Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

Drechslergasse 42, A–1140 Wien

Tel.: (+43–1) 982 10 86, E-Mail: klahr.gesellschaft@aon.at


 

Home
AKG
Veranstaltungen
Mitteilungen
Publikationen
Geschichte
Links

 

Wolfgang Clausner: Karl-Liebknecht-Schüler

August 1934: Empfang auf Moskaus Belorussischem Bahnhof. Fahnen wehen, Willkommensworte in russisch und deutsch auf rotem Tuch. Eine Kapelle spielt, Delegationen stehen erwartungsvoll zur Begrüßung bereit.

Diejenigen, denen der "Große Bahnhof" bereitet wird, sind weder hochrangige Parteifunktionäre noch Minister oder prominente Staatsgäste. Man erwartet Kinder, die emigrieren mußten. Über ihren Weg berichtet ein Buch mit dem Titel "Gelebte Solidarität. Österreichische Schutzbundkinder in der Sowjetunion".
Was diese Mädchen und Jungen seinerzeit dazu zwang, ihre Heimat zu verlassen, was zum Wendepunkt auf ihrem Lebensweg wurde, nimmt in heutigen Geschichtsbüchern kaum mehr Raum ein denn eine Episode aus den Kämpfen des 20. Jahrhunderts. Doch die Annalen der revolutionären Arbeiterbewegung bewahren die Erinnerung an das, was im Februar 1934 in Österreich geschah, als ein Beispiel antifaschistischen Heldenmutes.
Damals hatten sich infolge der Weltwirtschaftskrise auch in der Alpenrepublik die sozialen Gegensätze enorm zugespitzt. Massenarbeitslosigkeit grassierte. Es herrschte große Not. Dem wachsenden Unmut des Volkes begegnete das klerikale Dollfuß-Regime mit Methoden, die denen der Hitlerfaschisten glichen. So wurden u. a. verfassungswidrige Notverordnungen erlassen, das Parlament ausgeschaltet, die Kommunistische Partei und die Sozialdemokratische Wehrformation Republikanischer Schutzbund verboten. Eine Protestdemonstration unbewaffneter Arbeiter gegen den Mord an einem Kriegsinvaliden und einem Kind durch die reaktionäre Frontkämpfervereinigung wurde von der Polizei angegriffen. Es gab Todesopfer.
Schließlich erhoben sich die bewußtesten Teile der österreichischen Arbeiterschaft gegen die zunehmende Faschisierung ihres Landes. Es kam zu Generalstreik und bewaffnetem Widerstand. Durch den rigorosen Einsatz von Bundeswehr und Heimwehr gelang es der Dollfuß-Regierung, den Widerstand der Barrikadenkämpfer zu brechen. Unter ihnen zählte man etwa 200 Gefallene und Hunderte Verwundete. Mit Todesurteilen, standrechtlichen Erschießungen, Massenverhaftungen und brutaler Verfolgung rächten sich die Herrschenden an den Schutzbundkämpfern, in deren Reihen nun auch viele Kommunisten gestanden hatten. Tausende mußten emigrieren. Etliche Familien wurden dadurch ihres Ernährers beraubt. Die Internationale Rote Hilfe und ihre illegal arbeitende österreichische Sektion leisteten ihnen solidarischen Beistand. Kindern hingerichteter, verletzter oder inhaftierter Februarkämpfer wurde in der Sowjetunion Zuflucht geboten. 120 von ihnen gingen insgeheim über die Grenze in die Tschechoslowakei. Von dort begann dann ihre Reise in die neue "Heimat auf Zeit", die vielen eine fürs ganze Leben wurde: die Sowjetunion.
Über ihr Heimischwerden gibt "Gelebte Solidarität" auf einfache, schnörkellose Weise Auskunft. Das schlichte 150-Seiten-Buch ist im besten Sinne des Wortes Dokumentation: Ein Tatsachenbericht, frei von hohlem Pathos, fern jeder Schönfärberei. Gerade deshalb läßt es die Leser jenes Gefühl menschlicher Wärme empfinden, wie sie proletarische Solidarität erzeugt. Ihren Alltag im eigens für sie eingerichteten Kinderheim Nr. 6 in Moskau wie in einem ähnlichen in Iwanowo und das Lernen in der hauptstädtischen Karl-Liebknecht-Schule schildern damalige Schutzbundkinder aus eigenem Erleben. Die umfassende schulische Bildung und vielfältige Möglichkeiten interessanter Freizeitgestaltung werden von ihnen ebenso beschrieben wie Schwierigkeiten, die u. a. mit der Umstellung auf andere Lebens- und Eßgewohnheiten verbunden waren. Sie erinnern sich an unbeschwerte Ferienwochen in Pioniererholungslagern am Schwarzen Meer. Dankbar berichten sie darüber, wie ihnen - den Kinderschuhen entwachsen - die Ausbildung zu qualifizierten Facharbeitern oder das Studium an Hochschulen und Universitäten ermöglicht wurde.
Der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion brachte auch für sie einen schmerzhaften Einschnitt in das Leben. Mit ihren Gastgebern teilten sie die Nöte des Krieges. Zahlreiche von ihnen traten freiwillig in die Rote Armee oder die Volkswehr ein, andere kämpften als Partisanen oder Kundschafter hinter den feindlichen Linien gegen die Aggressoren. Um so tragischer für sie, erleben zu müssen, daß die Repressionen jener Periode auch aus ihren Reihen Opfer forderten - ehrliche Menschen, die bereits meist die sowjetische Staatsbürgerschaft erhalten hatten. Das Buch verschweigt dieses düstere Kapitel nicht, setzt es in Bezug zur damals komplizierten Situation des Sowjetlandes, ohne damit jedoch die Geschehnisse zu rechtfertigen.
Es ist vor allem die zweifelsfreie Ehrlichkeit, die diesem Bericht das Vertrauen des Lesers sichert. Von der Autorin sorgfältig recherchiert, dank der Zeugenschaft ehemaliger Schutzbundkinder von hoher Authentizität sowie reichhaltig mit Dokumenten und Originalfotos versehen, ist die bescheidene Publikation ein bemerkenswertes zeitgeschichtliches Dokument. Es kündet von der Kraft internationaler Solidarität ebenso wie es antikommunistische Lügen widerlegen hilft.

Charlotte Rombach: Gelebte Solidarität. Schutzbundkinder in der Sowjetunion. Sonderband 4 der Reihe Quellen & Studien der Alfred-Klahr-Gesellschaft, Wien 2003

Rotfuchs (Berlin), August 2003

 

Zurück Home Nach oben