Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Hans Hautmann: „Alles, was Produktionsmittel ist, muss den Arbeitern gehören“. Klassenkräfte und Klassenkämpfe in der österreichischen Revolution 1917–1920

Es war am 1. März 1919, als auf der 1. Reichkonferenz der Arbeiterräte Deutschösterreichs im Arbeiterheim Favoriten ein Delegierter die Rednerbühne betrat und sagte: „Die Massen fühlen, dass sie zu viel gelitten haben, sie wollen die Sozialisierung, die rasche und die volle Sozialisierung. Alles was Produktionsmittel ist, muss den Arbeitern gehören.“ Der das aussprach, der Arbeiterrat Heinrich Ferencz aus Wien-Hietzing, war ein Sozialdemokrat. Und er blieb nicht vereinzelt. Andere sozialdemokratische Delegierte nahmen Worte in den Mund wie „Gemeinsamer Kampf für den Sozialismus“, „Diktatur des Proletariats“ und dass sich „heute jeder Arbeiter frage: ‘Sollst du weiter für den Kapitalisten arbeiten?’“ Und sogar ein Karl Seitz als Sprecher des sozialdemokratischen Parteivorstandes führte, wörtlich zitiert, aus: „Wir stehen heute einem allgemeinen Drängen der Arbeiterschaft nach Änderung des Bestehenden gegenüber... Es entspringt der Stimmung der großen Volksmassen, nicht nur der Industriearbeiter; es geht weit hinein in Schichten, die man bisher zur Bourgeoisie gerechnet hat, und in die Träger neuer politischer Kraft, der Frauen. Sie alle wollen, dass die Sozialdemokratie gründlich aufräume und Neues an die Stelle des Alten setze.“
Wir haben hier schlaglichtartig ein Bild der Atmosphäre vor uns, die die österreichische Revolution der Jahre 1917 bis 1920 prägte: vom Wunsch der Arbeitermassen und – über sie hinausgehend – beträchtlicher Teile anderer Sozialschichten, dem Zustand kapitalistischer Ordnung ein Ende zu bereiten und zum Sozialismus zu gelangen. Dennoch führte die Umwälzung jener Jahre keinen Sozialismus herbei, sondern hatte zum Resultat, dass sich an der ökonomischen Basis, den kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhälnissen, nichts änderte.

I

Um die Frage nach den Gründen beantworten zu können, genügt es nicht, die österreichische Revolution der Jahre 1917 bis 1920 als Einzelphänomen unter die Lupe zu nehmen. Der Blick muss sich ausweiten auf die letzten fünfhundert Jahre unserer Geschichte und auf das, was sich in diesen fünf Jahrhunderten an sozialrevolutionären Bewegungen ereignete.
Seit dem Bauernkrieg von 1525/26 hat Österreich einmal in jedem Jahrhundert entweder eine Revolution oder den Versuch revolutionärer Erhebungen erlebt. Die Stationen waren 1526, 1626 mit dem Bauernaufstand in Oberösterreich, 1793 mit der Jakobinerverschwörung, 1848 und 1917-1920. Was hier auffällt ist das Faktum, dass die revolutionären Knotenpunkte in Österreich völlig identisch mit den großen revolutionären Wellen im europäischen Maßstab verlaufen. Anders gesagt haben die Österreicher an allen europäischen Revolutionen der Neuzeit einen Anteil gehabt, der im Falle der Bauernkriege und der Revolutionsjahre 1848 und 1917/20 sogar beträchtlich war. Und unter den Trägern befanden sich so hervorragende Persönlichkeiten wie der Tiroler Michael Gaismair, „das einzige militärische Genie unter den Bauern“, wie Friedrich Engels ihn nannte und neben Thomas Müntzer jener Führer im großen deutschen Bauernkrieg, der egalitär-sozialistischer Programmatik am nächsten stand, sowie der Jakobiner Franz Hebenstreit von Streitenfeld, Platzoberleutnant in Wien und am 8. Jänner 1795 auf dem Glacis vor dem Schottentor öffentlich gehängt, der wegen seiner radikalen Anschauungen als „erster österreichischer Kommunist“ bezeichnet werden kann.
Die Periode von 1526 bis 1917/20 demonstriert meines Erachtens deutlich, dass erstens Revolution im eigentlichen Sinne des Wortes ein neuartiges, relativ junges historisches Phänomen ist, und dass zweitens der gesamte Zyklus mit der Epoche des Aufstiegs, Kampfes und Sieges des Bürgertums und bürgerlicher Herrschaft zusammenfällt. Wir haben es hier durchgehend mit Umwälzungen bürgerlich-demokratischen Charakters zu tun, wobei der Begriff „Charakter“ Antwort auf die Frage gibt, welches Resultat eine Revolution nach sich zieht, zu welcher Ordnung sie führt. Pointiert gesagt ist Revolution und revolutionäre Ideologie also keineswegs eine „Erfindung“ sozialistischer Denker, sondern ursprünglich eine Schöpfung des die politische Macht anstrebenden, ein höheres und progressiveres ökonomisch-soziales Prinzip verkörpernden Bürgertums, das es überdies verstand, für dieses Ziel die Volksmassen in Bewegung zu setzen.

II

1848 und 1918 waren in Österreich Revolutionen bürgerlich-demokratischen Charakters. Darin liegt das Gemeinsame beider Ereignisse. Gemeinsam war ihnen aber auch das Steckenbleiben in Unzulänglichkeiten und Halbheiten. Jedoch auch das ist ein Merkmal bürgerlicher Revolutionen, weil keine von ihnen – ausgenommen die französische, und auch die nur in der Periode der Jakobinerdiktatur – jemals bis an ihr Ende gegangen ist, bei der Vernichtung der Überreste des alten Zeit entschieden und schonungslos war. Bürgerliche Revolutionen setzen sich von Haus aus begrenzte Ziele. Anders als sozialistische werfen sie nicht die gesamte soziale Ordnung um, weil die Unantastbarkeit des Privateigentums für sie das große Schibboleth bleibt. Sie beschränkt sich deshalb darauf, die politische Herrschaftsstruktur neuen Notwendigkeiten und Bedürfnissen anzupassen, der längst schon ökonomisch dominierenden Bourgeoisie nun auch die politische Verfügung über die Staatsmacht zu übertragen.
Revolutionen werden aber nicht nur vom Charakter her bestimmt, sondern auch von ihren Triebkräften. Das hier Verbindende besteht darin, dass sowohl 1848 wie 1918 die vorwärtstreibenden Kräfte weit über das Bürgertum als Klasse hinausgingen und breite Sozialschichten aus der Masse des Volkes umfassten. Das Trennende und der entscheidende Unterschied zwischen 1848 und 1918 besteht hingegen darin, dass 1848 das Bürgertum zumindest in der Anfangsphase sehr wohl noch als Hegemon und Triebkraft fungierte, was in der Revolution von 1917/20 zu keinem Zeitpunkt mehr der Fall war. Hier war die Arbeiterklasse die Haupttriebkraft, die die Umwälzung in bedeutendem Maße mit proletarischen Mitteln und Methoden durchsetzte. Die Tatsache der enormen Mobilisierung und Politisierung der Volksmassen zwischen 1917 und 1920, ihres aktiven Eingreifens, hat allein schon den Vorgängen revolutionären Charakter verliehen und gleichsam im Vorbeigehen die Aufgaben einer bürgerlich-demokratischen Umwälzung gelöst. Das bürgerliche Lager hat nichts dazu beigetragen, vielmehr hat es die sozialdemokratischen Führer im November 1918 angefleht, „zu retten, was zu retten sei“, und die historische Mission der Festschreibung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse an sie delegiert, wohl wissend, dass diese dem Streben der Arbeiterschaft, über die Grenzen der bürgerlichen Revolution hinaus zu schreiten, ablehnend gegenüberstanden.

III

Die österreichische Revolution war ein prozesshaftes Geschehen, das sich nicht auf den November 1918, die Ausrufung der Republik, reduzieren lässt. Es war eine dreieinhalbjährige Periode heftigster Klassenkämpfe, sich äußernd in Streiks, Massenbewegungen, Demonstrationen, Hungerrevolten und bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Höhepunkte der Massenaktivitäten waren
1) das Frühjahr 1917, als im Gefolge eines entsetzlichen Hungerwinters der „Burgfriede“ in den Betrieben zerbrach und erstmals im Krieg Streiks aufflammten;
2) der Jänner/Februar 1918 mit dem gewaltigen, riesenhaften Streik der österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter und dem Matrosenaufstand von Cattaro;
3) der Mai/Juni 1918 mit den großen Meutereien in der kaiserlichen Armee und dem Streik der Wiener Metallarbeiter;
4) der November 1918 mit dem Wechsel von der Monarchie zur Republik;
5) das Frühjahr und der Sommer 1919, als in Österreich eine akut revolutionäre Nachkriegskrise herrschte; und
6) das Frühjahr 1920, das den letzten Aufschwung der Aktivitäten der Arbeitermassen in der österreichischen Revolution sah.
Wie bei den revolutionären Wellen im fünfhundertjährigen Makromaßstab kann auch an diesem Mikrokosmos in frappanter Weise abgelesen werden, dass die revolutionären Spitzen in Österreich durchgehend deckungsgleich mit äußeren Ereignissen sind. Das Frühjahr 1917: ein Widerhall der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland, die den Zaren stürzte. Der Jänner 1918: eine Reaktion auf die Revolution der Bolschewiki in Russland und die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk. Der November 1918: ein mit der Kriegsniederlage der Mittelmächte und der deutschen Novemberrevolution einhergehendes Ereignis, ausgelöst durch den Matrosenaufstand in Kiel. Das Frühjahr 1919: eine Frucht der unmittelbaren Nachbarschaft von zwei Räterepubliken, in Ungarn und München. Das Frühjahr 1920: beeinflusst von den erfolgreichen Massenaktionen der deutschen Arbeiter gegen die Kapp-Putschisten und vom Vormarsch der Roten Armee bis vor die Tore Warschaus im Krieg zwischen Polen und Sowjetrussland.

IV

Welche politischen Veränderungen hat die österreichische Revolution gebracht? Das zentrale Ergebnis war der Sturz des monarchisch-obrigkeitsstaatlichen Systems und der Übergang zu einer sehr weitgehenden republikanischen, parlamentarisch-demokratischen Repräsentativverfassung. Bereits die Republikerklärung vom 12. November 1918 hat alle Gesetze, durch die dem Kaiser und den Mitgliedern des kaiserlichen Hauses Vorrechte zugestanden wurden, aufgehoben. Am 3. April 1919 folgte das Gesetz über die Landesverweisung des Hauses Habsburg-Lothringen, das die Herrscherrechte der Dynastie für immerwährende Zeiten in Österreich aufhob und den hofärarischen Besitz sowie das gebundene Familienvermögen in das Eigentum der Republik überführte. Am selben 3. April 1919 wurden die Vorrechte des Adels abgeschafft, die weltlichen Ritter- und Damenorden aufgehoben und die Führung von Adelsbezeichnungen, Titeln und Würden untersagt. Weiter: die kaiserlichen Statthaltereien als oberste Verwaltungsorgane in den Ländern wurden beseitigt; deren Befugnisse fielen in die Hand demokratisch gewählter Landesregierungen. Weiter: alle auf politischen Sonderrechten, Privilegien der Geburt und des Standes fußenden Körperschaften wurden aufgelöst; dazu gehörte das Herrenhaus, eine der beiden Kammern des alten österreichischen Parlaments. Weiter: das allgemeine, gleiche Wahlrecht nach dem Proportionalsystem wurde eingeführt. (In der Monarchie hatte ein Wahlrecht nach dem Mehrheitsprinzip geherrscht.) Weiter: die Einführung des Wahlrechts erstmals auch für Frauen. Weiter: die Einführung des allgemeinen Wahlrechts endlich auch für die Landtage und Gemeinderäte, denn im Unterschied zu den Reichsratswahlen blieb in der Monarchie auf Länder- und Gemeindeebene das nach Besitz und Vermögen gestaffelte Kurienwahlrecht bis 1918 bestehen. Weiter: alle bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte (Vereins-, Versammlungs-, Rede-, Pressefreiheit usw.) wurden wiederhergestellt und in demokratischer Weise erweitert. Schließlich: alle politischen Gefangenen (wegen Hochverrats, Majestätsbeleidigung, Störung der öffentlichen Ruhe usw. Verurteilte) wurden freigelassen und die gegen sie schwebenden Verfahren niedergeschlagen – stets einer der sichersten Zeichen eines realen und nicht bloß scheinbaren Kontinuitätsbruchs.

V

Welche sozialpolitischen Veränderungen hat die österreichische Revolution gebracht? Noch tiefer gehende und so viele, dass ich nur die wichtigsten aufzählen kann. Einige sind schon in der Monarchie unter dem Druck der Massen Wirklichkeit geworden und in den Bestand der Republik übergegangen wie die Verordnung über den Mieterschutz vom 26. Jänner 1917, die ein faktisches Kündigungsverbot und den Mietzinsstopp brachte. Als Ergänzung dazu folgte 1919 die Wohnungsanforderung, wonach leer stehende Wohnungen, Zweitwohnungen und Zimmer in Groß- und Luxuswohnungen, die nicht benützt wurden, Wohnungsbedürftigen zugewiesen werden konnten, wenn nötig auch zwangsweise. Weiter: die Einführung der staatlichen Arbeitslosenunterstützung bzw. das Arbeitslosenversicherungsgesetz, etwas, was es in der Monarchie nicht gegeben hatte. Weiter: das Gesetz über den achtstündigen Arbeitstag, eine Forderung, für die die Arbeiter Jahrzehnte vergeblich gekämpft hatten. Weiter: die staatliche Entschädigung für Kriegsinvalide, Kriegerwitwen und -waisen. Weiter: das Betriebsrätegesetz, das Herzstück der damaligen Sozialgesetzgebung. Weiter: das so genannte „Schlössergesetz“, wonach der Staat Paläste und Luxuswohngebäude beschlagnahmen konnte, um in ihnen Sanatorien für Kriegsbeschädigte oder Heime für hungernde Kinder einzurichten. Weiter: das Gesetz über den bezahlten Urlaub für Arbeiterinnen und Arbeiter, etwas völlig Neues. Weiter: die Einführung der Einigungsämter und die Regelung des Kollektivvertragsrechts, durch die die Gewerkschaften erstmals vom Staat als Tarifpartner anerkannt wurden. Schließlich: die Errichtung der Kammern für Arbeiter und Angestellte, ebenfalls eine Forderung, für die die Arbeiterbewegung seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingetreten war.
Dabei ist es nicht geblieben. Weitere Errungenschaften waren die Schulreform, die Abschaffung der Todesstrafe, die Zurückdrängung des Einflusses der Kirche durch die Beseitigung des Zwanges zur Teilnahme am Religionsunterricht, die Erleichterung der Ehescheidung, die Verbesserung des Rechtsschutzes unehelicher Kinder und im Agrarbereich das Wiederbesiedelungsgesetz, das die Umwandlung von Ackerland in feudale Jagdreviere rückgängig zu machen suchte.

VI

Wie man sieht, handelt es sich hier um Veränderungen, die in Umfang, Inhalt und Tiefe in der österreichischen Geschichte beispiellos dastehen. Und doch gibt es nicht wenige Historiker, die den revolutionären Charakter dieser Veränderungen bestreiten, ja rundweg verneinen. Und dennoch dominiert im Geschichtsbewusstsein der großen Mehrheit der Österreicher über den November 1918 weiterhin das alte negative Klischee von der „Katastrophe“, vom „Zusammenbruch“, vom „Chaos“, „Hunger“ und „Elend“, vom „Staat, den keiner wollte“, vom „lebens- unfähigen Reststaat“, dessen Volk „seine Identität verlor“ usw., usf. Dass das so ist, hat zwei Gründe.
Zum einen war die österreichische Revolution für die real herrschende Schicht, für jene, die vor wie nach dem November 1918 herrschte und bis heute herrscht, die Großbourgeoisie, das Industrie- und Finanzkapital, in der Tat eine Katastrophe. Zurückgeworfen auf einen Kleinstaat hat es den Sturz von den wirtschaftlichen Kommandohöhen einer Großmacht, wie es das Habsburgerreich war, nie verwunden. Hier, im ökonomischen und politischen Machtverlust über die nichtdeutschen Völker der Monarchie, liegt die eigentliche Wurzel der bürgerlichen November-1918-Aversion, die als Geschichtsbild der Herrschenden unvermeidlich zum herrschenden Geschichtsbild werden musste. Der Drang, dieses Ergebnis der Umwälzung von 1918 rückgängig zu machen, wieder Großmachtpolitik betreiben zu können – und sei es nur als Juniorpartner eines stärkeren Imperialismus – ist geradezu der Schlüssel für das Verständnis dessen, was seither vor sich ging, von der Anschlusspropaganda der zwanziger Jahre über das Jahr 1938 bis herauf zum Vollbeitritt in die Europäische Union und dem angepeilten Aufgehen in der NATO.
Der andere Grund ist das tiefe Auseinanderklaffen zwischen dem Charakter der österreichischen Revolution und ihren Triebkräften. „Hoch die sozialistische Republik!“ stand auf dem Transparent zu lesen, das Teilnehmer an der großen Kundgebung am 12. November 1918 auf der Parlamentsrampe entrollten. Diese sozialistische, auf die Überwindung der kapitalistischen Klassenverhältnisse abzielende Stoßrichtung verstärkte sich in der Folgezeit noch und beherrschte in der sozialrevolutionären Periode der österreichischen Revolution, vom Februar bis zum August 1919, das Denken und Handeln der Arbeiterschaft. Klarster Ausdruck dieser Bestrebungen waren die Arbeiter- und Soldatenräte, die bedeutendste Basisbewegung und schlagkräftigste Massenorganisation jener Jahre. Wenn ich nach jahrelanger Beschäftigung mit der Rätebewegung in Österreich eine unumstößliche Gewissheit gewonnen habe, dann die, dass die Arbeiterschaft 1918/19 keine „gerechter gemachte“ Neuauflage der alten Klassengesellschaft wollte, sondern den Sozialismus. Und das ist das zweite Faktum, das es dem Establishment bis heute unmöglich macht, der österreichischen Revolution jenen Platz in unserem Geschichtsbewusstsein einzuräumen, der ihr gebührt.

VII

Die Frage ist jetzt, warum es den zu einer grundlegenden Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung drängenden Arbeitermassen nicht gelang, ihre Sache zum Sieg zu führen. Diese Frage schließt auch die nach der Rolle der Kommunistischen Partei in der österreichischen Revolution ein und danach, warum sie keinen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung nehmen konnte. Unter den vielen Antworten, die man hier geben könnte, führe ich nur eine – meiner Meinung nach aber entscheidende – Ursache an.
Die sozialdemokratischen Führer haben damals den Gegensatz zwischen ihrer Partei und den Kommunisten immer als eine bloß taktische Meinungsverschiedenheit hingestellt, die aus- schließlich das Problem des Weges zum Sozialismus, das Problem der Beurteilung des Tempos dorthin, nicht aber das sozialistische Endziel betreffe. Die Sozialdemokratie hat den Werktätigen in der österreichischen Revolution also nicht gesagt, dass es bei der bürgerlichen Staatsordnung und beim Kapitalismus bleibt, sondern ihnen versprochen, sie zum Sozialismus zu führen. Anders hätte sie damals keinen einzigen Tag ihren Masseneinfluss behalten können. Überdies hat sie versichert, dass ihr Weg zum Sozialismus, mit friedlichen Methoden, ohne Gewalt und in der Hauptsache mit dem Stimmzettel bei Wahlen, realistischer sei und viel weniger Opfer abfordern würde als der von den Kommunisten vorgezeichnete sozialrevolutionäre. Dass das kein bloßes Gerede war und jede soziale Revolution unabsehbare Risken in sich birgt, kann nicht bestritten werden. Es hieße die Augen vor den Tatsachen verschließen, wollte man behaupten, dass den Kräften der Beharrung damals jede Möglichkeit genommen war, sich auf ein konterrevolutionäres Potential zu stützen und es für ihre Zwecke zu mobilisieren. Das Schicksal der Räterepubliken in Ungarn und München, die blutig niedergeworfen wurden, zeigte das. Dazu kam noch etwas: die damals herrschende Zerrüttung der Wirtschaft, der Mangel an Brenn- und Rohstoffen, die Krise bei der Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs, der Hunger und die Abhängigkeit Österreichs von Lebensmittellieferungen seitens der Ententemächte – all das hat eben nicht ausschließlich revolutionierend gewirkt, sondern auf einer bestimmten Stufe in breiten Teilen der Bevölkerung das Gegenteil hervorgerufen, Furcht vor politischer und gesellschaftlicher Anarchie, einen „Anti-Chaos-Reflex“, in der der Wunsch nach gesichertem Überleben zur Stütze jener wurde, die die bestehende Ordnung verteidigten.
Hier liegt meines Erachtens die tiefste massenpsychologische Wurzel für den Erfolg des Reformismus und für das Scheitern der Bemühungen der Kommunisten, zu einer Räterepublik zu gelangen. Die überwältigende Majorität der österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter folgte daher 1918/19 dem von der Sozialdemokratie angebotenen Weg und lehnte den der Kommunisten ab, der ein gefahrvolles, blutige Opfer kostendes Ringen mit der in- und ausländischen Konterrevolution verhieß. Dass die Wahlmöglichkeit in Wirklichkeit nicht die zwischen zwei Wegen zum Sozialismus war, sondern die zwischen Sozialismus und Erhaltung der bürgerlichen Ordnung, konnten die Arbeitermassen damals nicht wissen.

VIII

Wissen müssen hätten es allerdings die sozialdemokratischen Führer, denn ihnen war nicht unbekannt, dass Karl Marx in seinen Schriften die Frage der Macht als Schlüsselfrage jeder Revolution bezeichnet hat. Das politische Handeln der großen Sozialdemokratie hatte daher ein ganz anderes Gewicht als das der kleinen Kommunistischen Partei und muss daher auch anders bewertet werden. Wenn die Sozialdemokratie die Durchsetzung der bedeutenden demokratischen und sozialen Errungenschaften der österreichischen Revolution als Verdienst für sich beanspruchen durfte, so trug sie auf der anderen Seite aber auch die Hauptverantwortung für das, was 1918/19 unterlassen wurde und bekanntlich schwerwiegende Folgen zeitigte: einen 15.Juli 1927, einen 12.Februar 1934. Verabsäumt wurde, Schritte zu setzten, die geeignet waren, die bürgerliche parlamentarische Demokratie auf eine sicherere Grundlage zu stellen und die damals durchaus möglich gewesen wären: den Staatsapparat und die Verwaltungsbehörden zu erneuern, offen monarchistische und rechts orientierte Spitzenbeamte, Richter, Polizeiräte aus ihren Stellungen zu entlassen. Verabsäumt wurde, dafür zu sorgen, dass aus dem Bundesheer kein Instrument antidemokratischer Kräfte mehr werden konnte, wie es die Volkswehr von 1918 bis 1920 gewesen war. Verabsäumt wurde, die Macht des Industrie- und Finanzkapitals durch Sozialisierung der Grundstoff- und Großindustrie zu beschneiden. Verabsäumt wurde, den feudalen Großgrundbesitz zu enteignen, was die Chance geboten hätte, in die Phalanx der von den Christlichsozialen dominierten Bauernschaft einzubrechen.

IX

Dennoch: Wir haben mit der österreichischen Revolution eine Tradition unserer Geschichte vor uns, die wahrlich der Erinnerung wert ist. Denn sie zeigt uns, wie viel unter bestimmten Voraussetzungen möglich und erreichbar ist, wenn sich die arbeitenden Menschen der Tugenden des Kampfes besinnen, ihrer Kraft innewerden. Die österreichische Revolution der Jahre 1917 bis 1920 bietet auch heute ein Objekt der Identifikation für alle jene, denen wirkliche und nicht bloß geheuchelte Demokratie, denen Emanzipation vom Obrigkeitsdenken und vom blinden Vertrauen in Segnungen vom Himmel der politischen Machthaber, denen gesellschaftlicher Fortschritt auch und gerade im jetzt so spürbaren Gegenwind der „Sozialabbau“- und „Globalisierungs“-Proklamierer am Herzen liegen.

Referat auf dem Symposium „1848 – 1918“ der Alfred Klahr Gesellschaft am 31. Oktober 1998.

 

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