Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung Drechslergasse 42, A–1140 Wien Tel.: (+43–1) 982 10 86, E-Mail: klahr.gesellschaft@aon.at
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Hans Hautmann: Die ökonomische, soziale und politische Lage der österreichischen Industriearbeiter im Ersten WeltkriegDer Jännerstreik des Jahres 1918 war seiner Zielsetzung nach ein politischer Streik, eine Bewegung, um den Krieg zu beenden und den Frieden zu erkämpfen. Für seinen Ausbruch sind aber nicht nur politische Motive verantwortlich gewesen. Dass er eine derart gewaltige Dimension, Geschlossenheit und Durchschlagskraft annahm, beruhte auf objektiven und subjektiven Voraussetzungen. Die objektiven Bedingungen für den Jännerstreik sind wiederum nicht zu verstehen ohne das, was 1914 begann, sich im Laufe des Krieges kumulierte und die tagtäglichen Lebensumstände der österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter bestimmte. Diese Aspekte ökonomisch-materieller, sozialer und rechtlicher Natur möchte ich behandeln, um Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, unter welchen Verhältnissen die industrielle Arbeiterschaft Österreichs im ersten Weltkrieg ihre Existenz fristen musste. Die Kürze der zur Verfügung stehenden Redezeit legt es mir auf, den Gesamtkomplex lediglich in Form einiger markanter Streiflichter zu erhellen und mich auf jene Erscheinungen zu konzentrieren, die die arbeitenden Menschen am stärksten tangierten, am meisten empörten und schließlich im Jänner 1918 dazu führten, gegen sie massenhaft aufzustehen. I. Kriege bringen es in der Regel mit sich, dass für die Volksmassen eine
Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen eintritt, ganz im Unterschied zu jenen,
die - im Besitz der Produktionsmittel und die Kommandohöhen der Wirtschaft
beherrschend - in solchen Zeiten märchenhafte Gewinne einstreifen. So war es
auch in den Jahren 1914 bis 1918. Gemessen am Niveau der letzten Vorkriegsjahre
war der Abfall des Lebensstandards der arbeitenden Menschen unter allen
kriegführenden Mächten am stärksten in Österreich-Ungarn, und hier wiederum in
der österreichischen Reichshälfte. Es trat eine richtiggehende Verelendung ein,
eine, wie sie die österreichische Arbeiterschaft bis dahin nicht gekannt hatte. II. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs hatte auf die Lebensumstände der
österreichischen Arbeiterschaft sofortige, radikal negative Auswirkungen. So
wurden beispielsweise die gesetzlichen Bestimmungen über die Sonn- und
Feiertagsruhe eliminiert, die Arbeitszeit in kriegswirtschaftlich wichtigen
Betrieben auf bis zu 13 Stunden täglich verlängert und die Nachtarbeit von
Frauen und Jugendlichen, seit 1885 verboten, wieder obligat. III. Betrachten wir nun einige Elemente der Lage der Arbeiter und beginnen wir mit
den Preisen und Löhnen. Die Preise der wichtigsten Bedarfsgüter waren seit 1915
über Höchstpreisverordnungen geregelt, die bis 1918 eine Steigerung von 300 bis
1000 Prozent erfuhren. Nur zu oft waren aber diese Güter in den Läden gar nicht
erhältlich, sodass man auf den Schleichhandelskauf ausweichen musste. Die
Schleichhandelspreise lagen hingegen durchgehend über der
1000-Prozent-Steigerungsmarke. IV. Der Reallohn ist für die Bestimmung des Lebensniveaus ein wichtiger, keineswegs aber der einzig ausschlaggebende Maßstab. Ein kaum weniger bedeutsames Element ist die Arbeitszeit. Sie betrug vor dem ersten Weltkrieg täglich zwischen 9 und 11 Stunden, in der Woche - da auch an Samstagen meist voll gearbeitet wurde - zwischen 54 und 66 Stunden. In den Kriegsjahren war in den militarisierten Betrieben ein 13stündiger Arbeitstag die Regel, ja noch darüber hinaus. Wir wissen z.B., dass 1916/17 in der Munitionsfabrik Hirtenberg sowie im Krupp-Metallwerk Berndorf Frauen 14 bis 16 Stunden täglich arbeiteten, dass sie damit sogar Überstunden leisteten, um die notwendige Aufbesserung des Lohnes zu erreichen. (Die Frauenlöhne lagen im Schnitt bei 50 bis 60 Prozent der Männerlöhne.) V. Ein weiterer Indikator der Verschlechterung der objektiven Lage war die beträchtlich Zunahme der Unfälle am Arbeitsplatz. Unfallfördernd wirkten die Außerkraftsetzung einer Reihe von Schutzbestimmungen zu Beginn des Krieges, die Einbeziehung einer großen Zahl von ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter in die Betriebe, die mit dem Arbeitsablauf nicht vertraut waren, und die aus Lebensmittelmangel sowie steigender Arbeitsintensität resultierende physische und psychische Überlastung. Vor allem die tödlichen Unfälle wuchsen ab 1916 rapide an. Ich erinnere hier nur an die beiden entsetzlichen Explosionskatastrophen vom 17.Juli 1917 in der Pulverfabrik Blumau-Großmittel mit weit über 100 Toten und vom 18. September 1918 in der Munitionsfabrik Wöllersdorf, bei der 382 Menschen, in der Mehrheit ganz junge Arbeiterinnen, starben. VI. Die genannten Faktoren führten zu einer krassen Erhöhung der Krankheitsanfälligkeit und damit zu einer stetigen Verschlechterung der Volksgesundheit. Die klassische Proletarierkrankheit, die Tuberkulose, sowie Infektionskrankheiten wie Ruhr und Grippe griffen sprunghaft um sich. Unvergessen ist bis heute die verheerende Epidemie der Spanischen Grippe im Jahr 1918, der Tausende Menschen zum Opfer fielen. Es traten aber auch Krankheiten auf, die man schon seit langem ausgerottet wähnte, etwa das Hungerödem, hervorgerufen durch die mangelhafte Ernährung. VII. In dem Zusammenhang soll auch auf die Situation der arbeitenden Frauen im
ersten Weltkrieg kurz eingegangen werden. Ihre Zahl stieg von 1914 bis 1918
steil an und ging in die Hunderttausende. Der Großteil war in
metallverarbeitenden und maschinenerzeugenden Betrieben beschäftigt, in denen
sich der Anteil der Frauenarbeit verdoppelte. In den Munitions- und
Pulverfabriken von Hirtenberg, Wöllersdorf und Blumau bestand 1917/18 die
Belegschaft zu 45 Prozent aus Frauen. Viele sahen sich überdies zur freiwilligen
Nachtarbeit gezwungen, um tagsüber die Kinder betreuen zu können. Die
Leistungen, die sie erbrachten - wie gesagt für Löhne, die oft nur die Hälfte
der Männerlöhne ausmachten -, aber auch die Belastungen, die sie auf sich nehmen
mussten, waren ungeheuerlich. VIII. Damit komme ich zum zweiten Faktor, zum Ernährungsproblem. Es ist sicher,
dass für jeden einfachen Österreicher und werktätigen Menschen, der den ersten
Weltkrieg im Hinterland erlebte, der Nahrungsmittelmangel, das stundenlange und
oft erfolglose Anstellen vor den Lebensmittelgeschäften, das Kartensystem, die
Quotenkürzungen, die Teuerung aller Grundnahrungsmittel, die Hamsterfahrten und
der Genuss oft ekelhafter Surrogate der unvergesslichste Eindruck war. Diese
Notsituation wurde zur stärksten Triebfeder für die großen Massenbewegungen und
Klassenkämpfe der österreichischen Arbeiter in den letzten beiden Kriegsjahren. Über die Güterknappheit und die Sorge ums tägliche Brot hinaus wirkte aber
die Unfähigkeit der staatlichen Behörden, Abhilfe zu schaffen und ein halbwegs
gerechtes Verteilungssystem durchzusetzen, maßlos aufreizend. Die
vielbeschworene "Gleichheit der Opfer" war unter den Bedingungen des sich aus
der Notsituation logisch und spontan herausbildenden schwarzen Marktes nicht zu
erreichen, der wiederum es selbst in den beiden schlimmsten Hungerjahren 1917
und 1918 wenigen Begüterten möglich machte, Waren in beliebiger Menge zu
erwerben. Wer Geld, oder besser noch Wertsachen besaß, konnte sich über den
Schleichhandel auch dann noch jederzeit nicht nur gut, sondern sogar reichlich
versorgen. Die skrupellosen Nutznießer des Gütermangels, Warenhorter und
-verheimlicher, Spekulanten, Schieber, Schleich- und Kettenhändler, tummelten
sich ungeniert in den Nachtlokalen und Privilegierten wie den Offizieren wurden
in den Kasinos bis zum letzten Tag des Krieges die besten Speisen aufgetischt. IX. Die Streikwelle des Jahres 1917 hat übrigens hier im Wiener Neustädter
Industriegebiet begonnen, im Jänner bei Brevillier & Urban in Neunkirchen und in
den Schoeller-Werken in Ternitz. Das war kein Zufall, denn hier befand sich
neben Wien, der Obersteiermark und den Zentren in Böhmen die dichteste
Zusammenballung an großen Industrie- und Rüstungsbetrieben und eine seit jeher
traditionell kämpferische, klassenbewusste Arbeiterschaft. Sie hat bei den
Streiks im ersten Weltkrieg im echtesten Sinne des Wortes als Avantgarde
fungiert. X. Am Ende meines Referats möchte ich aus einem Dokument zitieren, um Ihnen zu illustrieren, wie sich das österreichische Unternehmertum im ersten Weltkrieg zur "Arbeiterfrage" verhielt. Es handelt sich um das Protokoll einer Sitzung des Eisenwirtschaftsrates vom 30. Oktober 1917, bei der alle Mächtigen vertreten waren: Kestranek als Generaldirektor der Prager Eisenindustriegesellschaft, Rothballer als Generaldirektor der Alpine-Montan, Günther als Generaldirektor der Österreichischen Berg- und Eisenhüttenwerke, Sonnenschein als Generaldirektor der Witkowitzer Bergbau- und Eisenhüttenwerke sowie noch einige andere. Die Namen tun nichts zur Sache. Es geht hier um Typen, um Vertreter eines Standes, deren Interessen und Bestrebungen über die Zeiten hinweg unverwandt dieselben bleiben. Einige ihrer Äußerungen werden uns deshalb auch frappant an das erinnern, was heute so gesagt wird und geschieht. Da die Herren unter sich waren, brauchten sie sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen, was uns Gelegenheit bietet, ihre wahre Denkweise kennen zu lernen. Kestranek: "Lohnerhöhungen lähmen den Tätigkeitsdrang der Arbeiter, da sie wesentlich mehr verdienen, als sie brauchen." Am Rückgang der Arbeitsleistungen im Bergbau sei nicht die Unterernährung schuld, sondern es "fehle am Leistungswillen". Sonnenschein: Dem Ansteigen der Krankmeldungen der Arbeiter müsse man dadurch begegnen, dass ab sofort Militärärzte nach "entsprechender Instruierung die Marodenvisiten" durchführen. Besonders kritisiert wurde, dass die kaiserliche Regierung seit Frühjahr 1917 auf Beschwichtigungskurs segelte und nun ein "Geist der Milde" in der Zivilverwaltung herrsche. Kestranek: "Nach einem Streik sind auf Order der Kabinettskanzlei sofort Nahrungsmittel eingelangt, sodass gewissermaßen Ernährungsprämien für den Streik gegeben worden sind." Günther bedauert, dass man die Standrechtspläne so schnell wieder aufgegeben habe und dass man bei Streiks vom Militärstrafgesetzbuch so selten Gebrauch mache: "Den Bergarbeitern muss wieder Respekt vor den Vorgesetzten beigebracht werden." Rothballer: Die Möglichkeit der militärischen Leiter, Arreststrafen zu verhängen, genüge nicht mehr. Kestranek: "Es müssen Exempel statuiert werden." Sonnenschein: Die Arbeiter seien ohne Patriotismus und zum großen Teil eine "disziplinlose Horde". Man müsse sie "wie Fahnenflüchtige behandeln." XI. Betrachtet man diese Äußerungen, dann wird klar, wer den Krieg nach innen im August 1914 eröffnete, um die damals wie heute normale Politik des Großkapitals, eine Politik zur Herbeiführung niedriger Löhne und maximaler Profite durchzusetzen. Wenn sich die österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter im großen Jännerstreik 1918 dagegen energisch zur Wehr setzten, dann war das nur allzu berechtigt. Gedenken wir deshalb heute, achtzig Jahre danach, jener hunderttausenden einfachen Männer und Frauen, die damals aufstanden, um gegen Imperialismus und Krieg, gegen Kujonierung und Ausbeutung, gegen Elend und Hunger, für den Frieden, Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Leben zu kämpfen. Referat auf dem Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft zum Jännerstreik 1918 am 17. Jänner 1998 in Wiener Neustadt |
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