Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung Drechslergasse 42, A–1140 Wien Tel.: (+43–1) 982 10 86, E-Mail: klahr.gesellschaft@aon.at
|
|
Hans Hautmann: „Alles, was Produktionsmittel ist, muss den Arbeitern gehören“. Klassenkräfte und Klassenkämpfe in der österreichischen Revolution 1917–1920Es war am 1. März 1919, als auf der 1. Reichkonferenz der Arbeiterräte
Deutschösterreichs im Arbeiterheim Favoriten ein Delegierter die Rednerbühne
betrat und sagte: „Die Massen fühlen, dass sie zu viel gelitten haben, sie
wollen die Sozialisierung, die rasche und die volle Sozialisierung. Alles was
Produktionsmittel ist, muss den Arbeitern gehören.“ Der das aussprach, der
Arbeiterrat Heinrich Ferencz aus Wien-Hietzing, war ein Sozialdemokrat. Und er
blieb nicht vereinzelt. Andere sozialdemokratische Delegierte nahmen Worte in
den Mund wie „Gemeinsamer Kampf für den Sozialismus“, „Diktatur des
Proletariats“ und dass sich „heute jeder Arbeiter frage: ‘Sollst du weiter für
den Kapitalisten arbeiten?’“ Und sogar ein Karl Seitz als Sprecher des
sozialdemokratischen Parteivorstandes führte, wörtlich zitiert, aus: „Wir stehen
heute einem allgemeinen Drängen der Arbeiterschaft nach Änderung des Bestehenden
gegenüber... Es entspringt der Stimmung der großen Volksmassen, nicht nur der
Industriearbeiter; es geht weit hinein in Schichten, die man bisher zur
Bourgeoisie gerechnet hat, und in die Träger neuer politischer Kraft, der
Frauen. Sie alle wollen, dass die Sozialdemokratie gründlich aufräume und Neues
an die Stelle des Alten setze.“ I Um die Frage nach den Gründen beantworten zu können, genügt es nicht, die
österreichische Revolution der Jahre 1917 bis 1920 als Einzelphänomen unter die
Lupe zu nehmen. Der Blick muss sich ausweiten auf die letzten fünfhundert Jahre
unserer Geschichte und auf das, was sich in diesen fünf Jahrhunderten an
sozialrevolutionären Bewegungen ereignete. II 1848 und 1918 waren in Österreich Revolutionen bürgerlich-demokratischen
Charakters. Darin liegt das Gemeinsame beider Ereignisse. Gemeinsam war ihnen
aber auch das Steckenbleiben in Unzulänglichkeiten und Halbheiten. Jedoch auch
das ist ein Merkmal bürgerlicher Revolutionen, weil keine von ihnen –
ausgenommen die französische, und auch die nur in der Periode der
Jakobinerdiktatur – jemals bis an ihr Ende gegangen ist, bei der Vernichtung der
Überreste des alten Zeit entschieden und schonungslos war. Bürgerliche
Revolutionen setzen sich von Haus aus begrenzte Ziele. Anders als sozialistische
werfen sie nicht die gesamte soziale Ordnung um, weil die Unantastbarkeit des
Privateigentums für sie das große Schibboleth bleibt. Sie beschränkt sich
deshalb darauf, die politische Herrschaftsstruktur neuen Notwendigkeiten und
Bedürfnissen anzupassen, der längst schon ökonomisch dominierenden Bourgeoisie
nun auch die politische Verfügung über die Staatsmacht zu übertragen. III Die österreichische Revolution war ein prozesshaftes Geschehen, das sich
nicht auf den November 1918, die Ausrufung der Republik, reduzieren lässt. Es
war eine dreieinhalbjährige Periode heftigster Klassenkämpfe, sich äußernd in
Streiks, Massenbewegungen, Demonstrationen, Hungerrevolten und bewaffneten
Auseinandersetzungen. Die Höhepunkte der Massenaktivitäten waren IV Welche politischen Veränderungen hat die österreichische Revolution gebracht? Das zentrale Ergebnis war der Sturz des monarchisch-obrigkeitsstaatlichen Systems und der Übergang zu einer sehr weitgehenden republikanischen, parlamentarisch-demokratischen Repräsentativverfassung. Bereits die Republikerklärung vom 12. November 1918 hat alle Gesetze, durch die dem Kaiser und den Mitgliedern des kaiserlichen Hauses Vorrechte zugestanden wurden, aufgehoben. Am 3. April 1919 folgte das Gesetz über die Landesverweisung des Hauses Habsburg-Lothringen, das die Herrscherrechte der Dynastie für immerwährende Zeiten in Österreich aufhob und den hofärarischen Besitz sowie das gebundene Familienvermögen in das Eigentum der Republik überführte. Am selben 3. April 1919 wurden die Vorrechte des Adels abgeschafft, die weltlichen Ritter- und Damenorden aufgehoben und die Führung von Adelsbezeichnungen, Titeln und Würden untersagt. Weiter: die kaiserlichen Statthaltereien als oberste Verwaltungsorgane in den Ländern wurden beseitigt; deren Befugnisse fielen in die Hand demokratisch gewählter Landesregierungen. Weiter: alle auf politischen Sonderrechten, Privilegien der Geburt und des Standes fußenden Körperschaften wurden aufgelöst; dazu gehörte das Herrenhaus, eine der beiden Kammern des alten österreichischen Parlaments. Weiter: das allgemeine, gleiche Wahlrecht nach dem Proportionalsystem wurde eingeführt. (In der Monarchie hatte ein Wahlrecht nach dem Mehrheitsprinzip geherrscht.) Weiter: die Einführung des Wahlrechts erstmals auch für Frauen. Weiter: die Einführung des allgemeinen Wahlrechts endlich auch für die Landtage und Gemeinderäte, denn im Unterschied zu den Reichsratswahlen blieb in der Monarchie auf Länder- und Gemeindeebene das nach Besitz und Vermögen gestaffelte Kurienwahlrecht bis 1918 bestehen. Weiter: alle bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte (Vereins-, Versammlungs-, Rede-, Pressefreiheit usw.) wurden wiederhergestellt und in demokratischer Weise erweitert. Schließlich: alle politischen Gefangenen (wegen Hochverrats, Majestätsbeleidigung, Störung der öffentlichen Ruhe usw. Verurteilte) wurden freigelassen und die gegen sie schwebenden Verfahren niedergeschlagen – stets einer der sichersten Zeichen eines realen und nicht bloß scheinbaren Kontinuitätsbruchs. V Welche sozialpolitischen Veränderungen hat die österreichische Revolution
gebracht? Noch tiefer gehende und so viele, dass ich nur die wichtigsten
aufzählen kann. Einige sind schon in der Monarchie unter dem Druck der Massen
Wirklichkeit geworden und in den Bestand der Republik übergegangen wie die
Verordnung über den Mieterschutz vom 26. Jänner 1917, die ein faktisches
Kündigungsverbot und den Mietzinsstopp brachte. Als Ergänzung dazu folgte 1919
die Wohnungsanforderung, wonach leer stehende Wohnungen, Zweitwohnungen und
Zimmer in Groß- und Luxuswohnungen, die nicht benützt wurden,
Wohnungsbedürftigen zugewiesen werden konnten, wenn nötig auch zwangsweise.
Weiter: die Einführung der staatlichen Arbeitslosenunterstützung bzw. das
Arbeitslosenversicherungsgesetz, etwas, was es in der Monarchie nicht gegeben
hatte. Weiter: das Gesetz über den achtstündigen Arbeitstag, eine Forderung, für
die die Arbeiter Jahrzehnte vergeblich gekämpft hatten. Weiter: die staatliche
Entschädigung für Kriegsinvalide, Kriegerwitwen und -waisen. Weiter: das
Betriebsrätegesetz, das Herzstück der damaligen Sozialgesetzgebung. Weiter: das
so genannte „Schlössergesetz“, wonach der Staat Paläste und Luxuswohngebäude
beschlagnahmen konnte, um in ihnen Sanatorien für Kriegsbeschädigte oder Heime
für hungernde Kinder einzurichten. Weiter: das Gesetz über den bezahlten Urlaub
für Arbeiterinnen und Arbeiter, etwas völlig Neues. Weiter: die Einführung der
Einigungsämter und die Regelung des Kollektivvertragsrechts, durch die die
Gewerkschaften erstmals vom Staat als Tarifpartner anerkannt wurden.
Schließlich: die Errichtung der Kammern für Arbeiter und Angestellte, ebenfalls
eine Forderung, für die die Arbeiterbewegung seit den siebziger Jahren des 19.
Jahrhunderts eingetreten war. VI Wie man sieht, handelt es sich hier um Veränderungen, die in Umfang, Inhalt
und Tiefe in der österreichischen Geschichte beispiellos dastehen. Und doch gibt
es nicht wenige Historiker, die den revolutionären Charakter dieser
Veränderungen bestreiten, ja rundweg verneinen. Und dennoch dominiert im
Geschichtsbewusstsein der großen Mehrheit der Österreicher über den November
1918 weiterhin das alte negative Klischee von der „Katastrophe“, vom
„Zusammenbruch“, vom „Chaos“, „Hunger“ und „Elend“, vom „Staat, den keiner
wollte“, vom „lebens- unfähigen Reststaat“, dessen Volk „seine Identität verlor“
usw., usf. Dass das so ist, hat zwei Gründe. VII Die Frage ist jetzt, warum es den zu einer grundlegenden Umgestaltung der
gesellschaftlichen Ordnung drängenden Arbeitermassen nicht gelang, ihre Sache
zum Sieg zu führen. Diese Frage schließt auch die nach der Rolle der
Kommunistischen Partei in der österreichischen Revolution ein und danach, warum
sie keinen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung nehmen konnte. Unter den
vielen Antworten, die man hier geben könnte, führe ich nur eine – meiner Meinung
nach aber entscheidende – Ursache an. VIII Wissen müssen hätten es allerdings die sozialdemokratischen Führer, denn ihnen war nicht unbekannt, dass Karl Marx in seinen Schriften die Frage der Macht als Schlüsselfrage jeder Revolution bezeichnet hat. Das politische Handeln der großen Sozialdemokratie hatte daher ein ganz anderes Gewicht als das der kleinen Kommunistischen Partei und muss daher auch anders bewertet werden. Wenn die Sozialdemokratie die Durchsetzung der bedeutenden demokratischen und sozialen Errungenschaften der österreichischen Revolution als Verdienst für sich beanspruchen durfte, so trug sie auf der anderen Seite aber auch die Hauptverantwortung für das, was 1918/19 unterlassen wurde und bekanntlich schwerwiegende Folgen zeitigte: einen 15.Juli 1927, einen 12.Februar 1934. Verabsäumt wurde, Schritte zu setzten, die geeignet waren, die bürgerliche parlamentarische Demokratie auf eine sicherere Grundlage zu stellen und die damals durchaus möglich gewesen wären: den Staatsapparat und die Verwaltungsbehörden zu erneuern, offen monarchistische und rechts orientierte Spitzenbeamte, Richter, Polizeiräte aus ihren Stellungen zu entlassen. Verabsäumt wurde, dafür zu sorgen, dass aus dem Bundesheer kein Instrument antidemokratischer Kräfte mehr werden konnte, wie es die Volkswehr von 1918 bis 1920 gewesen war. Verabsäumt wurde, die Macht des Industrie- und Finanzkapitals durch Sozialisierung der Grundstoff- und Großindustrie zu beschneiden. Verabsäumt wurde, den feudalen Großgrundbesitz zu enteignen, was die Chance geboten hätte, in die Phalanx der von den Christlichsozialen dominierten Bauernschaft einzubrechen. IX Dennoch: Wir haben mit der österreichischen Revolution eine Tradition unserer Geschichte vor uns, die wahrlich der Erinnerung wert ist. Denn sie zeigt uns, wie viel unter bestimmten Voraussetzungen möglich und erreichbar ist, wenn sich die arbeitenden Menschen der Tugenden des Kampfes besinnen, ihrer Kraft innewerden. Die österreichische Revolution der Jahre 1917 bis 1920 bietet auch heute ein Objekt der Identifikation für alle jene, denen wirkliche und nicht bloß geheuchelte Demokratie, denen Emanzipation vom Obrigkeitsdenken und vom blinden Vertrauen in Segnungen vom Himmel der politischen Machthaber, denen gesellschaftlicher Fortschritt auch und gerade im jetzt so spürbaren Gegenwind der „Sozialabbau“- und „Globalisierungs“-Proklamierer am Herzen liegen. Referat auf dem Symposium „1848 – 1918“ der Alfred Klahr Gesellschaft am 31. Oktober 1998. |
|