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Die „Nationale Frage in Österreich“
„Die Auffassung, daß
das österreichische Volk ein Teil der deutschen Nation ist, ist theoretisch
unbegründet. Eine Einheit der deutschen Nation, in der auch die Österreicher
miteinbezogen sind, hat es bisher nie gegeben und gibt es auch heute nicht. Das
österreichische Volk hat unter anderen wirtschaftlichen und politischen
Lebensbedingungen gelebt als die übrigen Deutschen im Reich und daher eine
andere nationale Entwicklung genommen. Wie weit bei ihm der Prozeß der
Herausbildung zu einer besonderen Nation fortgeschritten ist bzw. wie eng noch
die nationalen Bindungen aus der gemeinsamen Abstammung und gemeinsamen Sprache
sind, kann nur eine konkrete Untersuchung seiner Geschichte ergeben.“
Rudolf (d.i. Alfred Klahr): Zur nationalen Frage in Österreich; in: Weg und
Ziel, 2. Jahrgang (1937), Nr. 3
Seit 1936 wurde von der in
Prag agierenden Parteiführung intensiv die Frage diskutiert, ob es sich bei den
Österreichern nicht um eine eigene Nation handle. Alfred Klahr wurde vom
Polbüro beauftragt, sich mit dieser Frage wissenschaftlich auseinanderzusetzen.
In der Märznummer der theoretischen Zeitschrift der KPÖ „Weg und Ziel“ legte er
unter dem Pseudonym „Rudolf“ 1937 der Öffentlichkeit das Ergebnis seiner Untersuchungen
vor. Das theoretische Instrumentarium seiner Analyse entnahm er der von Josef
Stalin 1912 in Wien verfassten Broschüre „Marxismus und nationale Frage“. Auch
wenn die darin enthaltene Definition der Nation als „historisch entstandene,
stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der
Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich
in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart“ der
ganzen Komplexität der nationalen Beziehungen nicht gerecht wurde, so bedeutete
sie einen enormen Fortschritt gegenüber anderen als „marxistisch“ bezeichneten
Nationsauffassungen.
Der für die Diskussion der
nationalen Frage in Österreich produktivste Hinweis Stalins war, dass er - im
Gegensatz zu Otto Bauer, der sich ebenfalls auf die marxistischen Klassiker
berief - den schon im „Kommunistischen Manifest“ angesprochenen Zusammenhang
zwischen der Durchsetzung des Kapitalismus und der Entstehung der bürgerlichen
Nationen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte.
Die Entwicklung in Österreich
selbst hielt Alfred Klahr für noch nicht abgeschlossen, da ein Großteil der
Österreicher sich ihrer nationalen Identität noch nicht bewusst war. Unter den
damaligen politischen Verhältnissen war es klar, dass die staatliche
Unabhängigkeit Österreichs im Interesse des Friedens in Europa unbedingt
erhalten werden muss. Doch muss man deshalb auch für die nationale Unabhängigkeit
Österreichs eintreten? Es sei „ganz falsch, weil ganz formalistisch“
schrieb Klahr, „diese zwei Begriffe, die inhaltlich aufs engste miteinander
verquickt sind, einander gegenüberzustellen“.
Nicht nur der Kampf um die
Erringung, auch der Kampf um die Aufrechterhaltung der politischen
Unabhängigkeit sei ein nationaler Kampf. Nachdem er sich ausführlich mit allen
Gesichtspunkten der nationalen Frage unter österreichischen Bedingungen und mit
der geschichtlichen Entwicklung des österreichischen Volkes seit 1848
auseinandergesetzt hat, kommt er zu folgender Schlussfolgerung: „Die
theoretische und historische Untersuchung der nationalen Frage in Österreich
zeigt, dass die Scheidung des österreichischen Volkes vom übrigen Deutschland,
die in der ganzen Periode seiner kapitalistischen Entwicklung bestand, und das
Eigenleben unter besonderen Verhältnissen ... seine Entwicklung zu einer
besonderen Nation hervorrief.“ Zugleich räumt Klahr ein, „die Eigenart
dieser nationalen Entwicklung besteht aber in jenem historischen Widerstreit
zweier nationaler Richtungen, der österreichischen und der deutschen
Orientierung, im übrigen österreichischen Volk.“ Damit hat Klahr auch die
aktuellen Aufgaben der demokratischen Bewegung in Österreich umrissen:
Antifaschismus konnte in der gegenwärtigen Situation nur Entfaltung eines
nationalen Abwehrkampfes gegen die hitlerdeutschen Eroberungsabsichten heißen.
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