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Hans Hautmann: Klassenjustiz in der Ersten Republik
Die Ereignisse des 15. Juli 1927 in Wien sind ohne die Vorgeschichte nicht zu
verstehen, und mein einleitendes Referat widmet sich dieser Vorgeschichte. Der
spontane Ausbruch der Massenempörung der Wiener Arbeiterschaft an diesem Tag war
nämlich in erster Linie eine Reaktion auf Gerichtsurteile, die bereits in den
Jahren vorher wachsende Verbitterung und Wut hervorgerufen hatten, so sehr, dass
das Urteil im Schattendorf-Prozess dann das Fass endgültig zum Überlaufen
brachte.
Die Arbeiterschaft erblickte in diesen Urteilen eine Manifestation der
Klassenjustiz. Klassenjustiz ist ein marxistischer Begriff, der besagt, dass in
einer Klassengesellschaft die beherrschten Klassen schärfer durch Gesetze,
Rechtsprechung, Strafverfolgung und Strafvollzug getroffen werden als die
Angehörigen und Sympathisanten der herrschenden Klassen. Laut Marx und Engels
(auch Karl Liebknecht hat dazu Wichtiges und Grundsätzliches gesagt) erfolgt in
jeder Klassengesellschaft durch Gesetzgebung und Rechtsprechung die staatlich
garantierte Anwendung der Rechtsnormen im Interesse der herrschenden Klasse und
wird in der bürgerlichen Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zur
Durchsetzung von Kapitalinteressen instrumentalisiert.
Von den Juristen, den Richtern, Staatsanwälten, Rechtsprofessoren auf
akademischem Boden usw. wird der Begriff Klassenjustiz in Bausch und Bogen
abgelehnt, er als denunziatorischer Slogan der „Linken“ hingestellt und sein
Vorhandensein vehement bestritten. Nach marxistischer Auffassung wird aber unter
Klassenjustiz keineswegs eine automatische Anwendung von offen für „die da oben“
Partei ergreifendem Klassenrecht und auch nicht eine permanente bewusste
Rechtsbeugung verstanden. Es kann deshalb in einem Klassenstaat durchaus auch
Freisprüche für „Linke“ oder harte Urteile gegenüber Besitzenden geben. Ein
Beispiel für Ersteres sind die Nachfolgeprozesse vor Geschworenengerichten gegen
einige der Demonstranten des 15. Juli 1927 wegen Aufruhrs, die allesamt mit
Freisprüchen endeten, darunter auch der Prozess wegen „Störung der öffentlichen
Ruhe“ gegen Johann Koplenig wegen seiner Rede beim Begräbnis der Opfer der
Gewehrsalven der Polizei auf dem Wiener Zentralfriedhof.
Diese Ausnahmen sind aber für den Begriff Klassenjustiz und für die objektive
Funktion der Justiz in einem Klassenstaat irrelevant. Das Wesen der
Klassenjustiz liegt nicht in der Behandlung des einzelnen
Angehörigen einer unterdrückten Klasse oder Sozialschicht, sondern in der Art
der Behandlung des Einzelnen als Teil seiner Klasse.
Für Österreich in der 1. Republik war kennzeichnend, dass die Zusammensetzung
der Richter- und Staatsanwaltschaft gegenüber den Zeiten der Monarchie praktisch
unverändert blieb und ebenso ihre soziale Herkunft aus dem
bürgerlich-konservativen Milieu. Das Richteramt wird in aller Regel von
Angehörigen der herrschenden Klasse ausgeübt.
Die Richter und Staatsanwälte sind zwar nicht Eigentümer von Produktionsmitteln
und gehören deshalb nicht zum Kern der herrschenden Klasse. Zur
Aufrechterhaltung der Klassenjustiz ist das aber gar nicht notwendig!
Entscheidend ist die juristische Ausbildung und die Funktionsweise des
Justizapparats mit seinen Auswahlkriterien, seinem Beförderungssystem etc., die
einen bestimmten Typ von Staatsdienern prägen. Diese – mit marginalen
Ausnahmen – einheitliche Zusammensetzung des Justizapparats und der Richter- und
Staatsanwaltschaft ist der lebendigste Beweis für das System der
Klassenjustiz, denn diese muss im Interesse des Klassenstaates möglichst
reibungslos funktionieren.
Als äußere Erscheinungen der Klassenjustiz sind anzuführen:
1. dass Polizei und Staatsanwaltschaft bereits im Vorfeld des eigentlichen
Prozesses nach klassenmäßigen Gesichtspunkten bei der Anklage oder Nicht-Anklage
selektieren;
2. die Art und Weise der Behandlung des oder der Angeklagten in der
Prozessführung;
3. das Verhalten des Richters gegenüber der Verteidigung, z.B. durch Ablehnung
von Beweisanträgen;
4. die Zeugenauswahl und die Bewertung von Zeugenaussagen (Polizeiliche Aussagen
gelten mehr als die von Zivilisten, besonders von solchen, die aus dem gleichen
Milieu wie der oder die Angeklagte stammen);
5. die Art der Gesetzesauslegung und des Ermessensspielraums bei der Höhe der
Strafe; und schließlich
6. die Funktion der Urteile einerseits im Sinne der Aufrechterhaltung der
Klassenherrschaft, z.B. bei politischen Prozessen, und andererseits im Sinne des
Interessensschutzes der ökonomischen Herrschaft der Bourgeoisie (z.B. bei
Eigentums- und Vermögensdelikten oder bei Sprüchen im Bereich des Arbeitsrechts,
etwa bei der Einschränkung des Streikrechts, der Legalisierung der
Aussperrungspraktiken der Unternehmer usw.
Damit aber genug der einführenden theoretischen Worte zum Thema Klassenjustiz.
Wie hat sie nun in der 1. Republik in der Praxis ausgesehen? Dazu möchte ich
fünf Fälle kurz schildern, die seinerzeit großes Aufsehen erregten und die
Arbeiterschaft zutiefst empörten, die Fälle Birnecker, Still, Kovarik, Müller
und Mohapl.
1. Fall, der Fall Birnecker am 17. Februar 1923.
An dem Tag fand eine Monarchistenversammlung unter dem Versammlungsschutz der
bewaffneten Saalschutzgarde „Ostara“ in Wien-Hietzing, Gasthaus Zehetner statt.
Sozialdemokratische Arbeiter zur Versammlungssprengung aufmarschiert, darunter
der 44jährige Franz Birnecker, Betriebsrat bei den Semperitwerken und
Vorstandsmitglied der sozialdemokratischen Gewerkschaft der Chemiearbeiter.
Zusammenstoß nach Ende der Versammlung in der Straßenbahn. Ostara-Leute
schießen, ohne tätlich angegriffen worden zu sein, auf die bei einer Haltestelle
stehenden, aus der Straßenbahn ausgestiegenen Arbeiter. 20 Schüsse aus Pistolen!
Birnecker getötet, zwei weitere schwer verletzt.
Danach Welle von stürmischen sozdem. Protestversammlungen; Massenkundgebung beim
Begräbnis Birneckers.
Vom 17. bis 19. Mai 1923 Prozess vor einem Schöffensenat. „Sei es infolge der
Schwierigkeit der eindeutigen Klärung der Schuldfrage, sei es infolge der
Parteilichkeit der Richter, der Gerichtshof fällte eines jener milden Urteile,
wie sie in den nächsten Monaten und Jahren bei politischen Gewalttaten der
Regelfall werden sollten.“ (Botz, S. 96) Der Hauptbeschuldigte, Johann Czermak,
kam trotz Schuldspruchs wegen des Verbrechens der Tötung mit einer 2jährigen
Kerkerstrafe davon, vier andere Ostara-Leute mit Arreststrafen von einer Woche
bis zu 2 Monaten. „Bemerkenswert ist, dass sich die beiden Schöffen, ein
Schriftsetzer und ein Metallgießer, für eine strengere Strafe ausgesprochen
hatten, die Berufsrichter mit den Schuldigen jedoch milder verfahren waren.“
(Ebenda)
2. Fall, der Fall Still am 4. Mai 1923
Hier kam es an dem Tag zu einer Versammlung der österreichischen
Nationalsozialisten in Wien-Favoriten, „Rosensäle“. Protestierende sozdem. und
komm. Arbeiter vor dem Lokal. Unter Schutz der Polizei verließen die ca. 150 bis
200 Nazis die Rosensäle durch die Hintertür. Um 20 Uhr Zusammenstoß in der
Landgutgasse. Nazis schießen auf die sie verfolgenden Arbeiter. Getroffen der
24jährige soz.dem. Ordner Karl Still, von Beruf Eisenbahnschaffner. Starb 15
Tage später (gerade an dem Tag, als das Urteil im Birnecker-Prozess bekannt
wurde.)
Prozess gegen die Nazis erst über ein Jahr später, am 19. Mai 1924
(Schwurgerichtsverhandlung). „Das Urteil gegen den Hauptangeklagten Herterich
lautete wegen ‚Übertretungen a) gegen die körperliche Sicherheit nach § 431 StG.,
b) nach §§ 32 und 36 des Waffenpatents’ auf 100.000 Kronen Geldstrafe, im
Nichteinbringungsfall 48 Stunden Arrest sowie Ersatz der Prozesskosten. Als
Vergleich: 100.000 Kronen war damals in der Zeit der Inflation auch die Strafe,
die über Autofahrer wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen oder über die
Hausbesorger, die bei Glatteis auf den Gehsteig nicht Sand gestreut hatten,
verhängt wurde.“ (Botz, S. 99) Der zweite Nazi-Beteiligte, Nosko, wurde zu
50.000 Kronen Geldstrafe oder zu 24 Stunden Arrest verurteilt worden.
3. Fall, der Fall Kovarik am 30. September 1923
Erneut gab es an dem Tag eine Nazi-Versammlung in einem Gasthaus in Spillern (Arbeiterort
zwischen Korneuburg und Stockerau). Lokal daraufhin von ca. 50 bis 100 Arbeitern
umlagert. Nazis sagten auf Intervention des Ortsgendarmen die Versammlung ab und
marschierten auf der Straße Richtung Wien. Arbeiter folgen – Beschimpfungen und
Steinwürfe. Mehrere Nazis schießen mit Revolvern, 32 Schüsse! Getroffen neben
einem anderen, dem 17jährigen Tischlerlehrling Rudolf Wimmer, der aber nur
leicht durch Streifschuss verletzt wurde, der 16jährige Landarbeiter Rudolf
Kovarik durch Kopfschuss (sofort tot).
Prozess am 11. Dezember 1923 (Geschworenengerichtsprozess). Urteil über alle 5
Angeklagten: geringe Geldstrafen wegen Übertretung des Waffenpatents. „Für alle
fünf Angeklagten des Verfahrens hatten die Geschworenen die Schuldfrage nach §
87 des Strafgesetzes (Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit) und die
Eventualfrage nach § 431 (vorsätzlich begangene Handlung gegen das Leben oder
die Gesundheit anderer) mit großer Stimmenmehrheit verneint.“ (Botz, S. 102)
4. Fall, der Fall Müller am 21. Mai 1925
An dem Tag fand eine Totenfeier des „Bund Oberland“ auf dem Eichkogel bei
Mödling statt. Der Einladung folgten über 1000 militärisch ausgerüstete
Angehörige verschiedener rechtsradikaler Organisationen, darunter 50 Wiener
Mitglieder des Wehrbundes „Rheinland“, hervorgegangen aus dem „Freikorps
Rossbach“. Die gingen nach Ende der Versammlung Richtung Mödlinger Bahnhof.
Ihnen stellten sich in den Straßen soz.dem. Arbeiter entgegen. Als diese, die
bewaffneten „Rheinländer“ erkennend, flüchteten, schossen ihnen diese nach. „Der
sozialdemokratische Gemeinderat von Mödling, Leopold Müller, wurde eingeholt,
niedergeschlagen und durch Spatenhiebe und Messerstiche so schwer verletzt, dass
er wenige Tage später seinen Verletzungen erlag.“ (Botz, S. 103) Große Erregung
unter der Arbeiterschaft in Wien und in den Industriezentren des Wiener Beckens.
Im Dezember 1925 eine zweiwöchige Schöffengerichtsverhandlung gegen 6
„Rheinländer“. Urteil: ein Jahr bzw. 2 bzw. 8 Monate schweren Kerkers wegen
schwerer körperlicher Beschädigung, die anderen 3 wegen Übertretung der
körperlichen Sicherheit und des Waffenpatents zu 2 bis 6 Wochen strengen
Arrests. Erneut ein überaus mildes Urteil.
5. und letzter Fall, der Fall Mohapl am 1. August 1925.
Ich führe ihn an, weil er zeigt, wie das gleiche Delikt, begangen von einem
„Linken“ an einem Angehörigen des Bürgertums, eine ungleich härtere Strafe nach
sich zog und damit in den Augen der Arbeiterschaft die Praxis der Klassenjustiz
schlagend bestätigte.
Mohapl, der 21jährige Sohn eines Kohlengroßhändlers in Wien-Leopoldstadt und
Mitglied des katholischen Turnerbundes, provozierte an diesem 1. August 1925
durch halblautes Lachen und spöttisches Reden während einer öffentlichen
Versammlung von Sozialdemokraten und Kommunisten auf dem Praterstern. (Der 1.
August, der Tag des Ausbruchs des 1. Weltkrieges, wurde in den 20er Jahren von
den Arbeitern in Form von Anti-Kriegskundgebungen begangen.) Mohapl flüchtete,
als er von den Versammlungsteilnehmern bedroht wurde, in die Novaragasse. Dort
eingeholt, wurde er von dem Hilfsarbeiter Franz Seidl, einem polizeibekannten
Gewalttäter und Zuhälter, erstochen. Dabei auch mehrere Sozialdemokraten und
Kommunisten. Diesmal wütende Artikel in den rechten Zeitungen. Reichspost: „Von
Sozialisten hingeschlachtet.“
Ganz konträres Urteil.
Seidl von einem Geschworenengericht zu 12 Jahren schweren verschärften Kerkers
verurteilt. „Der einzige Fall in der Geschichte der Justiz der Ersten Republik,
in dem ein politischer Mord so streng geahndet wurde. Vier mitbeschuldigte 18-
bis 25jährige Männer, denen nur nachgewiesen werden konnte, hinter Seidl
hergelaufen zu sein, wurden zu 6 bzw. 4 Monaten schweren Kerkers verurteilt.“ (Botz,
S. 107)
So sah sie also aus, die Klassenjustiz in der 1. Republik, die im Urteil des
Schattendorf-Prozesses ihre Fortsetzung fand, was dann die blutigen Ereignisse
des 15. Juli 1927 auslöste. Damit schließe ich und übergebe das Wort an den
Referenten zu diesem Thema, Winfried Garscha.
Referat auf der Veranstaltung der Alfred Klahr Gesellschaft "15. Juli
1927. Das Polizeimassaker vor dem Justizpalast“ am 14. Juni 2007 im Café Rathaus
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