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Wolfgang Clausner: Karl-Liebknecht-Schüler
August 1934: Empfang auf Moskaus Belorussischem Bahnhof.
Fahnen wehen, Willkommensworte in russisch und deutsch auf rotem Tuch. Eine
Kapelle spielt, Delegationen stehen erwartungsvoll zur Begrüßung bereit.
Diejenigen, denen der "Große Bahnhof" bereitet wird, sind weder
hochrangige Parteifunktionäre noch Minister oder prominente Staatsgäste. Man
erwartet Kinder, die emigrieren mußten. Über ihren Weg berichtet ein Buch mit
dem Titel "Gelebte Solidarität. Österreichische Schutzbundkinder in der
Sowjetunion".
Was diese Mädchen und Jungen seinerzeit dazu zwang, ihre Heimat zu verlassen,
was zum Wendepunkt auf ihrem Lebensweg wurde, nimmt in heutigen Geschichtsbüchern
kaum mehr Raum ein denn eine Episode aus den Kämpfen des 20. Jahrhunderts. Doch
die Annalen der revolutionären Arbeiterbewegung bewahren die Erinnerung an das,
was im Februar 1934 in Österreich geschah, als ein Beispiel antifaschistischen
Heldenmutes.
Damals hatten sich infolge der Weltwirtschaftskrise auch in der Alpenrepublik
die sozialen Gegensätze enorm zugespitzt. Massenarbeitslosigkeit grassierte. Es
herrschte große Not. Dem wachsenden Unmut des Volkes begegnete das klerikale
Dollfuß-Regime mit Methoden, die denen der Hitlerfaschisten glichen. So wurden
u. a. verfassungswidrige Notverordnungen erlassen, das Parlament ausgeschaltet,
die Kommunistische Partei und die Sozialdemokratische Wehrformation
Republikanischer Schutzbund verboten. Eine Protestdemonstration unbewaffneter
Arbeiter gegen den Mord an einem Kriegsinvaliden und einem Kind durch die
reaktionäre Frontkämpfervereinigung wurde von der Polizei angegriffen. Es gab
Todesopfer.
Schließlich erhoben sich die bewußtesten Teile der österreichischen
Arbeiterschaft gegen die zunehmende Faschisierung ihres Landes. Es kam zu
Generalstreik und bewaffnetem Widerstand. Durch den rigorosen Einsatz von
Bundeswehr und Heimwehr gelang es der Dollfuß-Regierung, den Widerstand der
Barrikadenkämpfer zu brechen. Unter ihnen zählte man etwa 200 Gefallene und
Hunderte Verwundete. Mit Todesurteilen, standrechtlichen Erschießungen,
Massenverhaftungen und brutaler Verfolgung rächten sich die Herrschenden an den
Schutzbundkämpfern, in deren Reihen nun auch viele Kommunisten gestanden
hatten. Tausende mußten emigrieren. Etliche Familien wurden dadurch ihres Ernährers
beraubt. Die Internationale Rote Hilfe und ihre illegal arbeitende österreichische
Sektion leisteten ihnen solidarischen Beistand. Kindern hingerichteter,
verletzter oder inhaftierter Februarkämpfer wurde in der Sowjetunion Zuflucht
geboten. 120 von ihnen gingen insgeheim über die Grenze in die
Tschechoslowakei. Von dort begann dann ihre Reise in die neue "Heimat
auf Zeit", die vielen eine fürs ganze Leben wurde: die Sowjetunion.
Über ihr Heimischwerden gibt "Gelebte Solidarität" auf einfache,
schnörkellose Weise Auskunft. Das schlichte 150-Seiten-Buch ist im besten Sinne
des Wortes Dokumentation: Ein Tatsachenbericht, frei von hohlem Pathos, fern
jeder Schönfärberei. Gerade deshalb läßt es die Leser jenes Gefühl
menschlicher Wärme empfinden, wie sie proletarische Solidarität erzeugt. Ihren
Alltag im eigens für sie eingerichteten Kinderheim Nr. 6 in Moskau wie in einem
ähnlichen in Iwanowo und das Lernen in der hauptstädtischen
Karl-Liebknecht-Schule schildern damalige Schutzbundkinder aus eigenem Erleben.
Die umfassende schulische Bildung und vielfältige Möglichkeiten interessanter
Freizeitgestaltung werden von ihnen ebenso beschrieben wie Schwierigkeiten, die
u. a. mit der Umstellung auf andere Lebens- und Eßgewohnheiten verbunden waren.
Sie erinnern sich an unbeschwerte Ferienwochen in Pioniererholungslagern am
Schwarzen Meer. Dankbar berichten sie darüber, wie ihnen - den Kinderschuhen
entwachsen - die Ausbildung zu qualifizierten Facharbeitern oder das Studium an
Hochschulen und Universitäten ermöglicht wurde.
Der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion brachte auch für sie einen
schmerzhaften Einschnitt in das Leben. Mit ihren Gastgebern teilten sie die Nöte
des Krieges. Zahlreiche von ihnen traten freiwillig in die Rote Armee oder die
Volkswehr ein, andere kämpften als Partisanen oder Kundschafter hinter den
feindlichen Linien gegen die Aggressoren. Um so tragischer für sie, erleben zu
müssen, daß die Repressionen jener Periode auch aus ihren Reihen Opfer
forderten - ehrliche Menschen, die bereits meist die sowjetische Staatsbürgerschaft
erhalten hatten. Das Buch verschweigt dieses düstere Kapitel nicht, setzt es in
Bezug zur damals komplizierten Situation des Sowjetlandes, ohne damit jedoch die
Geschehnisse zu rechtfertigen.
Es ist vor allem die zweifelsfreie Ehrlichkeit, die diesem Bericht das Vertrauen
des Lesers sichert. Von der Autorin sorgfältig recherchiert, dank der
Zeugenschaft ehemaliger Schutzbundkinder von hoher Authentizität sowie
reichhaltig mit Dokumenten und Originalfotos versehen, ist die bescheidene
Publikation ein bemerkenswertes zeitgeschichtliches Dokument. Es kündet von der
Kraft internationaler Solidarität ebenso wie es antikommunistische Lügen
widerlegen hilft.
Charlotte Rombach: Gelebte Solidarität.
Schutzbundkinder in der Sowjetunion. Sonderband 4 der Reihe Quellen &
Studien der Alfred-Klahr-Gesellschaft, Wien 2003
Rotfuchs (Berlin), August 2003 |