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Charlotte Rombach: Gelebte Solidarität
Vorwort
Nach der Niederlage der österreichischen Arbeiterschaft am 12. Februar 1934 erhielten viele Kinder von SchutzbundkämpferInnen die Möglichkeit, mit Unterstützung der Roten Hilfe über die Tschechoslowakei in die Sowjetunion zu emigrieren. In Moskau wurden die meisten von ihnen in einem Kinderheim (Kinderheim Nr. 6, das Schutzbundkinder-Heim) zusammengefasst, in dem sie im Vergleich mit den sowjetischen Kindern eine bevorzugte Behandlung erfuhren. Das Leben dort machte es den Kindern, die in den meisten Fällen aus bescheidenen Verhältnissen kamen, nicht schwer, sich wohl zu fühlen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln, das sie zu einer großen Familie werden ließ. Hier erhielten sie Möglichkeiten, die ihnen in Österreich verschlossen geblieben wären.
Schon bei ihrer Anreise wurden sie als die Kinder der Helden vom 12. Februar 1934 empfangen, gefeiert und überall mit Herzlichkeit und Solidarität aufgenommen. Trotz der herausgehobenen Stellung, die sie nach ihrer Ankunft erhalten hatten, traten später auch für sie Änderungen ein – nicht nur im Zuge ihres Erwachsenwerdens sondern auch als Folge der innen- und außenpolitischen Veränderungen, die sich auf die Sowjetunion und ihre Bevölkerung auswirkten. Einige unter ihnen wurden unschuldig verfolgt, verurteilt; fünf von ihnen haben nicht überlebt, andere haben Gefängnis und Lager überstanden, verloren haben sich die Spuren von Max Griesmaier, Fritz Kastner, Fritz Kettner, Alfred Kouba und Hans List. Ob sie, wie Tausende andere Sowjetbürger auch, zu namenlosen Opfern des von den Faschisten inszenierten Krieges gegen die Sowjetunion wurden, kann nicht beantwortet werden.
Einige der Schutzbundkinder traten nach Kriegsbeginn in die Rote Armee ein und kämpften gegen die Faschisten an verschiedensten Fronten, manche von ihnen fielen im Partisanenkampf. Die Überlebenden, von denen die meisten KommunistInnen wurden, sind ihren Weg gegangen, haben sich durchgesetzt – ob in Österreich oder in der Sowjetunion, in der DDR oder in anderen Ländern Europas, wohin sie nach 1945 verschlagen wurden, und die meisten sind ihrer Gesinnung treu geblieben.
Noch heute, bald 70 Jahre nach ihrer Emigration aus Österreich in die Sowjetunion, halten sie untereinander Kontakt, schreiben oder treffen einander. Dann tauschen sie Erinnerungen aus und unterhalten sich über ihre Eindrücke und Erlebnisse in den zwölf Jahren fern der Heimat. Sie sind alle nicht mehr die Jüngsten und Gesündesten, ihre Reihen haben sich schon stark gelichtet. Je nach Schicksal sehen sie die damaligen Ereignisse positiv oder negativ, sind der Sowjetunion dankbar, wenn sie gute, oder verurteilen sie, wenn sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Einige von ihnen hatten in der Evakuation während des Krieges Glück, andere hatten es besonders schwer, wurden ungerecht behandelt, verloren Angehörige. Fast alle anerkennen jedoch, dass die Aufnahme der SchutzbundkämpferInnen, ihrer Frauen und Kinder nach der Niederlage der Arbeiterschaft in Österreich im Februar 1934 ein Akt der Humanität, Ausdruck der gelebten proletarischen Solidarität war. Die internationale Solidarität, mit der Anfang der 20er-Jahre der Not leidenden Sowjetunion so massiv unter die Arme gegriffen worden war, wurde erwidert.
Die Kinder, die zu Jugendlichen und die Jugendlichen, die zu Erwachsenen geworden waren und in der Sowjetunion geblieben sind, haben ihr mit ihrer Arbeit geholfen, sind dafür ausgezeichnet und geehrt worden.
Fast alle ehemaligen Zöglinge beurteilen das Heim positiv, sie erinnern sich gerne an das unbeschwerte Leben dort, sie schätzen bis heute die Fürsorge und Hilfe des Direktors, der ErzieherInnen und des Personals, das Wissen, das sie dort und in der Schule erwerben konnten. Das Leben in der Gemeinschaft, die Schule, die vielen Freizeitbeschäftigungen und die Erholungsaufenthalte halfen ihnen über die doch letztendlich schwere Trennung von den Eltern hinweg.
Leider ist es eine Tatsache, dass es noch Jahrzehnte nach 1945 keine eingehende Beschäftigung mit der Geschichte der österreichischen Schutzbündler in der Sowjetunion gibt. Dasselbe gilt für die Geschichte der österreichischen Kinder, die nach den Februarkämpfen in die Sowjetunion gelangten. Bald nähert sich der 70. Jahrestag der Februarereignisse, viele Menschen wissen bis heute nichts darüber. Verschiedene Historiker versuchen, die Ereignisse entweder überhaupt zu verschweigen oder aber die Geschichte zu fälschen. Die KPÖ hat es auch hier verabsäumt, bei Zeiten Material und Erinnerungen der daran Beteiligten zu sammeln. Der Grund dafür ist unter anderem darin zu suchen, dass durch die Ereignisse in der Sowjetunion auch zahlreiche österreichische KommunistInnen betroffen waren, von denen mehrere Dutzend dabei ums Leben gekommen sind. Die Scheu, daran zu rühren, führte leider auch dazu, überwiegend positive Aspekte der Vergessenheit anheim fallen zu lassen. Hans Schafranek hat 1998 ein Buch über die Schutzbundkinder/1/ vorgelegt, in dem erstmals aus Archivmaterialien der Sowjetunion zitiert wurde und bei dem ihn einige der ehemaligen Zöglinge auf verschiedene Art und Weise unterstützt haben. Es ist ein zum Teil informatives Buch geworden, doch leider ist sein Grundtenor negativ. Was mich bei der Lektüre dieses Buches gestört hat, ist die tendenziöse Darstellung, die Verzerrung, mit der der Autor die damaligen Ereignisse nachzeichnet. Es ist das Ungleichgewicht in der Auswahl und Bewertung des Materials. Die Anhäufung von Negativem vermittelt den LeserInnen ein falsches Bild. Er geht sogar so weit, dass er, um diesen Eindruck noch zu verstärken, auch Erinnerungen von Deutschen einbezieht. Die Empörung über solch eine Darstellung war nicht nur bei mir, sondern auch bei einigen Schutzbundkindern, die das Buch lasen, sehr groß. Das war nicht ihre Geschichte und auch nicht die Geschichte der österreichischen Schutzbundkinder.
Mein Vater, Heribert Hütter, hatte 1934 als Schutzbundmitglied ebenfalls an den Februarkämpfen teilgenommen und flüchtete, wie Hunderte andere Österreicher (und auch einige Österreicherinnen) in die Sowjetunion. Ich kam 1938 in Moskau zur Welt, lebte im so genannten Schutzbundhaus und gehörte daher nicht zu jener Gruppe österreichischer Kinder und Jugendlicher, die als Schutzbundkinder im Kinderheim Nr. 6 bekannt geworden sind. Aber auch ich verbrachte einige Jahre als Kind in der Sowjetunion, wurde während des Krieges ebenfalls evakuiert und fühle mich daher diesen ehemaligen Schutzbundkindern verbunden.
Deshalb und nach vielen Gesprächen mit ehemaligen Zöglingen des Kinderheims Nr. 6 habe ich mich entschlossen, etwas zur Geschichte der Schutzbundkinder beizutragen, das dem Erlebten vieler von ihnen entspricht und in dem sie sich und das was sie damals erlebten, wiederfinden können. Ich bin dankbar, dass ich sie noch kennen lernen konnte und dass sie mich unterstützt haben: In Österreich Karl Münichreiter durch seinen geschichtlichen Beitrag, Rudi Spirik durch Informationen, Annemarie Fasching (Filip), Alice Kloc
(Angst), Margarete Kouba (Kaminek), Augusta Samek (Hölzl), Maria Treschek, Ljubica Urban, sowie in Moskau Margarete Löberbauer (Tjapkina) und Charlotte Walter (Sajzewa) durch Interviews. Frieda Löw in Schweden, Ilse Dirnbacher (Brischnik) in der Schweiz und Toni Schlögl in Russland stellten mir ihre Erinnerungen zur Verfügung. Die Alfred Klahr Gesellschaft war mir mit Rat und Tat behilflich.
Charlotte Rombach: Gelebte Solidarität.
Österreichische Schutzbundkinder in der Sowjetunion |