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Hans Hautmann: Jänner 1918 – Österreichs Arbeiterschaft in Aufruhr
Meine Damen und Herren, namens der Alfred Klahr Gesellschaft darf ich Sie
herzlich begrüßen zu unserer Veranstaltung, die im Zeichen des Erinnerns an eine
große Klassenkampfaktion der österreichischen Arbeiter und Arbeiterinnen steht.
Gedenkkultur ist heutzutage ein viel strapazierter Begriff. Dabei sollte uns
immer bewusst sein, dass es eine einheitliche, alle Gesellschaftsschichten
übergreifende, von allen getragene und akzeptierte Gedenkkultur, eine kollektive
Identität des Erinnerns, nicht gibt und nicht geben kann. An welche
historischen Ereignisse man sich erinnert, wie man sie darstellt und
vermittelt, und vor allem wer diese Erinnerung pflegt und ihre Tradition
hochhält, all das gibt uns wesentliche Aufschlüsse darüber, wie die
gesellschaftlichen und politischen Zustände in einem Land beschaffen sind. Die
Ereignisse des Jänner 1918, als die österreichische Arbeiterklasse aufstand und
mit ihrem Massenstreik gegen den Krieg, für Frieden und Brot an den Grundfesten
des kapitalistischen Machtsystems schlechthin rüttelte, sind aus der Sicht der
heutigen wirtschaftlichen und politischen Eliten selbstverständlich nicht dazu
angetan, ein erinnernswerter Bestandteil der offiziellen Gedenkkultur zu sein.
Im Gegenteil muss es im Interesse dieser Kreise liegen, jegliches Besinnen an
diese gewaltige Kampfaktion möglichst gründlich, am besten vollständig, dem
Vergessen anheim fallen zu lassen. Es liegt daher auf der Hand, dass nur jene,
die österreichische Geschichte und Geschichte der Arbeiterbewegung von einem
marxistischen Standpunkt aus betrachten, darunter auch wir von der Alfred Klahr
Gesellschaft, heute zum 90. Jahrestag eine Veranstaltung dazu durchführen.
Überall sonst herrscht tiefes Schweigen, auch von Seiten der Sozialdemokratie
und der Führung des österreichischen Gewerkschaftsbundes, was symptomatisch für
deren derzeitige Rolle als Mitverantwortliche der Kapitaloffensive gegen die
Masse der arbeitenden Menschen ist.
Dieses Schweigen werden wir im heurigen Jahr noch mehrmals erleben, am
Ausgeprägtesten sicherlich beim Gedenken an den 12. November 1918. Man wird von
offizieller Seite alles Mögliche dazu in den Vordergrund stellen, das Ende des
1. Weltkrieges, den Zerfall des Habsburgerreiches, die Gründung der Republik
usw., nur nicht die Tatsache, dass damals die massenhaft radikalisierte,
politisierte und in Aufbruchstimmung befindliche Arbeiterschaft es war, die dem
Gang der historischen Entwicklung unseres Landes während einer ganzen Periode,
der Jahre 1917 bis 1920, den Stempel aufgedrückt hat. Aber auch diesem Versuch
des Verschweigens und Vertuschens werden wir von der Alfred Klahr Gesellschaft
durch Veranstaltungen im Herbst dieses Jahres, durch Publikationen und Artikel
gegenzusteuern suchen. Unsere Möglichkeiten dazu sind, verglichen mit dem schon
angekündigten, staatlich großzügig geförderten Gedenkrummel, gewiss sehr
bescheiden. Wir machen es aber, weil es sonst niemand tut, und weil es unsere
Aufgabe ist, die große und positive Rolle herauszustreichen, die die für ihre
Rechte kämpfende Arbeiterbewegung in der österreichischen Geschichte gespielt
hat und hoffentlich eines Tages wieder spielen wird.
So viel zur Einleitung. Mein Vortrag wird etwa 45 Minuten dauern, und daran im
Anschluss stehe ich gerne für Anfragen und Diskussion zur Verfügung.
Was waren die Ursachen für den Jännerstreik 1918? Hier sind drei Gründe zu
nennen.
1. Die Verschlechterung der materiellen und sozialen Lage der ArbeiterInnen im
Verlauf des Krieges, die mit einem verschärften Klassenkampf „von oben“ Hand in
Hand ging.
2. Die Burgfriedenspolitik der österreichischen Sozialdemokratie und der
Gewerkschaften seit dem August 1914, die zu wachsender Entfremdung und, am
Vorabend des Jännerstreiks, zu einem offenen Konflikt zwischen Parteiapparat und
Arbeitermassen führte.
3. Die Wirkung der Revolution in Russland im November 1917 und die Tätigkeit der
kleinen, aber aktiven Gruppe der österreichischen Linksradikalen in Richtung auf
Auslösung eines Generalstreiks.
Zunächst zur ersten Quelle, aus der die große Streikaktion erfloss, zur
Verschlechterung der Lage der Volksmassen im 1. Weltkrieg. Sie ging einerseits
kontinuierlich vor sich (etwa bei den Preissteigerungen und den
Reallohnverlusten), andererseits in raschen, abrupten Schüben. Ein erster
derartiger Schub erfolgte gleich am Anfang des Krieges, ein zweiter während des
berüchtigten Hungerwinters 1916/17. Beide Male handelte es sich um qualitative
Sprünge, und zwar gerade auf jenen Gebieten, die die Industriearbeiterschaft am
unmittelbarsten betrafen: 1914 in Form der Militarisierung der Arbeit, 1916/17
durch den Übergang des Lebensmittelmangels zur Hungersnot.
Der Ausbruch des 1. Weltkriegs hatte auf die Lebensumstände der österreichischen
Arbeiter und Arbeiterinnen sofortige, sehr negative Auswirkungen. So wurden
beispielsweise die gesetzlichen Bestimmungen über die Sonn- und Feiertagsruhe
außer Kraft gesetzt, die Arbeitszeit in kriegswirtschaftlich wichtigen Betrieben
auf bis zu 13 Stunden täglich verlängert und die Nachtarbeit von Frauen und
Jugendlichen, seit 1885 verboten, wieder obligat.
Die drastischste Verschlechterung brachte aber das Inkrafttreten des so
genannten „Kriegsleistungsgesetzes“ am 25. Juli 1914 Es gab der
Heeresverwaltung die Möglichkeit, sämtliche für die Kriegswirtschaft relevanten
Betriebe für ihre Zwecke in Anspruch zu nehmen und militärischer Leitung zu
unterstellen. Das galt auch und insbesondere für das gesamte Personal. Die
Belegschaften der Kriegsleistungsbetriebe (1917/18 waren das in der
österreichischen Reichshälfte 1,3 Millionen Arbeitende in 4.500 Betrieben,
darunter 363.000 Frauen) hatten allen Befehlen der militärischen Leiter Folge zu
leisten und unterstanden militärischer Disziplinar- und Strafgewalt. Bei
„Widersetzlichkeiten“ wie Unpünktlichkeit oder „Krankfeiern“ konnten gegen sie
Arreststrafen bis zu dreißig Tagen verhängt werden, verschärft mit zeitweiligem
Fasten bei Wasser und Brot. Streiks waren selbstverständlich verboten.
Die Militarisierung der Arbeit war nichts anderes als eine offene
Kriegserklärung an den „inneren Klassenfeind“, der Versuch der kaiserlichen
Regierung, des Militärs und der Wirtschaftsmächtigen, die Arbeiterbewegung
mundtot und wehrlos zu machen, sie einzuschüchtern und zu entwaffnen. Mehr als
zwei Jahre gelang das auch. Im Frühjahr 1917 trat aber gerade in den
militarisierten Betrieben das ein, was man mit Hilfe des Kriegsleistungsgesetzes
verhindern hatte wollen: ein lawinenartig ablaufender Prozess kämpferischer
Bewusstseinsbildung unter den Arbeitermassen. Und eben die dem
Kriegsleistungsgesetz unterworfene Industriearbeiterschaft war es, die sich zum
eigentlichen Kern der proletarischen Antikriegsbewegung formierte und den
Jännerstreik auslöste.
Ein sehr wichtiger weiterer mobilisierender Faktor war das drückende
Ernährungsproblem. Aus Erzählungen unserer Groß- und Urgroßeltern wissen wir,
was für die einfachen Menschen im Hinterland die unvergesslichste Erinnerung an
den 1. Weltkrieg war: der Nahrungsmittelmangel, das stundenlange und oft
erfolglose Anstellen vor den Lebensmittelgeschäften, das Kartensystem, die
Quotenkürzungen, die Teuerung aller Grundnahrungsmittel, die Hamsterfahrten und
der „Genuss“ oft ekelhafter Surrogate. Diese Notsituation wurde zur vielleicht
stärksten Triebfeder für die großen Massenbewegungen und Klassenkämpfe der
österreichischen Arbeiterschaft in den letzten beiden Kriegsjahren.
Über die Güterknappheit und die Sorge ums tägliche Brot hinaus wirkte auch die
Unfähigkeit der staatlichen Behörden, Abhilfe zu schaffen und ein halbwegs
gerechtes Verteilungssystem durchzusetzen, maßlos aufreizend. Das war in sich
nur logisch, denn die Habsburgermonarchie war ein imperialistisches
Herrschaftsgebilde mit ausgeprägt obrigkeitsstaatlichem Charakter, in dem sich
der großgrundbesitzende Hochadel mit der monopolistischen Großbourgeoisie die
Macht teilte und wo deshalb auch deren Vorteile bei den Möglichkeiten zur
Lebensmittelbeschaffung unangetastet blieben. Dazu kam, dass die vielbeschworene
„Gleichheit der Opfer“ unter den Bedingungen des sich aus der Notsituation
spontan herausbildenden schwarzen Marktes nicht zu erreichen war, der wiederum
- selbst in den beiden schlimmsten Hungerjahren 1917 und 1918 - es wenigen
Begüterten möglich machte, Waren in beliebiger Menge zu erwerben. Wer Geld (oder
besser noch Wertsachen) besaß, konnte sich über den Schleichhandel auch dann
noch jederzeit gut, sogar reichlich versorgen. Die skrupellosen Nutznießer des
Gütermangels, Warenhorter und -verheimlicher, Spekulanten, Schieber, Schleich-
und Kettenhändler, tummelten sich ungeniert in den Nachtlokalen, und
Privilegierten wie den Offizieren wurden in den Kasinos bis zum letzten Tag des
Krieges die feinsten Speisen aufgetischt.
Diese wachsende und immer sichtbarer werdende Kluft ökonomischer und sozialer
Gegensätze zwischen den Volksmassen und der kleinen Schicht der Begüterten war
die tiefste Ursache dafür, dass die österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter
ab 1916/17 die Zustände nicht mehr resignierend hinnahmen und sich kräftig zur
Wehr zu setzen begannen: mit dem Mittel des Streiks.
Streiks – ich habe es schon gesagt – waren im 1. Weltkrieg verboten, und
streikende Arbeiter, insbesondere die, die als „Rädelsführer“ galten, wurden
streng bestraft, entweder mit Kerker oder durch Einrücken und Verschicken an die
Front. Tatsächlich funktionierte die Abschreckung mit harten Sanktionen längere
Zeit, und in den Jahren 1914, 1915 und 1916 gab es in Österreich nur sehr wenige
Ausstände mit einer minimalen Anzahl von Streikenden.
Der schreckliche Hungerwinter 1916/17 warf jedoch alles über den Haufen und
zertrümmerte den Burgfrieden in den Betrieben, weil die Empörung über die
unerträglich gewordenen Verhältnisse auf dem Ernährungssektor stärker wurde als
die Angst vor noch so schweren Strafen. In den Industriezentren des Wiener
Beckens und der Obersteiermark begann eine Streikwelle, die im Mai 1917 in einem
viertägigen Ausstand von 42.000 Wiener Metallarbeitern gipfelte.
Alle diese Streiks brachen gegen den Willen der Sozialdemokratie und der
Gewerkschaftsführung aus, sie waren durchwegs spontane Akte der
Betriebsbelegschaften an der Basis. Die ablehnende Haltung der
Sozialdemokratischen Partei gegenüber Arbeitskämpfen war Ausdruck ihrer
Orientierung seit Kriegsbeginn 1914, die sich politisch in der
Rechtfertigung der Behauptung der Herrschenden von der Notwendigkeit der
Vaterlandsverteidigung äußerte und ökonomisch im Bemühen um
Arbeitsfrieden in den Betrieben, um die Kriegsproduktion nicht zu „unterbrechen“
und zu „stören“. Es ist klar, dass das von dem Moment an, als die Arbeiter und
Arbeiterinnen wieder zum Kampfmittel des Streiks griffen, zu einem
Spannungszustand zwischen ihnen und der beschwichtigenden, abwiegelnden Partei
führen musste.
Diese Unzufriedenheit an der Basis über die mangelnde Unterstützung durch die
Führung war der zweite Grund für den Ausbruch des Jännerstreiks. Der Konflikt
darf aber nicht so interpretiert werden, als ob damit die Sozialdemokratie
jegliches Vertrauen unter den Arbeitermassen verloren hätte, denn sonst wäre der
Ausgang des Jännerstreiks unverständlich. Wie es zu erklären ist, dass die
Parteiführung die Lage bald in den Griff bekam und die Streikbewegung in die von
ihr gewünschte Richtung zu lenken verstand, werde ich am Ende meines Referats
behandeln.
Zu den genannten Gründen gesellte sich noch ein weiterer, sehr wichtiger, denn
der Jännerstreik 1918 hätte nie ein solches Ausmaß erreicht, wenn nicht auch
eine spezifische politische Konstellation dazugekommen wäre. Sie entstand
im November 1917 durch die Revolution der Bolschewiki in Russland und dem von
der Lenin-Regierung gleich am ersten Tag ihres Machtantritts verkündeten
Friedensangebot an alle kriegführenden Mächte. Dreieinhalb Jahre hatten die
Volksmassen in Österreich, allen voran die Arbeiterschaft, den Krieg hassen
gelernt. Jetzt endlich zeigte sich, dank der sozialistischen Umwälzung in
Russland, ein Weg zur Beendigung des Völkergemetzels. Die hochgespannten
Erwartungen wurden aber bald enttäuscht, weil die Friedensverhandlungen von
Brest-Litowsk offenbarten, dass der deutsche Imperialismus (und der hilflos an
ihn gekettete österreichisch-ungarische) nicht gewillt war, das Prinzip eines
Friedensschlusses „ohne Annexionen und Kontributionen“ anzuerkennen und auf
Eroberungen im Osten zu verzichten. Vor den Augen der Arbeitermassen entlarvten
sich die anmaßenden Generäle und adelig-arroganten Diplomaten der eigenen
Regierungen in Brest-Litowsk als jene, die durch ihr herrisches Auftreten in
Siegerpose den Frieden mit Russland verhinderten. Die Unruhe in Österreich stieg
dadurch von Tag zu Tag.
An der Auslösung des Streiks hatten aber auch die österreichischen
Linksradikalen, die Vorläufer der KPÖ, einen bedeutenden Anteil. Ihnen war es
seit Sommer 1917 gelungen, Verbindungen zur Arbeiterschaft in den Großbetrieben
des südlichen Wiener Beckens zu knüpfen und damit einen gewissen Einfluss auf
die Belegschaften mehrerer Schlüsselbetriebe der Kriegs- und Rüstungsproduktion
zu gewinnen. Das war ein entscheidender Faktor, denn genau von dort, wo die
Linksradikalen Positionen besaßen, ging der Zündfunke für den Jännerstreik aus,
und ohne die unermüdliche Propaganda der Linksradikalen wäre es sicherlich nicht
zur raschen Umwandlung des Ausstandes in eine so lawinenartig anschwellenden
Massenstreik mit ausgeprägt politischem Charakter gekommen.
Wie ist der Jännerstreik verlaufen? In der jüngsten Ausgabe der „Mitteilungen“
der AKG, die hier im Saal aufliegt, habe ich die Ereignisse dieser zehn
dramatischen Tage chronologisch dargestellt, und Interessierte seien darauf
verwiesen. Aus Zeitgründen kann ich jetzt nicht auf die Einzelheiten eingehen.
Ich gebe eine kurze Skizze des Ablaufs und der Dimension des Streiks und
behandle ihn primär mit Blick auf die Maßnahmen, durch die es der Führung der
Sozialdemokratischen Partei gelang, die Bewegung unter ihre Kontrolle zu
bringen.
Als am Morgen des Montag, 14. Jänner 1918, die kaiserliche Regierung als
Draufgabe zur brisanten Situation dummerweise auch noch eine Kürzung der
Mehlration um 50 Prozent bekannt gibt, erfolgt die Explosion. Um 7.30 Uhr früh
tritt die Belegschaft der Daimler-Motorenwerke in Wiener Neustadt in den Streik,
dem sich bis Mittag die Arbeiter und Arbeiterinnen der anderen Industrie- und
Rüstungsbetriebe der Stadt (Siegl’sche Lokomotivfabrik – spätere Rax-Werke –
Flugzeugfabrik, Radiatorenwerke, Munitionsfabrik G. Rath) anschließen. In Wiener
Neustadt sind das an dem Tag 10.000 bis 15.000 Streikende.
Am 15. Jänner weitet sich der Ausstand auf Hirtenberg (Patronenfabrik),
Leobersdorf (Maschinenfabrik), Wöllersdorf (Munitionsfabrik), Ternitz (Schoeller-Werke),
Wimpassing (Gummiwerke) und Neunkirchen (Brevillier & Urban) aus. Die Zahl der
Streikenden steigt auf ca. 50.000.
Am 16. Jänner erfasst der Ausstand weitere politische Bezirke in
Niederösterreich (Berndorf, Baden, Mödling, Stockerau) und greift gegen Mittag
auf Wien über, als in Floridsdorf und Favoriten die Belegschaften der
Fiat-Werke, von Hofherr & Schrantz und der Lokomotivfabrik in den Streik traten.
Am Abend dieses Tages beträgt die Zahl der Streikenden in Wien bereits 85.000,
und in Niederösterreich ca. 70.000, zusammen 155.000.
Am 17. Jänner kommt es zur weiteren Ausdehnung in Wien und Niederösterreich und
zum Übergreifen auf die Steiermark, auf Graz, auf die Böhlerwerke in Kapfenberg
und auf Felten & Guillaume in Bruck an der Mur. Die Gesamtzahl der Streikenden
erhöht sich auf ca. 200.000. An dem Tag schwappt die Bewegung auch auf Krakau in
Galizien und damit erstmals auch auf die Arbeiterschaft anderer Nationalitäten
des Reiches über.
Am 18. Jänner schließen sich in Wien sogar die ArbeiterInnen von Klein- und
Kleinstbetrieben, so die SchneiderInnen und VerkäuferInnen nobler Modesalons der
Innenstadt sowie die Arbeiter und Angestellten des k.k. Münzamtes und der k.k.
Hof- und Staatsdruckerei dem Streik an.
Am 19. Jänner treten in Wien nun auch die Schriftsetzer in den Ausstand. Mit
Ausnahme der anstelle der „Arbeiter-Zeitung“ von der Sozialdemokratie
herausgegebenen „Mitteilungen an die Arbeiter“ erscheinen keine Zeitungen mehr.
An dem Tag kommt Oberösterreich dazu (Linz und die Waffenfabrik in Steyr) sowie
Budapest, wo alle Industriebetriebe feiern und der Straßenbahnverkehr
eingestellt wird.
Am 20. Jänner befinden sich in der Habsburgermonarchie rund 750.000 Arbeiter und
Arbeiterinnen im Ausstand. In der österreichischen Reichshälfte mit den Ländern
unserer heutigen Republik, weiters in Krakau, Mährisch-Ostrau, Brünn und Triest
550.000, in Ungarn, in Budapest und anderen Städten, 200.000.
Dieser 20. Jänner war der Höhepunkt der Streikbewegung und zugleich die
Wendemarke, denn von da an begannen die Bemühungen der sozialdemokratischen
Führung um Beilegung ihre Früchte zu tragen.
Am 21. Jänner wird die Arbeit vereinzelt wieder aufgenommen, am 22. Jänner
vermehrt, am 23. Jänner ist der Streik in Wien beendet, und am 24. Jänner auch
in Wiener Neustadt, Neunkirchen und Ternitz. Nach zehntägiger Dauer kehrt die
Riesenmasse der Streikenden wieder in die Betriebe zurück.
Wie reagierte nun der Sozialdemokratie auf den Streik? Diese Frage ist wichtig,
weil es in erster Linie von ihr abhing, was aus der Massenbewegung wurde. Die
erste Nachricht vom Streikausbruch erhielt der Parteivorstand in Wien am Abend
des 14. Jänner durch einen Kurier aus Wiener Neustadt. Die Partei hat, ebenso
wie die kaiserliche Regierung, zu diesem Zeitpunkt die Ausstandsbewegung
offensichtlich noch unterschätzt und für ein lokal begrenztes Ereignis mit
ausschließlichen ökonomischen Motiven gehalten. Karl Renner, dessen Wahlkreis
das Gebiet südliches Wiener Becken war, wurde beauftragt, sich um die
Angelegenheit zu kümmern.
Am zweiten Streiktag, am 15. Jänner, geschahen aber zwei Dinge, die für die
Partei jeden Zweifel am Ernst der Lage beseitigten: in Wiener Neustadt bildeten
sich spontan und ohne ihr Zutun auf Betriebsversammlungen Arbeiterräte nach dem
Vorbild der Sowjets in Russland, und der Streik nahm ausgesprochen
politischen Charakter an. Zur Hauptforderung der Arbeiter und Arbeiterinnen
wurde der sofortige Friede mit Sowjetrussland.
Der Parteivorstand beschloss daraufhin, ein Manifest in den Parteizeitungen zu
veröffentlichen, um die sich ausbreitende Bewegung, wie es hieß, „zu
vereinheitlichen und ihr ein politisches Ziel zu geben.“ Zu diesem Zweck
sprachen Victor Adler und Karl Seitz am Abend des 15. Jänner bei
Ministerpräsidenten Seidler vor, um von ihm die Garantie zu bekommen, dass das
Manifest unzensuriert erscheinen darf. Diese Garantie wurde Seidler gegenüber
als „Preis für die Einwirkung (der Partei) auf die Streikbewegung“ bezeichnet.
„Preis für die Einwirkung“ konnte nur bedeuten, dass Victor Adler und Karl Seitz
dem Ministerpräsidenten bei dieser geheimen Zusammenkunft für die Freigabe der
notwendigen Aufrufe des Parteivorstandes in der Presse auch eine Leistung
zusagten. Worin diese bestand, wurde später deutlich.
Das Manifest der Partei und des Abgeordnetenklubs der österreichischen
Sozialdemokratie an die Arbeiter und Arbeiterinnen, das am 16. Jänner 1918 in
der „Arbeiter-Zeitung“ erschien, war die überhaupt schärfste und radikalste
Stellungnahme der Sozialdemokratie während des gesamten Krieges. Einleitend
wurde die Organisation des Verpflegungsdienstes als durch die „Selbstsucht der
besitzenden Klassen“ und die „Unzulänglichkeit der bürokratischen Verwaltung
verpfuscht und verdorben“ bezeichnet. Danach folgte eine harte Kritik an den
„herrschenden Klassen Österreich-Ungarns“, welche immer von der ausschließlichen
Notwendigkeit der Landesverteidigung und ihrer Friedensbereitschaft gesprochen
hätten, nun aber, da „Russland von uns gar nichts verlangt“, weiterhin auf
Eroberungen im Osten bestünden. Das Manifest endete mit den Worten: „Für die
schleunigste Beendigung des Krieges! Für den Frieden ohne offene und ohne
unverhüllte Eroberungen! Für den Frieden auf der Grundlage des unverfälschten
Selbstbestimmungsrechtes der Völker!“
Bemerkenswert ist, dass das Manifest des Parteivorstandes mit keinem Wort den
bereits ausgebrochenen Streik erwähnte und nur davon sprach – zitiere -, dass
„die Verpflegungsschwierigkeiten der jüngsten Zeit in weiten Kreisen der
Arbeiterschaft große Beunruhigung hervorgerufen“ hätten. Eine Erklärung, dass
man für den Streik Verständnis zeige oder gar die Methode des Massenausstandes
billige, erfolgte nicht.
Dennoch war die Wirkung des Manifests mit seinen so heftigen Formulierungen sehr
groß und eine der Hauptursachen für die gewaltige Ausdehnung des Streiks am 16.
Jänner. Unter dem Eindruck dieses Tages sandte Kaiser Karl an Außenminister
Czernin nach Brest-Litowsk ein Telegramm, in dem es hieß: „Ich muss nochmals
eindringlich versichern, dass das ganze Schicksal der Monarchie und der
Dynastie von dem möglichst baldigen Friedensschluss in Brest-Litowsk abhängt
(...) Kommt der Friede nicht zustande, so ist hier die Revolution, wenn
auch noch so viel zu essen ist. Dies ist eine ernste Warnung in ernster Zeit.“
Der sozialdemokratische Parteivorstand entschloss sich nun, zwei weitere
Schritte zu setzen, um die Bewegung in den Griff zu bekommen: er stellte ein
konkretes Forderungsprogramm auf und rief selbst die Streikenden auf,
Arbeiterräte zu wählen.
Im Forderungsprogramm verlangte die Partei 1. dass die Regierung „vollkommen
beruhigend“ zusichere, die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk nicht an
„irgendwelchen territorialen Forderungen scheitern“ zu lassen; 2. dass die
Regierung einer „gründlichen Reorganisation des Verpflegungsdienstes“ zustimmt;
3. die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts für die
Gemeindevertretungen; und 4. die Aufhebung der Militarisierung der Betriebe.
Die Parole der Bildung von Arbeiterräten übernahm die Parteiführung, weil sie
entschlossen war, von nun an mit der ganzen Kraft ihrer nach wie vor perfekt
funktionierenden Organisation auf den Wahlverlauf Einfluss zu nehmen und darauf
vertrauen konnte, auf diese Weise den Wirkungskreis der unerfahrenen und der
Masse der Arbeiter kaum bekannten linksradikalen Führer einzuengen. Das ist bei
der Wahl der Arbeiterräte in Wien in großen Versammlungen am Vormittag des 17.
Jänner, zu denen alle nur irgendwie abkömmlichen sozialdemokratische Partei- und
Gewerkschaftsfunktionäre abkommandiert wurden, um dort Reden zu halten und die
Wahlen zu regulieren, auch gelungen. Die Anhänger der Parteilinie stellten in
den Arbeiterräten die Mehrheit, und man legte sich auf Verhandlungen mit der
Regierung auf der Grundlage des Vierpunkteprogramms des Parteivorstandes fest.
Damit hatte man den für den Ausgang des Jännerstreiks entscheidenden Durchbruch
erzielt, denn in der Nacht vom 19. auf den 20. Jänner billigte der im
Eisenbahnerheim Margareten versammelte Wiener Arbeiterrat das
Verhandlungsergebnis mit der Regierung mit 308 gegen 2 Stimmen und rief zur
Wiederaufnahme der Arbeit auf.
Das härteste Stück stand aber noch bevor, denn man musste die Masse der
Streikenden draußen erst von der Notwendigkeit des Abbruchbeschlusses
überzeugen. Das geschah am 20. und 21. Jänner in großen Versammlungen unter
freiem Himmel. Dabei kam es zum befürchteten Sturm der Entrüstung. In Währing
riefen die Arbeiter den Parteirednern Worte wie „Verräter!“ und „k. u. k.
Vertrauensmänner!“ zu. In Favoriten wurde der populäre Abgeordnete Johann Pölzer
niedergeschrieen und als „Verräter“ und „Räuber“ beschimpft. Viele
Belegschaften, vor allem die der großen metallverarbeitenden Betriebe (Arsenal,
Flugzeugfabrik Warchalowski, Maschinenfabrik „Vulkan“ in Ottakring u.a.),
weigerten sich, Folge zu leisten.
Bei anderen gelang dies aber, und am 21. Jänner wurde klar, dass mit dem ersten
Einbruch in die Streikfront und dem Beginn der rückläufigen Tendenz an eine
energische zielklare Fortsetzung des Ausstandes nicht mehr gedacht werden
konnte. Der Schwung und Enthusiasmus der ersten Streikwoche war vorbei, der
einheitliche Wille der Bewegung zerbrochen. Auch die Linksradikalen in Wiener
Neustadt, Neunkirchen und Ternitz mussten erkennen, dass ein isoliertes
Weiterstreiken im südlichen Wiener Becken keine Aussicht auf Erfolg mehr besaß.
Außerdem hatte am Abend des 21. Jänner eine Verhaftungswelle der Polizei gegen
die aktivsten linksradikalen Agitatoren eingesetzt, womit den restlichen
streikgewillten Arbeitern nunmehr die politische Leitung fehlte.
Das waren im wesentlichen die Umstände, warum der Jännerstreik letztlich
erfolglos im Sand verlief, denn von den vier genannten Forderungen ist in der
Folgezeit keine einzige von der kaiserlichen Regierung erfüllt worden.
Mit der Erklärung kann man sich aber nicht zufrieden geben, denn wenn sich, wie
von mir geschildert, zwischen Führung und Massen eine Kluft aufgetan hatte,
breite Kreise der Arbeiterschaft mit der Politik der Partei unzufrieden waren
und sich dieses Spannungsverhältnis in den Tagen des Jännerstreiks ganz offen
zeigte, erhebt sich immer noch die Frage, wie es der Sozialdemokratie gelingen
konnte, die grandiose Bewegung trotz der gegebenen Umstände und gegen den Willen
der Mehrheit der Arbeiter abzubrechen.
Die den Kern des Problems treffende Antwort gab bereits kurz nach dem 20.
Jänner Graf Wedel, der Botschafter des Deutschen Reiches in Wien. In einem
Bericht nach Berlin war es aus seiner Sicht ein – zitiere -, „glücklicher
Umstand, dass der radikalen Richtung, die unter den Massen die Oberhand hat, die
notwendige Führung“ fehlte, sprich: eine fest gefügte revolutionäre
Organisation. Da die österreichische Sozialdemokratie keine Partei mit
revolutionären Zielen war und die kleine oppositionelle Gruppe der
Linksradikalen eine revolutionäre Partei nicht ersetzen konnte, fehlte also die
„notwendige Führung“.
Die zehn Tage des Jännerstreiks waren der Höhepunkt der sozialen und politischen
Konfrontation zwischen den herrschenden Klassen und den Volksmassen in
Österreich während des 1. Weltkriegs. Im Jänner 1918 waren die objektiven
Bedingungen für eine revolutionäre Veränderung vollständig herangereift. Die
Gesamtkonstellation war günstig, vor allem, weil sich Österreich noch im Krieg
befand und eine an die Macht gekommene Arbeiterregierung, die das Land aus dem
Krieg herausgeführt, die das Selbstbestimmungsrecht für die beherrschten
Völkerschaften des Habsburgerreiches proklamiert, die die notwendigen
demokratischen und sozialen Errungenschaften durchgesetzt hätte, der
Unterstützung durch die Volksmassen ganz Österreich-Ungarns gewiss sein konnte.
Und selbst wenn die Umwälzung mit einem Kompromiss zwischen der Arbeiterklasse
und jenen Teilen des bürgerlichen Lagers geendet hätte, die unter dem Druck der
mobilisierten Massen an der Beseitigung der Dynastie und des feudalen
Obrigkeitsstaates ein Interesse haben mussten, sie also ähnlich der Revolution
des März 1917 in Russland nur bürgerlich-demokratischen Charakter gehabt hätte,
wären dem weiteren Kampf für den Sozialismus ganz andere, vielversprechendere
Perspektiven eröffnet worden, als bei passivem Warten auf das Ende des Krieges
und den Zusammenbruch des Regimes.
Es ging also im Jänner 1918 nur mehr darum, ob man gewillt war, den Kampf um die
Staatsmacht zu führen. Die einzige Kraft, die dazu imstande gewesen wäre, war
die Sozialdemokratie. Für sie stand aber diese Frage nicht zur Diskussion –
weder im Jänner 1918 noch später.
In ihrem Streben nach rascher Beilegung des Massenstreiks wurde die
Parteiführung durch eine Reihe von Faktoren begünstigt. Den Arbeitern und
Arbeiterinnen wie auch den Linksradikalen war während des Jännerstreiks nämlich
weder bewusst, wie aktuell nun die Chance einer revolutionären Transformation
war, noch waren sie auf eine solche Wendung der Dinge vorbereitet. Die
revolutionäre Situation des Jänner 1918 war objektiv, das heißt unabhängig vom
Willen einzelner Klassen und Parteien, vorhanden, sie äußerte sich aber primär
in einer revolutionären Stimmung der Arbeitermassen. Stimmungen der
Unzufriedenheit, der Empörung und des instinktiven Wunsches nach einer Änderung
der Lage sind aber etwas ganz anderes als das klare Bewusstsein von der
Notwendigkeit des Sturzes der alten Herrschaft mit revolutionären Mitteln. Eine
solche Einsicht war nur bei einer sehr kleinen Minderheit der streikenden
Arbeiterschaft vorhanden. Andererseits muss aber auch festgestellt werden, dass
in den Jännertagen eine einzige entschiedene Tat des Parteivorstandes genügt
hätte, um die revolutionäre Stimmung der Massen in revolutionäre Aktion
umschlagen zu lassen, den die Arbeiter und Arbeiterinnen, voll Hass auf den nun
schon fast vier Jahre dauernden Krieg, der ihnen so furchtbare Entbehrungen
gebracht hatte, wären einer entschlossenen Führung durch dick und dünn gefolgt.
Es steht außer Zweifel, dass die aus allen Fugen krachende Habsburgermonarchie
im Jänner 1918 am Rande des Abgrunds wandelte. Ein historisch überholtes Regime
fällt aber selbst in der tiefsten gesellschaftlichen Krise nicht automatisch,
sondern nur, wenn man es durch einen zielstrebigen Kampf um die Macht zu Fall
bringt. Diese Erkenntnis hätte den Massen nur eine revolutionäre Partei
vermitteln können. Da eine solche nicht existierte, war – kaum glaublich, aber
in sich völlig logisch – der Wille einer Handvoll sozialdemokratischer
Spitzenfunktionäre stärker als die Stimmung hunderttausender streikender
Arbeiter.
Dazu kam, dass die Sozialdemokratie, die um die Jahreswende 1917/18 unter dem
Eindruck der sozialistischen Oktoberrevolution und der schnellen Zuspitzung der
Lage in Österreich zeitweilig irritiert schien, unsicher agierte und eine Reihe
von Fehlern machte, in den Jännertagen all ihre Energien wiederfand. Ihre
Stärke, die im geschmeidigen Reagieren auf Massenstimmungen bestand, im Anpassen
an überraschende Wenden der Lage, die im Sinne dämpfenden Begrenzens auf
reformerische Ziele und Kompromissergebnisse verwertet wurden, vermochte sie nun
voll auszuspielen.
Das sind die Gründe, warum der Jännerstreik so und nicht anders ablief, obwohl
ein anderes Ergebnis von den objektiven Voraussetzungen her möglich gewesen
wäre. Es hat, mit einem Wort, der subjektive Faktor, der ebenfalls für
grundlegende gesellschaftliche Veränderungen unabdingbar ist, gefehlt.
Trotzdem: Die Erinnerung an diese große Kampfaktion der österreichischen
Arbeiterklasse kann uns auch heute noch Mut und Hoffnung geben, weil sie zeigt,
dass unser Land und unser Volk auch revolutionäre Traditionen besitzen.
Sie von der herrschenden Meinungsmache nicht unter den Teppich kehren zu lassen,
sondern sie hochzuhalten und an ihre Erfahrungen anzuknüpfen, soll und muss
unsere Aufgabe sein.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Vortrag auf der Veranstaltung der Alfred Klahr Gesellschaft am 18. Jänner
2008 im Café 7Stern
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