Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung Drechslergasse 42, A–1140 Wien Tel.: (+43–1) 982 10 86, E-Mail: klahr.gesellschaft@aon.at
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Claudia Kuretsidis-Haider: Die von der Moskauer Konferenz am 1. November 1943 verabschiedete „Erklärung über die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Gräueltaten“Genese, Kontext, Auswirkungen und StellenwertEine Woche vor Beginn der Moskauer Konferenz schickte der britische Premierminister Winston Churchill an den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der UdSSR, Josef W. Stalin, eine Botschaft mit folgender Bitte: „Würden Sie so freundlich sein und prüfen, ob es nicht
zweckmäßig wäre, etwas wie das Folgende mit unseren drei Unterschriften
versehen zu veröffentlichen: Und an einer anderen Stelle weiter: „In dem Moment, da einer beliebigen in Deutschland gebildeten Regierung ein beliebiger Waffenstillstand gewährt wird, werden alle jene deutschen Offiziere und Soldaten sowie Mitglieder der Nazipartei, die für die oben erwähnten Grausamkeiten, Massaker und Exekutionen verantwortlich waren oder an ihnen freiwillig teilgenommen haben, in jene Länder zurückgeschickt, in denen sie diese abscheulichen Taten begangen haben, damit sie nach den Gesetzen dieser befreiten Länder und den dortigen freien Regierungen abgeurteilt und bestraft werden. Es werden Listen mit allen nur möglichen Einzelheiten zusammengestellt, die man von diesen Ländern erhalten hat, insbesondere aus den okkupierten Teilen der Sowjetunion, Polens, der Tschechoslowakei, Jugoslawiens und Griechenlands, einschließlich Kretas und anderer Inseln, Norwegens, Dänemarks, den Niederlanden, Belgiens, Luxemburgs, Frankreichs und Italiens.“2 Churchill schloss seine Botschaft an Stalin mit der Hoffnung: „Wenn irgend etwas in dieser Art (ich bestehe nicht ausdrücklich
auf diesen Formulierungen) mit unseren drei Unterschriften [die Unterschriften
der drei Regierungschefs - CKH] versehen, veröffentlicht werden könnte, so würde
das meines Erachtens bei einigen dieser Halunken Befürchtungen hervorrufen,
dass sie in diese Bluttaten hineingezogen werden könnten, besonders jetzt, da
sie wissen, dass sie besiegt werden. Am 23. Oktober 1943 - am Rande der Moskauer Konferenz - trafen der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR Molotow und der amerikanische Außenminister Hull zu einem informellen Gespräch zusammen. Dabei teilte Molotow seinem Amtskollegen mit, dass Stalin „im Prinzip nichts gegen die Unterzeichnung einer Erklärung über die Grausamkeiten der Deutschen einzuwenden habe. Es könne dabei lediglich um einige kleine Änderungen gehen“.4 Zwei Tage später überreichte der stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR Wyschinski den Botschaftern Großbritanniens und der USA Kerr und Harrimen ein Aide-memoire folgenden Wortlautes: „Die Sowjetregierung stimmt dem von Premierminister Herrn W.
Churchill in der Botschaft vom 13. Oktober an Premier J. Stalin unterbreiteten
Entwurf einer Deklaration der Regierungen Großbritanniens, der Vereinigten
Staaten von Amerika und der Sowjetunion mit folgenden Änderungen zu: Zur Unterstreichung der Bedeutung der „Erklärung über die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Gräueltaten“, die von allen drei Regierungen getragen wurde, vereinbarten Molotow, Eden und Hull in der 12. Sitzung der Konferenz am 30. Oktober, diese mit den Unterschriften von Franklin D. Roosevelt, Josef W. Stalin und Winston Churchill zu veröffentlichen.6 Gleichzeitig verständigte man sich aber dahingehend, dass die Drei nicht persönlich unterschreiben brauchten.7 Die Erklärung über die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Gräueltaten stand während der Moskauer Konferenz nicht auf der Tagesordnung der Gespräche, sondern man einigte sich darüber in am Rande geführten Gesprächen bzw. im Zuge diverser Treffen von Vertretern aller drei Regierungen. Das entscheidende der Übereinkunft war, dass Kriegsverbrecher, die für Massenexekutionen und Gräuel auf den von der Hitlerarmee besetzten Territorien verantwortlich sind, „an die Stätten ihrer Verbrechen zurückgeschickt und an Ort und Stelle von den Völkern abgeurteilt werden, denen sie Gewalt angetan haben“. Weiters wurde festgestellt, dass die Hauptkriegsverbrecher, deren Verbrechen an keinen bestimmten geografischen Ort gebunden sind, durch eine gemeinsame Entscheidung der Regierungen der Alliierten verurteilt und bestraft werden sollten. Unterzeichnet wurde die Erklärung schließlich neben der Deklaration der drei Staaten über allgemeine Sicherheit, der Deklaration über Italien und der Erklärung über Österreich unmittelbar nach dem Abschluss der Moskauer Konferenz am 1. November 1943. So weit zu den Fakten. Die Sicherung von Rechtspositionen der Zivilbevölkerung und
der Kriegsgefangenen war - damals erstmals in der Geschichte - Inhalt der Genfer
(„Rotkreuz“-) Konvention 1864. Internationalen Durchbruch erlangte die Ächtung
von Kriegsverbrechen 1899 in Den Haag mit der Unterzeichnung eines „Abkommens
betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges“, u. a. durch die USA
und 19 europäische Staaten, dem 1907 eine zweite Haager Konvention mit im
Wesentlichen gleichen Inhalt folgte, die von über 40 Nationen unterzeichnet
wurde. Allerdings beinhalteten beide Konventionen weder die Mittel ihrer
Durchsetzung noch Strafen für ihre Verletzung.8 Weitere Fortschritte
bei der Entwicklung eines „humanitären Kriegsvölkerrechts“ stellten zwei
weitere Genfer Konventionen sowie die Errichtung einer Expertenkommission durch
die Carnegie Endowment for International Peace9 1913 in
Washington dar, die u. a. die Möglichkeiten zur Verhinderung von Gräueltaten,
wie sie im Zuge der Balkankriege 1912 verübt worden waren, erforschen sollte.10 Es waren also vor allem die Briten, die im 1. Weltkrieg die Installierung eines Internationalen Strafgerichtshofes anstrebten, und sie waren mit diesem Ansinnen gescheitert. Ebenso gab es bereits damals Überlegungen zur Einrichtung nationaler Gerichtshöfe. Anfang 1940 meldete die US-Botschaft in Berlin die umfassende Deportation von Juden und Jüdinnen nach Polen.21 Dem folgten immer mehr Berichte über Gräueltaten, nicht zuletzt durch aus Konzentrationslagern geschmuggelte Informationen. Trotz des mit nichts in der Geschichte vergleichbaren Ausmaßes an Kriegs- und Humanitätsverbrechen war der Holocaust und der Völkermord an den Sinti und Roma, die massenweise Ermordung ausländischer - vor allem russischer - ZwangsarbeiterInnen und der innere Terror gegen die deutsche Bevölkerung nicht der ausschlaggebende Faktor für die alliierten Überlegungen zur Bestrafung der nationalsozialistischen Verbrechen. Deutschland wurde zunächst als Kriegsgegner angesehen, den es zu besiegen galt. Das früheste Verlangen nach konsequenter Bestrafung der
NS-Verbrecher stammte aus jenen Ländern, die die ersten Aggressionsopfer
Hitlerdeutschlands waren.22 Im Oktober 1939 stimmten der Chef der
sich im französischen Exil befindlichen polnischen Regierung, General Wladyslaw
Sikorski und der tschechoslowakische Präsident Eduard Benesch ihre diesbezüglichen
Aktivitäten ab. Im November 1939 prangerte Sikorski im Rundfunk die in seiner
Heimat verübten nationalsozialistischen Verbrechen an und ließ im Dezember d.
J. dem britischen Außenminister Lord Halifax eine Protestnote über deutsche Gräueltaten
überreichen. Die beiden polnischen Wissenschafter Siewierski und Sliwicki
entwarfen ein Gesetz über die Bestrafung von Kriegsverbrechern, das der
inzwischen nach London übersiedelten Exilregierung übermittelt wurde und als
Dekret des Präsidenten der Republik Polen am 30.3.1942 in Kraft trat. Es
handelte sich dabei um die erste Kodifikation über die Bestrafung der für
NS-Gewaltverbrechen Verantwortlichen in den alliierten Ländern. Die neun europäischen
Exilregierungen (Norwegen, Luxemburg, Niederlande, Belgien, Tschechoslowakei,
Frankreich, Griechenland und Jugoslawien) unterhielten währenddessen als lose
Arbeitsgemeinschaft die Inter-Allied Commission on the Punishment of War
Crimes. Das Wissen über die in den besetzten Ländern verübten Verbrechen
führte zur Bildung von zwei halbamtlichen Kommissionen, die sich in London der
Kriegsverbrecherfrage widmeten: die Internationale Kommission für die
Reformierung und Entwicklung des Strafrechts (International Commission
for Penal Reconstruction and Development) an der Universität Cambridge und
die Londoner Internationale Versammlung (London International Assembly)
versuchten Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Strafverfolgung von Nazifunktionären
und ihren Kollaborateuren zu klären. Die Cambridge-Kommission kam zu dem
Schluss, dass „es keine eindeutige Befugnis für irgendein Gericht gibt, Nazis
für die zahllosen Gräueltaten, die ihre Herrschaft in den besetzten Gebieten
kennzeichnete, unter Anklage zu stellen“. Die Londoner Versammlung hingegen
machte geltend, dass der von Deutschland angezettelte Krieg ein eindeutiger
Bruch des 1928 unterzeichneten Briand-Kellog-Paktes23 war und somit
ein internationales Verbrechen darstellte. Außerdem wurde die Schaffung eines
Internationalen Strafgerichtshofes zur Ahndung von Verbrechen unabhängig von
der Zuständigkeit der alliierten Gerichte [...], in dessen Kompetenz vor allem
Verbrechen gegen Juden und Jüdinnen bzw. Staatenlose, die in den Achsenstaaten
lebten, fallen sollte, befürwortet.24 Seitens der Alliierten wandten sich die Briten - eingedenk der negativen Erfahrungen im 1. Weltkrieg - gegen die strafrechtliche Ahndung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen mittels eines internationalen Gerichtshofes, weil sie befürchteten, dass die Deutschen die Legalität des Verfahrens anzweifeln und zu einem Forum für ihre Ansprüche und zu ihrer Rechtfertigung missbrauchen würden, kurz, dass der Prozess eine Farce werden könnte.26 So äußerte der britische Außenminister Anthony Eden gegenüber Rechtsexperten des Außen- und des Kriegsministeriums die Ansicht, dass die Verfolgung von Juden und Jüdinnen sowie WiderstandskämpferInnen nach internationalem Recht nicht als Verbrechen, die vor einem Gericht zu verhandeln und abzuurteilen seien, angesehen werden könnten.27 Auch wäre laut der von Churchill und Roosevelt konzipierten Kommission zur Untersuchung der Gräueltaten (Commission on Atrocities) ein Internationaler Gerichtshof für Kriegsverbrecher zu verwerfen. Die UdSSR hingegen trat von Anfang an für die Errichtung
eines internationalen Strafgerichtshofes ein. Im Oktober 1942 drängte Außenminister
Molotow die Verbündeten zu der Erklärung, dass die deutsche Führung und ihre
„grausamen Komplizen“ benannt, verhaftet und nach dem Strafgesetzbuch
abgeurteilt werden sollten.28 Im November 1942 schlug der sowjetische
Botschafter Iwan Maiski dies in einer Note an Außenminister Eden vor. Wohl aber waren der amerikanische Präsident und der britische Premierminister der Meinung, dass nationale Gerichtshöfe zur Verurteilung weniger bedeutender Personen, denen vorgeworfen wurde, das Kriegsrecht verletzt zu haben, völlig ausreichten, während die Hauptkriegsverbrecher in einem Schnellverfahren abgeurteilt und hingerichtet werden sollten, da ihre Schuld so schwer war, „dass sie jedes Gerichtsverfahren übersteigt“.29 Dies war der Stand der Diskussion, als Winston Churchill Anfang Oktober 1943 seinen Entwurf einer „Erklärung über die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Gräueltaten“ vorlegte. Die Sowjetunion hatte zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen, ihrerseits nationalsozialistische Verbrechen gerichtlich zu ahnden. Die gesetzliche Grundlage des Strafgesetzbuches der RSFSR von 1926, das in Artikel 193 die „Militärischen Verbrechen“ zusammenfasste, wurde Anfang 1943 angesichts der strategischen Entwicklung und der erwarteten Befreiung der okkupierten Gebiete als nicht ausreichend für die strafrechtliche Verfolgung deutscher Verbrechen angesehen. Am 19. April 1943 verabschiedete das Politbüro des Zentralkomitees einen Ukaz „Über Maßnahmen zur Bestrafung der deutsch-faschistischen Übeltäter, die der Ermordung und der Misshandlung der sowjetischen Zivilbevölkerung und der gefangenen Rotarmisten schuldig sind, sowie der Spione und Vaterlandsverräter unter den Sowjetbürgern und deren Helfershelfern“.30 Der Geheimerlass begann mit den folgenden Worten: „In den durch die Rote Armee von den deutsch-faschistischen Eroberern befreiten Städten und Dörfern wurde eine Vielzahl von Tatsachen unerhörter Brutalitäten und ungeheuerlicher Gewalttaten entdeckt, die von den deutschen, italienischen, rumänischen, ungarischen und finnischen faschistischen Scheusalen, von Hitleragenten und auch von Spionen und Vaterlandsverrätern unter den Sowjetbürgern an der friedlichen Sowjetbevölkerung verübt wurden.“31 Mit der Aburteilung wurden Kriegsfeldgerichte betraut, die bei den Divisionen der Feldarmee zu bilden waren. Die Urteile sollten unverzüglich und öffentlich vollstreckt werden. Im Sommer 1943, also noch vor der Moskauer Konferenz wurde - obwohl die Kriegsfeldgerichte noch nicht eingerichtet waren - in Krasnodar ein Prozess gegen Sowjetbürger, die bei der deutschen Polizei tätig gewesen waren, also Kollaborateure, geführt, und zwar durch ein bestehendes Militärgericht.32 Der bekannteste Prozess gemäß Ukaz 43 - gegen Angehörige der Deutschen Wehrmacht - fand von 15. bis 18. Dezember 1943 in Charkow statt. Das Kriegsgericht der 4. Ukrainischen Front verurteilte einen Abwehroffizier des Dulag 205 bei Stalingrad, ein Mitglied der Gruppe 560 der Geheimen Feldpolizei und einen einheimischen „Hilfswilligen“33 zum Tod durch den Strang. Die Hinrichtung wurde am 19. 12. 1943 auf dem Roten Platz in Charkow öffentlich vollzogen und gefilmt.34 Auch die Berichterstattung in der sowjetischen Presse war sehr umfangreich. Der erhoffte Effekt der Abschreckung der Deutschen - wie es auch von Churchill als ein Ziel der Moskauer Erklärung formuliert worden war35 - trat dadurch jedoch nicht ein, wie der Leiter der UPVI (Verwaltung des NKVD [Volkskommissar des Inneren] für Kriegsgefangene und Internierte), Generalleutnant Petrov und sein Stellvertreter, Oberst Belov, im Jänner 1944 feststellten.36 Mit der Moskauer Erklärung war jedenfalls klar, dass die
Frage der Ahndung von Kriegsverbrechen nur mehr von den Großen Dreien
(Churchill, Roosevelt und Stalin) gemeinsam entschieden werden konnte. Eine
erste Gelegenheit dazu ergab sich bereits wenige Wochen später bei der
Konferenz in Teheran. Dieser Zusammenkunft lag keine feste Tagesordnung zugrunde
und die Frage der Kriegsverbrechen wurde in keiner der Plenarsitzungen
angesprochen. Allerdings kam es bei einem von Stalin ausgerichteten Dinner - wie
es Telford Taylor, Mitglied der amerikanischen Anklagevertretung in Nürnberg
(und Hauptankläger in den Nürnberger Nachfolgeprozessen), in seinem Buch über
den Nürnberger Prozess beschreibt - „zu einer bizarren Konfrontation zwischen
Churchill und Stalin“. Nachdem die Stimmung einen feucht-fröhlichen Höhepunkt
erreicht hatte, hielt Stalin eine lange Rede, in der er - mit einem Seitenblick
auf Churchill - „mit einem süffisanten Lächeln und einer lässigen
Handbewegung“ erklärte, dass 50.000 deutsche Generalstabsoffiziere liquidiert
werden sollten. Churchill fiel auf diese Stichelei Stalins herein und erklärte
zornig, dass weder er noch die britische Öffentlichkeit eine Massenhinrichtung
von Offizieren dulden würden.37 Unabhängigen Beobachtern dieser
Begebenheit zufolge wollte Stalin Churchill mit seiner Bemerkung auf die
Schwierigkeiten von Schnellhinrichtungen - wie sie die Briten für die
Hauptkriegsverbrecher nach wie vor befürworteten - hinweisen, da über kurz
oder lang dabei die Frage auftauchen musste, wer denn nun die führenden Persönlichkeiten
seien, denen die „Ehre einer Hinrichtung ohne Prozess erwiesen werden
solle“. „Uncle Joe nahm einen unerwartet überkorrekten Standpunkt ein. Es dürfe keine Hinrichtungen ohne Prozess geben, weil die Welt sonst sagen würde, wir hätten Angst, sie zu verurteilen. [...] wenn es keine Prozesse gäbe, dürfe es auch keine Todesurteile geben [...] Betrachten Sie [daher das Memorandum von Quebec] als zurückgezogen.“38 Bei der Konferenz von Jalta im Februar 1945 versuchte Churchill noch einmal einen Versuch in Richtung „Erschießung der führenden Nazis“. Stalin ignorierte diesen neuerlichen Vorstoß und Roosevelt - bereits krank - vertrat keinen eigenen Standpunkt. Damit ging auch diese Konferenz ergebnislos zu Ende. Anfang April 1945 traf ein enger Berater Roosevelts, Richter Samuel Rosenman - ein Befürworter von Schnellhinrichtungen - mit dem Kopf der provisorischen französischen Regierung Charles de Gaulle zusammen, der die Durchführung eines Prozesses den Schnellverfahren den Vorzug gab. Aber erst mit dem Tod von Präsident Roosevelt am 12. April 1945 und dem Amtsantritt von Harry Truman, der Anwalt von Beruf war, erlangte die Strategie der Errichtung eines Gerichtshofes seinen Durchbruch.39 Die Befürworter eines Strafgerichtshofes um Kriegsminister
Stimson ließen sich bei den Überlegungen über die Vorgangsweise bei dessen
Einrichtung von der UdSSR inspirieren. Bereits im November 1944 erhielt das War
Department eine ausführliche Zusammenfassung eines Buches über die
„Strafrechtliche Verantwortung der Hitler-Anhänger“, das der Leiter der
sowjetischen außerordentlichen Staatskommission für die Untersuchung der
deutschen Kriegsverbrechen, Professor Aron N. Trainin, verfasst hatte. Darin
wiederholte Trainin die sowjetische Forderung nach einem Tribunal, vor dem sich
die Hauptkriegsverbrecher wegen Verschwörung zur Führung eines Angriffskrieges
(Verbrechen gegen den Frieden) und wegen Führung dieses Krieges mit vorsätzlicher
Brutalität (Verbrechen gegen das Kriegsrecht) verantworten sollten.40 „Zu viele Menschen glaubten, die Führer des Dritten Reiches hätten ihnen Unrecht getan und wollten deshalb ein entsprechendes Gerichtsurteil (Taylor).“ Diese letzten Ausführungen betrafen die Weiterentwicklung der Diskussion jener Passage der Moskauer Erklärung, die explizit darauf hinwies, dass es dabei nicht um „die Frage der Hauptverbrecher, deren Verbrechen nicht an einem bestimmten geographischen Ort gebunden sind und die durch einen gemeinsamen Beschluss der Regierungen der Alliierten bestraft werden [sollen]“ ging. Sie waren notwendig, um den Stellenwert der Erklärung in der internationalen Auseinandersetzung mit der Frage der NS-Verbrechen verorten zu können. Betrachten wir aber den Wortlaut der Erklärung nunmehr etwas genauer. *) Auffallend ist, dass der Mord an Juden und Jüdinnen, Staatenlosen und ZivilistInnen in den Achsenstaaten nicht als Verbrechen erwähnt wurden. Es geht bei der Formulierung, dass die Alliierten Beweise für die Grausamkeiten, Massaker und kaltblütigen Massenexekutionen erhalten haben, die von den hitlerfaschistischen Streitkräften in vielen von ihnen eroberten Ländern verübt worden sind also „nur“ um die in den von den Deutschen okkupierten Gebieten lebenden ortsansässige, nicht-jüdische Bevölkerung. *) Allerdings brachte die Moskauer Konferenz 1943 den entscheidenden Wendepunkt, dass sich die Alliierten darauf einigten, Strafverfahren gegen die Naziverbrecher gemeinsam zu betreiben und die Auslieferung aller Personen, die verdächtigt waren Verbrechen begangen zu haben, an jene Staaten zu fordern, in denen sie diese Taten begangen haben sollten. *) Herausragendstes Merkmal der Moskauer Erklärung war die Unterscheidung zwischen jenen Missetätern von geringerem Format, mit denen sich nationale Gerichtshöfe befassen sollten und den „Hauptkriegverbrechern“, die „aufgrund einer gemeinsamen Entscheidung“ der Regierung der Alliierten bestraft werden sollten. Der sowjetische Generalmajor Nikischenko (Militärstaatsanwalt, Vizepräsident des sowjetischen Obersten Gerichtshofes und Chefankläger der UdSSR in Nürnberg) betonte diesbezüglich bei der Internationalen Konferenz über Militärprozesse im Londoner Church House im Juni 1945, dass ein Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher eine gemeinsame Aufgabe der Vereinten Nationen sein müsse, wie dies bereits die Moskauer Erklärung festgelegt hatte. Die Diskussion der Alliierten bezüglich der Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher ist bereits oben angesprochen worden. Aber von mindestens gleicher Bedeutung ist die Festlegung darauf, dass nationale Gerichtshöfe eingerichtet und mutmaßliche NS-Täter dorthin ausgeliefert werden sollten. Dies wurde auch im Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August 194541 bestätigt: „In Anbetracht [...] der Vereinbarung, dass die Moskauer
Deklaration nicht die Gruppe der Hauptkriegsverbrecher betreffen sollte, für
deren Verbrechen ein geografisch bestimmter Tatort nicht gegeben ist und die gemäß
einer gemeinsamen Entscheidung der Regierungen der Alliierten bestraft werden
sollen [wurde folgendes Abkommen geschlossen]. Das heißt, es wurde auch im Zuge der Diskussionen um die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes nochmals die Bedeutung der nationalen Gerichtshöfe betont. Eine derartige Zuständigkeitsformel fehlte im übrigen bei den Tokioter Prozessen42 betreffend japanische Kriegsverbrechen, die für die Weiterentwicklung des internationalen Völkerstrafrechtes mindestens die gleiche Bedeutung haben wie die Nürnberger Prozesse. Wie hat es nun mit der Absichtserklärung ausgesehen, nationale Gerichtshöfe zu installieren. Tatsächlich gab es in fast allen europäischen Ländern derartige Einrichtungen, diese aufzuzählen hier aber nicht der Platz ist. Exemplarisch soll aber auf vier Länder und hier insbesondere auf die Frage der Auslieferung all „jener deutschen Offiziere und Soldaten sowie Mitglieder der Nazipartei, die für [...] Grausamkeiten, Massaker und Exekutionen verantwortlich waren oder an ihnen freiwillig teilgenommen haben“, wie es in der Moskauer Erklärung heißt, näher eingegangen werden. Beginnen wir mit jenem Land, das - aufgrund der leidvollen Erfahrung mit der deutschen Okkupation - als erstes die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen gefordert hatte, nämlich mit Polen. Rechtsgrundlage für die Ahndung von NS-Verbrechen in Polen43 war das am 31. August 1944 von der „Lubliner Regierung“ erlassene und mehrfach novellierte „Dekret über die Strafzumessung für die faschistisch-nazistischen Verbrecher, die sich der Mordtaten und der Misshandlung der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen schuldig gemacht haben, sowie für die Verräter des polnischen Volkes“. Geahndet wurden die Verbrechen von drei verschiedenen Gerichtstypen. Einer davon war das am 22. Jänner 1946 gebildete Oberste Volkstribunal („trybuna narodowy“). Die ihm geltenden Verfahrensvorschriften lehnten sich an jene des Nürnberger Prozesses an und wichen vom polnischen Strafprozessrecht ab. Die Urteile wurden von drei Berufs- und vier Laienrichtern rechtskräftig gesprochen, Vorsitzender war der erste Präsident des Obersten Gerichtshofes. Die Verurteilten hatten das Recht, ein Gnadengesuch einzubringen. Vom Obersten Volkstribunal wurden sieben große Prozesse geführt.44 Gegen den45: Es waren noch zahlreiche andere Prozesse geplant, doch entsprachen die westlichen Besatzungsmächte vielfach nicht den Auslieferungsbegehren. Das geschah meist mit der Begründung, die Betroffenen würden von den US-Ermittlern noch benötigt, Polen möge das Ersuchen später noch einmal wiederholen. SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS und Polizei Erich Julius Eberhard von dem Bach-Zelewski ist beispielsweise sogar nach Polen überstellt worden, aber mit der Auflage der Rücklieferung. Das entsprach dem vom Alliierten Kontrollrat für Deutschland erlassenen Gesetz Nr. 10, wonach Beschuldigte ins Ausland zu überstellen waren, wenn Vorkehrungen für deren „Rückkehr nach der auswärtigen Verhandlung getroffen sind“. Neben dem Obersten Volkstribunal gab es noch Sondergerichte, die aus einem Berufsrichter und zwei SchöffInnen zusammengesetzt und die an die polnische Strafprozessordnung gebunden waren. Diese Gerichte bewältigten den Großteil der wegen NS-Verbrechen in Polen geführten Verfahren. Das erste Sondergerichtsverfahren fand bereits zwischen dem 27. 11. und dem 2. 12. 1944 vor dem Sondergericht Lublin gegen fünf SS-Leute (Hermann Vogel, Wilhelm Gerstenmeier, Anton Fernes, Theodor Schmoelen und Heinz Stalys) des Vernichtungslagers Majdanek statt, die allesamt zum Tode verurteilt wurden.48 Ordentliche polnische Gerichte schließlich verurteilten u.
a.: Mehr als jeder dritte der in Polen verurteilten deutschen NS-Täter
ist von den vier Besatzungsmächten dorthin überstellt worden: Stanislaw Kaniewski, der ehemalige stellvertretende Leiter der Hauptkommission zur Untersuchung von NS-Verbrechen („Glówna Komisja“) in Warschau, beziffert die Zahl der in Polen durchgeführten Gerichtsverfahren zwischen 1945 und 1996 mit mehr als 12.300, im Zuge derer 5.340 Personen wegen „Kriegsverbrechen und Straftaten gegen die Menschlichkeit“ verurteilt worden sind.50 Der Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft in der ehemaligen DDR, Günther Wieland, gibt an, dass polnische Gerichte 5.385 Deutsche und Österreicher unter dem Vorwurf der Begehung von „Naziverbrechen“ verurteilten.51 Größer als in Polen war die Zahl der in der Tschechoslowakei verurteilten Deutschen, wobei aber hier die genaue Aufschlüsselung der Staatszugehörigkeit der Angeklagten unterblieb. Zu den 33.463 wegen NS-Verbrechen Verurteilten zählten wahrscheinlich ca. 16.000 Deutsche, darunter so bekannte Personen der Reichsprotektor von Böhmen, SS-General Kurt Daluege52, Eichmann-Komplize Dieter Wisliceny und Heinrich Jöckel (Kommandant des SD-Gefängnisses „Kleine Festung Theresienstadt“)53. In der Tschechoslowakei54 wurde am 19. Juni 1945 im
Rahmen der Benes-Dekrete das so genannte Retributionsdekret über „die
Bestrafung nazistischer Verbrecher, Verräter und ihrer Helfershelfer sowie über
die außerordentlichen Volksgerichte“55 („národní soud“)
erlassen.56 Es handelte sich dabei um ein rückwirkendes Strafgesetz
auf der Grundlage der geltenden Strafprozessordnung57, bei dem das
Rechtsmittel der Berufung ausgeschaltet war. Das außerordentliche Volksgericht
übte seine Gerichtsbarkeit in fünfköpfigen Senaten am Sitz der Kreisgerichte
aus, bestehend aus einem Vorsitzenden (dieser musste Zivil- oder Militärrichter
sein) und vier LaienrichterInnen.58 Aber nicht nur in osteuropäischen Ländern wurden auf die geschilderte Art und Weise nationalsozialistische Verbrechen strafrechtlich verfolgt. In Frankreich62 beispielsweise wurden mit Erlass vom 26. Juni 1944 spezielle Gerichtshöfe („cours de justice“) eingerichtet, die aus einem Richter und vier SchöffInnen, die die Befreiungskomitees der einzelnen Departements entsandten, bestanden. Gesetzliche Grundlage für die Ahndung von NS- und Kollaborationsverbrechen waren die Artikel 75ff. des französischen Strafgesetzbuches, die bereits vor Beginn des 2. Weltkrieges verschärft wurden. Dazu kamen rückwirkend noch Modifikationen, wie beispielsweise die Unterstrafestellung von Denunziation. Die Kompetenz der „cours de justice“ ging später auf die ständigen Militärgerichte über, die bis 1954 die letzten Kollaborationsfälle erledigten. Die Militärgerichte waren auch für die Ahndung von Kriegsverbrechen der deutschen und italienischen Besatzungsmächte zuständig und verurteilten neben Tausenden Deutschen u. a. auch einige Österreicher. Von den „cours de justice“ wurden gegen ca. 50.000 Personen Verfahren wegen Kollaboration und Kriegsverbrechen durchgeführt, rund 800 der ca. 7.000 Todesurteile wurden vollstreckt. In den Niederlanden63 wurde nach einer ersten Phase
der „wilden Säuberung“ 1945, im Zuge derer ca. 120.000 Personen wegen des
Verdachts der Kollaboration interniert waren, eigene Sondergerichte (basierend
auf der geltenden Strafprozessordnung für Hochverrats- und
Kollaborationsverbrechen mit einer Berufungsmöglichkeit zweiter Instanz) sowie
„Tribunale“ und Laiengerichte (Volksgerichte) für leichtere Fälle - auf
der Grundlage von rückwirkenden Gesetzen - installiert. Die 19 Volksgerichte
nahmen ihre Arbeit im Juli 1945 auf und waren bis 1948 tätig, dann wurden ihre
Aufgaben von der ordentlichen Justiz wahrgenommen. Die Kompetenzen der im
September 1945 installierten Sondergerichte gingen 1950 auf die Justizbehörden
über.64 Der Gros der Verfahren wurde bis 1948 durchgeführt. Auch in Österreich, das wie gesagt in der Moskauer Erklärung
keine Erwähnung fand, gab es zwischen 1945 und 1955 eigene Gerichte zur Ahndung
von NS-Verbrechen, die so genannten Volksgerichte, die an die österreichische
Strafprozessordnung gebunden waren, aber auf der Grundlage eigens dafür
verabschiedeter Gesetze (dem Verbotsgesetz und dem Kriegsverbrechergesetz) Recht
sprachen. Ihre Geschichte hier dazulegen würde zu weit weg führen, weshalb auf
die einschlägigen Publikationen der Autorin69 sowie auf die website
der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz70
verwiesen sei. Erstens: Zur Frage der österreichischen Täter, die auf österreichischem Territorium Verbrechen begangen hatten, sich aber in alliierter Kriegsgefangenschaft befanden. Die alliierten westlichen Besatzungsmächte anerkannten die österreichischen Volksgerichte nicht von Anbeginn ihrer Tätigkeit, also Sommer 1945, an, sondern erst, nachdem sie der Provisorischen Regierung Ende 1945 ihre Zustimmung erteilt hatten. Aber auch danach befanden sich - beispielsweise in amerikanischem Gewahrsam - zahlreiche Personen, gegen die bereits seit Wochen von österreichischen Behörden ermittelt wurde. Die Kommunikation zwischen den Amerikanern und den zuständigen österreichischen Stellen war teilweise so schlecht, dass diese Personen, die bereits im Lager Marcus W. Orr in Glasenbach einsaßen wieder freiließen, obwohl bereits seit längerem die Fahndung ausgeschrieben war und österreichischerseits erste Ermittlungen gepflogen wurden. Erst Anfang März 1946 lieferten die Amerikaner mutmaßliche österreichische Kriegsverbrecher an das Landesgericht Wien aus.71 Justizminister Josef Gerö sprach deshalb in einer Pressekonferenz Ende April 1946 in Graz die Schwierigkeiten bei der Überstellung von durch die westlichen Alliierten angehaltenen Personen an. Trotz starkem Drängen des Justizministeriums und trotz positiver Zusagen würde es immer wieder zu Verzögerungen bei der Auslieferung von NS-Verbrechern kommen.72 Auch Anfang Juli 1946 hatte sich die Situation anscheinend noch nicht wesentlich verändert. Bei einer Pressekonferenz mit Vertretern der in- und ausländischen Presse im Bundeskanzleramt erläuterte der Justizminister ausführlich die Probleme, die sich hinsichtlich der Überstellung seitens der Alliierten ergaben. Bis auf die sowjetische Besatzungsmacht, die auf dem Standpunkt stand, nur für Fälle zuständig zu sein, die ihre eigenen Interessen betrafen, waren sich die Franzosen, Briten und Amerikaner - nach wie vor misstrauisch gegenüber der österreichischen Regierung - nicht einig, ob sie NS-Täter der österreichischen Gerichtsbarkeit überlassen sollten oder nicht. Gerö forderte deshalb die alliierten Behörden auf, sich endlich „zu einer diesbezüglichen radikalen Lösung“ zu entschließen.73 Seitens der sowjetischen Besatzungsmacht gibt es - laut Auskunft des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Kriegsfolgenforschung - einen einzigen Fall, wo ein mutmaßlicher österreichischer Kriegsverbrecher, der von einem Volksgericht beschuldigt wurde, in Österreich Verbrechen begangen zu haben, auf Ansuchen des österreichischen Justizministeriums nach Österreich ausgeliefert wurde. Im Zuge des so genannten „4. Engerau-Prozesses“ betreffend die Ermordung ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter beim Südostwallbaue zu Kriegsende erhob die Staatsanwaltschaft Wien schwere Vorwürfe gegen den ehemaligen SA-Unterabschnittsleiter Gustav Terzer, der lange Zeit unauffindbar blieb. Der ermittelnde Staatsanwalt wandte sich deshalb an die „Rechtshilfeabteilung der Sowjetischen Sektion der Alliierten Kommission für Österreich“ mit der Bitte um Hilfe bei dessen Ausforschung.74 Die Rechtshilfeabteilung sagte ihre Unterstützung zu und kündigte Maßnahmen zur Fahndung nach Terzer an.75 Ein halbes Jahr später meldete sich ein „Vertreter des Hochkommissars der sowjetischen Sektion des Alliierten Kommandos für Österreich“ bei Justizminister Gerö und teilte mit, dass die sowjetische Regierung am 24.4.1947 beschlossen hatte, Terzer „an den Ort seines Verbrechens“ auszuliefern, und Terzer deshalb den österreichischen Behörden „aus sowjetischem Gewahrsam“ zur Verfügung gestellt werden soll. Terzer befand sich zu dieser Zeit im Lager Nr. 108 des Innenministeriums im Bezirk Stalingrad in Kriegsgefangenschaft.76 Ich danke Frau Dr. Barbara Stelzl-Marx vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung, die mir Kopien der Personalkarte und Dokumente betreffend die Repatriierung Terzers aus dem Moskauer RGVA zur Verfügung stellte sowie Univ.-Prof. Dr. Hans Hautmann für die Übersetzung der Dokumente. Die sowjetischen Behörden behielten sich allerdings vor, den Gang der Voruntersuchungen und der Gerichtsverhandlung zu kontrollieren und drückten ihre Hoffnung aus, dass alsbald eine Hauptverhandlung stattfinden möge.77 Zweitens: Zur Frage der österreichischen Täter, die in von den Nationalsozialisten okkupierten Gebieten Verbrechen begangen hatten, weshalb von diesen Ländern Auslieferungsbegehren an Österreich heran getragen wurden. Maximilian Grabner (SS-Führer von Auschwitz, Verantwortlicher für die Misshandlung und Vergasung jüdischer Häftlinge, polnischer ZivilistInnen und russischer Kriegsgefangener) wurde am 4. August 1945 verhaftet. Anfang September 1945 unterzog ihn der damalige Polizeipräsident Heinrich Dürmayer einem Verhör, das auch gefilmt und in der Wochenschau gezeigt wurde.78 Das weitere Vorgehen der österreichischen Behörden liegt noch im Dunkeln.79 Es ist bis heute nicht bekannt, ob es ein Ermittlungsverfahren des Volksgerichts Wien gegen Grabner gegeben hat. Im Jänner 1947 befand er sich jedenfalls noch immer im Polizeigefangenhaus Wien 2. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Grabner auf der Anfang 1946 veröffentlichten 2. österreichischen Kriegsverbrecherliste geführt wurde, obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt schon über ein halbes Jahr in polizeilichem Gewahrsam befand. Bei Vorliegen eines Auslieferungsbegehrens der Tschechoslowakei hätte gemäß dem „Bundesgesetz vom 30. Jänner 1946 über die Rechtshilfe, die Auslieferung und Durchlieferung in Strafsachen, für die nach österreichischem Recht das Volksgericht zuständig wäre“80, ein Auslieferungsverfahren in Österreich geführt werden müssen. Auch diesbezüglich gibt es keinen Hinweis. Eine Auslieferung muss jedenfalls trotzdem erfolgt sein, denn im Dezember 1947 wurde Grabner in dem weiter oben erwähnten Prozess zusammen mit Artur Liebehenschel u. a. von einem tschechoslowakischen Volksgericht in Krakau zu Tode verurteilt. Er wurde am 24. Januar 1948 zusammen mit 20 anderen Kriegsverbrechern des KZ Auschwitz im Montelupich Gefängnis in Krakau gehängt.81 In manchen Fällen wurde jedoch das Auslieferungsbegehren abgelehnt, wie beispielsweise der Fall Otto Perkounig zeigt. Für ihn lag ein Auslieferungsbegehren von Polen vor, da er angeblich zwischen 1942 und 1944 Verbrechen in Radom begangen hatte. Perkounig befand sich im November 1950 64 Monate in Lager- und Auslieferungshaft (Er war zunächst im Lager Glasenbach angehalten und am 30. September 1948 in Auslieferungshaft in Linz genommen worden). Schlussendlich erfolgte aber weder eine Auslieferung nach Polen, noch fand ein Prozess vor dem Volksgericht Linz82 statt. Vielmehr wurde der Fall Perkounig nach Innsbruck verlegt, wo der Akt am 6. Februar 1953 einlangte. Die Hauptverhandlung fand am 8. und 22. Juli 195383 vor dem Volksgericht Innsbruck statt. Perkounig wurde von den §§ 1 (Kriegsverbrechen), 3 (Quälerei und Misshandlung) und 4 (Verletzung der Menschenwürde) KVG wegen Widersprüchen in den Aussagen der Belastungszeugen freigesprochen.84 Einige Zeit später übermittelte der Leiter der jüdischen Dokumentationsstelle in Linz, Simon Wiesenthal, der Staatsanwaltschaft in Innsbruck Originale von Aussagen jüdischer Zeugen aus Lagern für Displaced Persons in Linz, die Angaben über die mutmaßlichen Verbrechen Perkounigs in Radom enthielten. Daraufhin wurde seitens der Staatsanwaltschaft Innsbruck85 ein Vorgang zur Prüfung einer eventuellen Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen Perkounig eingeleitet. Da die Aussagen neuerlich Widersprüche enthielten, wurde das Verfahren von der Staatsanwaltschaft Innsbruck nicht wieder aufgenommen.86 Ein anderer Fall, bei dem sehr wohl eine Verurteilung durch das österreichische Volksgericht erfolgte war der Fall Siegfried Seidl. Seidl war 1941 - 1943 Kommandant des Ghettos Theresienstadt, 1943/44 Kommandant des KZ Bergen-Belsen und 1944/45 stellvertretender Leiter des Sondereinsatzkomandos-Außenstelle Wien und dabei zuständig für die nach Wien und Niederösterreich verschickten ungarischen Juden und Jüdinnen. Der CIC (Counter Intelligence Service) übergab Seidl nach Kriegsende an die österreichische Justiz, die im September 1945 eine Untersuchung vor dem Volksgericht Wien einleitete.87 Es lag aber auch ein Auslieferungsbegehren der Tschechoslowakei vor, die das österreichische Volksgericht jedoch mittels juristischer Spitzfindigkeiten zu verhindern wusste. Offenbar wollte man sich die Chance, einen großen Prozess gegen einen der prominentesten österreichischen NS-Täter führen zu können, nicht entgehen lassen. Das Wiener Volksgericht reklamierte seine Zuständigkeit mit der Begründung, dass gerade nach Theresienstadt besonders viele Juden aus Wien deportiert worden waren. In der Zeit, als in Nürnberg der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zu Ende ging, stand Seidl in Wien vor Gericht. Der aufsehenerregende Prozess erregte nationales und internationales Interesse. Bei der Hauptverhandlung im Landesgericht Wien befanden sich im Auditorium zeitweise der britische Staatsminister für die besetzten Gebiete in Deutschland und Österreich Hynd, der österreichische Justizminister Dr. Gerö, der Präsident des Landesgerichts OLGR Dr. Otto Nahrhaft, der Chef der „Austrian Legal Unit“ in der Alliierten Kommission für Österreich, Major Laszky, und andere hohe englische Militärs.88 Nach einwöchiger Verhandlung wurde er am 4. Oktober 1946 zum Tode verurteilt.89 Seine Hinrichtung erfolgte am 4. Februar 1947. Von der Geschichtswissenschaft wahrgenommen wurde dieses österreichische Todesurteil anscheinend nicht. In der „Enzyklopädie des Holocaust“ steht beim Eintrag zu Theresienstadt zu lesen, dass Seidl von einem tschechoslowakischen Gericht zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Und auch Yad Vashem glaubt bis heute, dass Seidl in der Tschechoslowakei hingerichtet wurde.90 Drittens: Zur Frage ausländischer Täter, die in Österreich Verbrechen begangen hatten, weshalb Österreich deren Auslieferung begehrte. Der in Memmingen geborene, als „Verteidiger von Wien“ bekannt gewordene, SS-Oberstgruppenführer und Generaloberst der Waffen-SS, Sepp Dietrich, der Kommandant der „Leibstandarte Adolf Hitler“ (später 1. SS-Panzerdivision) und kommandierender General des I. SS-Panzerkorps und Oberbefehlshaber der 6. SS-Panzerarmee gewesen war, wurde im Juli 1946 im Malmedy-Prozess - also dem im Rahmen der amerikanischen Dachauer Verfahren geführten Prozess wegen der Misshandlung und Tötung amerikanischer Kriegsgefangener91 - zu lebenslanger Haft verurteilt. Die österreichische „Kommission zur Vorbereitung der Kriegsverbrecherliste“ hatte ihn zwischenzeitlich schon auf die 1. Kriegsverbrecherliste gesetzt.92 Nach seiner Verurteilung richtete die österreichische Regierung ein Auslieferungsbegehren an die amerikanischen Behörden, da Dietrich vor ein österreichisches Volksgericht gestellt werden sollte, weil er für die Zerstörung Wiens und der Hinrichtung österreichischer Patrioten (darunter Huth, Biedermann und Raschke) verantwortlich gemacht wurde.93 Diesem Ansuchen ist jedoch nicht entsprochen worden. Dietrich ist im Oktober 1955 aus der amerikanischen Haft entlassen worden. 1957 erhielt er schließlich von einem deutschen Gericht noch einmal eine Freiheitsstrafe von 18 Monaten, weil er 1934 auf Befehl Adolf Hitlers ein Erschießungskommando für die Hinrichtung mehrerer SA-Führer gestellt Am 26. November 1947 nahm Justizminister Gerö in seiner Budgetrede vor dem Finanz- und Budgetausschuss des Nationalrates u. a. Stellung zur Frage der Auslieferungen. Der Minister betonte, dass - auf der Grundlage der Moskauer Erklärung - Österreicher, die im Ausland Kriegsverbrechen begangen haben auszuliefern seien. Stand der mutmaßliche Täter jedoch auf der Londoner Kriegsverbrecherliste, so war nicht die österreichische Regierung, sondern der Alliierte Rat für die Auslieferungsbewilligung zuständig. In jedem anderen Fall entschied aber die österreichische Regierung bzw. das österreichische Gericht. Bis November 1947 waren laut Gerö 66 Auslieferungen von österreichischer Seite angeboten worden, aus dem Ausland sind 103 Auslieferungsbegehren gestellt worden. 12 Auslieferungen sind zu diesem Zeitpunkt bereits durchgeführt worden, in 54 Fällen stand eine Entscheidung bevor.94 Zusammenfassend ist also festzustellen: Die Moskauer „Erklärung über die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Gräueltaten“ vom 1.11.1943 stellte den Ausgangspunkt für das gemeinsame Vorgehen der Alliierten bezüglich der strafrechtlichen Ahndung der nationalsozialistischen Verbrechen dar, wenngleich diese Frage nicht oberste Priorität in deren Politik gegenüber den Deutschen hatte. Sie beinhaltete in erster Linie die Absichtserklärung, den von der deutschen Besatzung befreiten Ländern diese Ahndung selbst zu überlassen und nationale Gerichte einzurichten, sicherte aber zu, dass die mutmaßlichen Verbrecher in diese Länder ausgeliefert werden sollte. Zudem wurde in Aussicht genommen, über jene NS-Täter, deren Verbrechen nicht geografisch verortet werden konnten, gemeinsam zu entscheiden und die diesbezügliche Vorgangsweise miteinander abzustimmen, was schlussendlich in der Installierung eines Internationalen Strafgerichtshofes mündete. Nach den negativen Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg brachte somit die Moskauer Erklärung die erste - wenngleich noch nicht in allen Details ausgefeilte - Übereinstimmung in der Frage der Ahndung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen und stellt somit einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung des modernen Völkerstrafrechts dar. Anmerkungen 1/ Botschaft des Premierministers Großbritanniens, W.
Churchill, an den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der UdSSR, J. W.
Stalin, abgedruckt in: Die Sowjetunion auf internationalen Konferenzen während
des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945, Band 1: Die Moskauer
Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritanniens (19.-30.
Oktober 1943) (hrsg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR),
Dokumentensammlung, Moskau - Berlin 1988, S. 73-75. Referat auf dem Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft „60 Jahre Moskauer Deklaration“ am 25. Oktober 2003 in Wien |
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