das ihm vom B–VG 1920 erteilte Verfügungsrecht
über das Bundesheer entzogen. (Art.80 B–VG).
4. Die bisherige Regelung, nach der der Nationalrat in Permanenz tagte, wurde
abgeändert und die Tagungen in Sessionen geteilt, allerdings Beginn und Ende
limitiert.
Die Forderung, wonach der Bundespräsident die Tagungen des Nationalrates hätte
für geschlossen erklären können fiel durch. Diese Demütigung des Nationalrates
wurde nicht Gesetz. Der Bundespräsident kann nur auf Beschluß des
Nationalrates die Tagung für beendet erklären. (Art.28 B– VG).
5. Der Entwurf sah vor, der Polizei ein Notverordnungsrecht einzuräumen. Sie
sollte unter gewissen Voraussetzungen Anordnungen auch ohne gesetzliche
Vorschriften treffen können.
Mit der Novelle erhielten die Sicherheitsbehörden nur das Recht, zum Schutze
der gefährdeten körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums
innerhalb ihres Wirkungskreises die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen
Anordnungen zu treffen und deren Nichtbefolgung als Verwaltungsübertretungen
zur erklären. Diese Anordnungen dürfen nicht gegen bestehende gesetzliche Vorschrift
verstoßen. (Art.18 i.V. mit Art.118(6) B–VG, Art II §4(2)
Verf.Überleitungsgesetz v. 7.12.29.)
6. Der Bundesrat sollte nach der Regierungsvorlage durch den Länderrat und
Ständerat ersezt werden, in dem jedes Bundesland zwei Vertreter – immer den Landeshauptmann
und den Finanzreferenten entsenden sollte, so daß Wien nicht mehr Vertreter
gehabt hätte, als Vorarlberg. Diese Änderungen wurden abgelehnt. Die bisherige
Regelung blieb aufrecht.
Die Bundesländer sind im Bundesrat im Verhältnis zu ihrer Bürgerzahl vertreten.
Danach erhielt Wien 12, NÖ. 10, Steiermark 7., OÖ. 6, Kärnten, Tirol,
Vorarlberg und Burgenland je 3 Mitglieder. Die Mitglieder werden vom Landtag
nach dem Grundsatz der Verhältniswahl gewählt und wenigstens ein Mandat muß der
Partei zufallen, die die zweithöchste Anzahl von Sitzen im Landtag hat. (Art.34
B–VG)
Das Vorhaben, die Opposition aus den Gemeindevertretungen kleiner Gemeinden zu
verdrängen, mißlang. Es galt weiter das Verhältniswahlrecht, wonach im
Gemeinderat vertretende Wahlparteien nach Maßgabe ihrer Stärke auf Vertretung
im Gemeindevorstand Anspruch haben. (Art.117 (5) B–VG).
7. Die Absicht, Wien als Bundesland zu köpfen, mißlang vollkommen. Es gab nur
zwei Änderungen. In Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung, in jenen
also, die der Bürgermeister als Beauftragter des Bundes besorgt, endet der
Instanzenzug nicht beim Landeshauptmann, sondern beim Bundesminister. Auch
wurden als Rechtsmittelinstanz Kollegialbehörden geschaffen, wobei es Sache der
Gemeinde Wien war, diese Kollegialbehörde zu bestimmen. (Art. 109 in V. mit
Art.102 B–VG)
8. Die Verfassungsreform hielt die bisherige Bestimmung aufrecht, wonach
Änderungen im Schulwesen nur durch übereinstimmende Gesetze des Bundes und der
Länder verfügt werden können. Es blieb daher der Zustand, soweit es sich um
Volks– und Hauptschulen handelt, unverändert aufrecht. Die Mittelschulen wurden
jedoch in der Gesetzgebung dem Bund allein unterstellt. (Art.14 B–VG) Aufrecht
blieben das Verhältnis von Schule und Kirche und die Schulaufsichtsgesetze, die
die Rechte zwischen Orts–, Bezirks– und Landesschulräte – in Wien des
Stadtschulrates – regeln.
9. Nach der Regierungsvorlage hätte das ganze Budgetrecht des Nationalrates
illusorisch gemacht werden können. Die Novelle traf aber die Regelung, daß,
wenn der Bundesvoranschlag nicht vor Ablauf des Finanzjahres verfassungsmäßig
genehmigt ist, ein Budgetprovisorium gemacht werden muß. (Art.51 B–VG)
10. Die Beseitigung der Geschworenengerichte wurde nicht Gesetz. Die bisherige
Regelung blieb aufrecht. (Art.91 B–VG)
11. Die Rechte des Nationalrates inbezug auf den Verfassungsgerichtshof wurden
erheblich geschmälert. Die Zusammensetzung des VfGH erfolgte folgendermaßen:
Präsident und Vizepräsident ernennt der Bundespräsident auf Vorschlag der
Bundesregierung. Weiters ernennt er auf Vorschlag der Bundesregierung sechs
Mitglieder (und die Ersatzmitglieder), die jedoch nicht aus dem Kreise der
Richter und Verwaltungsbeamten und Professoren an den juristischen Fakultäten
der Universitäten ernannt werden. Sechs Mitglieder (und drei Ersatz) schlägt
das Parlament vor (Hälfte Nationalrat, Hälfte Bundesrat). (Art.147 B–VG)
Resumeé
Durch die Novelle wurde die Vormachtstellung des Parlamentes beseitigt, die
Gewaltentrennung durchgesetzt, die in Händen der Reaktion befindliche Exekutive
gestärkt und Österreich in eine abgeschwächte Präsidentschaftsrepublik
umgewandelt. Die Sozialdemokratie rechtfertigte ihre Zustimmung zur
Verfassungsreform mit der Begründung, dadurch einen Bürgerkrieg vereitelt und
darüberhinaus dem österreichischen Bürgertum gelehrt zu haben, daß es klüger
daran täte, die Rechte der Arbeiter und Angestellten anzuerkennen und sich mit
der Machtstellung. die sich die Arbeiterklasse in jahrelange Kämpfen erstritten
hat, abzufinden. Die SDAP habe in Sorge um die Republik, aus
Verantwortungsgefühl für die österreichische Volkswirtschaft und in der
Überzeugung gehandelt, daß, wer immer in einem Bürgerkrieg gesiegt hätte, einen
Sieg auf einen Trümmerfeld erreicht hätte, auf dem das Schicksal der Arbeiterklasse
für viele Jahre ein gesteigertes Elend gewesen wäre./47/
Trotz der revolutionären Tradition der österreichischen Arbeiterbewegung und
ihrer unbestreitbaren Erfolge, war die sozialdemokratische Partei seit 1905
sukzessiv vor der Reaktion zurückgewichen. Insbesonders „der 15. Juli 1927 gab
der Reaktion die Gewißheit, daß die Führung der sozialdemokratischen Partei die
große Macht und Kampfkraft der Arbeiterklasse, trotz aller programmatischer
Worte, nicht einsetzen würde. Der 15. Juli entmutigte die Arbeiter und
erschütterte das Vertrauen in die eigene Kraft. Von nun an begann der offene,
direkte Vormarsch des Austrofaschismus, der 1934 die Demokratie in Österreich
zerschlug.“/48/
Die am 24. November 1929 abgehaltene Reichskonferenz der SDAP hatte in ihrer
Resolution Robert Danneberg die ausdrückliche Weisung erteilt, einer
Verfassungsreform nur zuzustimmen, wenn ihre in 15 Punkte aufgelisteten
Forderungen durchgesetzt würden. Eine dieser Forderungen war: Beseitigung des
kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz aus 1917. Die sozialdemokratische
Verhandlungsdelegation unter Führung Dannebergs hielt sich nicht an die
Weisungen und verzichtete auf Beseitigung dieses Gesetzes.
1934 benützte die Bundesregierung dieses kriegswirtschaftliche Ermächtigunsgesetz
zur Beseitigung der Demokratie und, gestützt auf die päpstliche Enzyklika
Quadragesimo Anno, zur Errichtung des austrofaschistischen Ständestaates.
Anmerkungen:
1/ Art.1 Bundesverfassungsgesetz
2/ Adamovich, Österreichisches Verfassungsrecht, 4. Auflage, S. 62
3/ Hans Kelsen: Demokratie und Sozialismus, Hg. Norbert Leser, S. 18f.
4/ Ebenda
5/ Adamovich, ebda
6/ Ebenda
7/ Jean Bruhat, Jean Fautry, Emile Tersen, Die Pariser Kommune von 1871, Berlin
1971.
8/ Adamovich, a.a.O. S. 64.
9/ Hans Kelsen, Die Organisation der vollziehenden Gewalt Deutschösterreichs,
Zeitschrift für Öffentliches Recht (ZÖR), 1/1929
10/ Hans Kelsen, ebda.
11/ Adamovich, a.a.O., S. 65
12/ Manfred Scheuch, Österreich in 20. Jahrhundert, in: „Der Standard“, 8.
Mai1999
13/ KPÖ Beiträge zu ihrer Geschichte und Politik, Wien 1987, S. 42.
14/ Ebenda, S. 57.
15/ Manfred Scheuch, a.a.O.
16/ KPÖ, Beiträge... .a.a.O., S. 58 f.
17/ Otto Bauer, Werksausgabe Bd. 5, Wien 1978, S. 214f
18/ Manfred Scheuch, Österreich im 20. Jahrhundert, in: „Der Standard“, 29. Mai
1999
19/ Julius Deutsch. Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, 3.
ergänzte Auflage, S. 79f
20/ Manfred Scheuch, Österreich im 20. Jahrhundert, a.a.O.
21/ Hans Hautmann, Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom
Vormärz bis 1945, Wien 1974, S. 142f
22/ KPÖ, Beiträge.... a.a.O. S. 149f
23/ Deutsch, Arbeiterbewegung ...a.a.O., S. 80f
24/ KPÖ, Beiträge...a.a.O., S. 78 f.
25/ Deusch, Arbeiterbewegung, a.a.O., S. 83f
26/ KPÖ, Beiträge, a.a.O., S. 106
27/ Klaus Berchtold, Wilhem Braumüller, Die Verfassungsreform 1929, Dokumente
und Materialien zur Bundesverfassungsgesetz-Novelle von 1929, Teil I, S. 3f
28/ Ebenda, S. 6
29/ Ebenda, S. 9
30/ Hans Kelsen, Die Verfassungsreform, JB1, Nr. 21/1929, S. 457
31/ Hans Kelsen, Die Verfassungsreform, JB1, Nr. 21/1929
32/ Ebenda
33/ „Arbeiter-Zeitung“, 7. Dezember 1929
34/ Hans Kelsen, a.a.O.
35/ Klaus Berchtold, Wilhelm Braumüller, a.a.O., S.17
36/ Adolf Merkl, Der rechtliche Gehalt der österreichischen Verfassungreform
vom 7. Dezember 1929, ZÖR, Band X, 1930. S. 175
37/ Hans Kelsen, a.a.O., S. 451
38/ ebda.
39/ „Arbeiter-Zeitung“, 19. Oktober 1929
40/ „Die Rote Fahne“, 16. Oktober 1929
41/ „Die Rote Fahne“, 15. Oktober 1929
42/ a.a.O.
43/ Kaudinisches Joch: Ein von den Samniten aus Speeren gebildetes Joch durch
das das römische Heer nach seiner Niederlage am kaudinischen Paß 321 v.u.Z.,
waffenlos durchschreiten mußte. Danach Bezeichnung für schimpfliche Demütigung.
44/ „Arbeiter-Zeitung“, 30.10.1929
45/ „Arbeiter-Zeitung“, 25.11.1929
46/ „Arbeiter-Zeitung“, 20.11.1929
47/ „Arbeiter-Zeitung“, 12.12.1929
48/ Hans Hautmann, Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom
Vormärz bis 1945, Wien 1974, S. 153
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3 & 4/1999
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