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Hans Hautmann: Zur Vorgeschichte der
„Benes-Dekrete“
Der
Begriff „Benes-Dekrete“, von dem in letzter Zeit so oft die Rede ist,
umschreibt ein Ereignis, das zu den einschneidendsten bevölkerungspolitischen
Veränderungen im Gefolge des Zweiten Weltkrieges zählt: die Aussiedlung von
rund 3,1 Millionen Deutschen aus der Tschechoslowakei. Da die Geschichte eine
ununterbrochene Kette von Ursachen und Wirkungen ist, kann dieses Ereignis nicht
isoliert betrachtet werden. Es muss dafür schwer wiegende Gründe gegeben
haben, die in der Zeit vorher liegen und dort zu suchen sind.
Tschechen und Deutsche
Die Zweiteilung Böhmens und Mährens in ein mehr
oder weniger geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet in den Randzonen und in ein
tschechisches im Kernland bildete sich in der Zeit des Hochfeudalismus, vom 12.
bis 15. Jahrhundert, heraus. Böhmen war damals in der ökonomischen Entwicklung
eines der fortgeschrittensten Länder Europas, und der Feudaladel privilegierte
die Niederlassung deutscher Kaufleute und Handwerker sowie deutscher bäuerlicher
Siedler in den gebirgigen Randgebieten. Deshalb war in den größeren Städten
das Patriziat vorwiegend deutsch, was schon zu dieser Zeit zu Kritik seitens des
tschechischen Feudaladels führte.
Ein das Verhältnis von Tschechen und Deutschen nachhaltig tangierendes Ereignis
war die revolutionäre Bewegung der Hussiten am Anfang des 15. Jahrhunderts. Ihr
zentraler Angriffspunkt waren die Missstände innerhalb der mittelalterlichen
Kirche. Aber es kam auch zu einem nationalen Konflikt zwischen der Masse des
tschechischen Volkes einschließlich seines niederen Adels und dem häufig mit
der Kirche verbündeten deutschen Patriziat. Es waren deutsche Feudalheere, die
die Hussiten bekriegten und sie nach schweren Kämpfen schließlich
niederwarfen. Das Bekenntnis der Tschechen zu den Traditionen des Hussitismus
hat daher stets eine antideutsche Stoßrichtung gehabt.
Der nächste große Einschnitt war der Übergang der böhmischen Königskrone an
die Habsburger im Jahr 1526, wobei die Länder der böhmischen Krone territorial
die Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens umfassten. Das ist wichtig, weil
die Tschechen bis zum Ende des Habsburgerreiches im Jahr 1918 diese Länder mit
ihren Grenzen stets als eine historisch-politische Individualität ansahen und
– ungeachtet der Tatsache, dass hier Tschechen, Deutsche und Polen
nebeneinander lebten – als Einheit, wurzelnd in gemeinsamer historischer
Vergangenheit, betrachteten.
Der Herrschaftsantritt der Habsburger verstärkte den Einfluss des
Katholizismus, wogegen sich beträchtliche Teile des Adels – und zwar sowohl
des deutschen als auch des tschechischen – gemeinsam mit dem Patriziat in
den Städten wandten. Diese Kreise orientierten sich am Protestantismus Luthers.
In der Folge spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Habsburgern und
der ständisch-protestantischen Adelspartei immer mehr zu. Sie mündeten 1618 im
böhmischen Aufstand mit dem Prager Fenstersturz, in dessen Gefolge die Jesuiten
aus dem Land vertrieben und die Habsburger in Böhmen für abgesetzt erklärt
wurden. Aber schon zwei Jahre später, in der Schlacht am Weißen Berge 1620,
wurden die Aufständischen geschlagen.
Die Habsburger begannen ihre wieder hergestellte Herrschaft im Lande mit
Bluturteilen gegen die Führer des Aufstandes, Landesverweisungen und der
Konfiskation von drei Viertel der Güter. Der Rest der politischen Rechte des Bürgertums
wurde aufgehoben und eine den Habsburgern ergebene, häufig landfremde
Adelsgruppe durch die Verleihung der konfiszierten Güter gestärkt. (Dazu gehörten
beispielsweise die Schwarzenbergs.) Die Macht der katholischen Kirche wurde
vollständig restauriert, umfangreicher Güterbesitz ihr zugewiesen und der
Katholizismus zur alleinigen Staatsreligion erklärt. Eine „Verneuerte
Landesordnung“ unterwarf 1627 Böhmen dem Zentralismus Wiens.
Begleiterscheinung der absolutistischen Herrschaft und der Zwangskatholisierung
war eine zunehmende Germanisierung. Die tschechische Sprache geriet in Gefahr,
zu einer „Sprache der Bauern und Dienstboten“ herabzusinken.
Durch die Schlacht am Weißen Berge verlor das tschechische Volk für fast 300
Jahre seine nationale Unabhängigkeit. Noch im Vormärz unter Metternich kam die
Germanisierungspolitik dadurch zum Ausdruck, dass allein die deutsche Sprache im
Schulunterricht zugelassen war.
Mit den Anfängen des Kapitalismus in Böhmen und dem Entstehen einer
tschechischen Bourgeoisie und Intelligenz setzte dann eine Gegenbewegung ein,
die die Wiedererweckung der tschechischen Sprache und Kultur auf ihre Fahnen
schrieb. Dafür stehen Namen wie Josef Dobrovsky, der die Grundlage zur
Sprachlehre des modernen Tschechisch legte, von Josef Jungmann, der ein
tschechisch-deutsches Wörterbuch verfasste und von Frantisek Palacky, der die
erste, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende, Geschichte Böhmens schrieb.
Der Sprachenstreit
Die böhmischen Länder durchliefen im 19.
Jahrhundert einen raschen und umfassenden Industrialisierungsprozess, und die ökonomisch
erstarkende tschechische Bourgeoisie meldete immer vehementer ihre Forderungen
an. Sie zielten auf eine nationale Autonomie im Rahmen einer föderalistischen
Konzeption des Habsburgerreiches ab. Das Streben nach Autonomie der böhmischen
Länder unter Vorherrschaft der tschechischen Bourgeoisie stieß logischerweise
auf den erbitterten Widerstand der deutschböhmischen Bourgeoisie, die ihre ökonomische
und politische Vormachtstellung behaupten wollte.
So lange im absolutistisch regierten Österreich die Deutschen herrschten, war
Deutsch die Sprache der Verwaltung, der Ämter, Gerichte, Schulen und des öffentlichen
Lebens. Die anderen Nationen wie die Tschechen und Polen, ganz zu schweigen von
den Slowenen und Ruthenen als den Prototypen der „geschichtslosen Nationen“,
blieben als beherrschte Völker mit ihrer Sprache von den herrschenden Deutschen
gänzlich ignoriert. Und so lange der Streit nur zwischen den herrschenden
Schichten untereinander geführt wurde, konnte er keine großen Dimensionen
annehmen.
Mit der Revolution von 1848 und vollends mit dem Übergang zur konstitutionellen
Monarchie im Jahr 1867 änderte sich das. Durch die Gewährung politischer
Freiheiten, die allen Staatsbürgern gleiche Rechte und Teilnahme an der
Gesetzgebung und Selbstverwaltung unter gleichen Bedingungen einräumte, wurde
auch der breiten Masse die politische Arena geöffnet. Der Nationalitätenkonflikt
gewann stetig steigende Bedeutung und wurde zur wichtigsten politischen und
staatsrechtlichen Frage Österreich-Ungarns.
Wenn jetzt näher auf die Sprachenfrage eingegangen wird, dann hat das seine Gründe.
Es war ja keineswegs so, dass zwischen Deutschen und Tschechen in Böhmen seit
jeher eine unüberwindliche Abneigung bestand. Zweifellos gab es Spannungen,
aber die gibt es auch zwischen Wienern und Tirolern oder Vorarlbergern. Darin
liegt nichts Besonderes oder Verwunderliches. Der Ursprung für die tiefen
Aversionen und das oft hasserfüllte Verhältnis zwischen Tschechen und
Deutschen ist historisch sehr genau zu datieren: der erbitterte Kampf, der sich
dann bis 1945 hinzog, begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem
Boden des Habsburgerreiches.
Auf dem Papier waren die Rechte der Völker des Reiches geradezu vorbildlich
geregelt. Der Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte
der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867 lautete:
„Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat
ein unverletzliches Recht auf Wahrung seiner Nationalität und Sprache. Die
Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem
Leben wird vom Staate anerkannt.“
Das alte österreichische Staatsrecht der Monarchie anerkannte acht solcher
Volksstämme, und zwar: Deutsche, Tschechen, Polen, Ruthenen, Slowenen,
Serbokroaten, Rumänen und Italiener. Sie alle waren formal für
gleichberechtigt erklärt. Trotzdem verschärften sich die nationalen Konflikte
von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Um die Frage beantworten zu können, warum es so
kam, muss man zum Wesen der Sache vordringen. Und der Kern der Angelegenheit ist
ziemlich einfach. Hätte sich jeder Österreicher aller acht in Österreich
gesprochenen Sprachen gleich geläufig in Wort und Schrift bedienen können, hätte
es keine nationalen Zwistigkeiten gegeben. Jeder Staatsbürger hätte bei jeder
Gelegenheit, sei es vor Gericht, im Amt oder der Schule, so gesprochen, wie es
erforderlich gewesen wäre, und es wäre jedem ganz egal gewesen, wie man zu ihm
gesprochen hätte. Diesen Polyglottismus gab es in Österreich aber nicht, und
damit fehlte dem Artikel 19 die nötige Voraussetzung. Deshalb hat jede
Nationalität verlangt, sich ihrer Sprache bei Amt, Gericht und in der Schule zu
bedienen. Daraus folgte die Notwendigkeit, dass die Richter, Beamten und Lehrer
im Bereich einer Nationalität diese Sprache beherrschen mussten und jene, bei
denen das nicht der Fall war, die betreffenden Posten nicht bekleiden konnten.
Nun gab es aber in Österreich auch Gebiete, die mit gemischter Bevölkerung
bewohnt waren und wo die staatlichen Funktionsträger beider Sprachen mächtig
sein mussten, die dort üblich waren. Diese Konsequenz führte dazu, dass die
Angehörigen derjenigen Nationalitäten, die in der Regel doppelsprachig waren,
einen Vorteil vor jenen gewannen, die einsprachig waren.
In Böhmen sah es so aus, dass die Deutschen das Tschechische nicht zu lernen
pflegten, während die Tschechen in aller Regel Deutsch lernten und beide
Sprachen beherrschten. Die Folge war, dass die zweisprachigen Tschechen bei der
Erlangung staatlicher Ämter vor den einsprachigen Deutschen einen Vorteil
erlangten und nach und nach in solche Positionen eindrangen. Dieses Faktum wurde
von den Deutschen umso bedrohlicher empfunden, als kurz zuvor noch die deutsche
Sprache überall in Böhmen in Amt, Gericht und Schule die ausschließlich
herrschende gewesen war und ihnen alle Vorteile zukamen, die sich daraus
ergaben: leichtere Erlangung staatlicher Ämter, leichtere Verwertung
literarischer und publizistischer Erzeugnisse und dergleichen mehr.
Der Regelung der Nationalitätenverhältnisse stellten sich daher in Böhmen
fast unüberwindliche Hindernisse entgegen, weil das Deutschtum dort eine
historisch errungene Stellung innehatte, aus der es sich nicht verdrängen
lassen wollte. Auf der anderen Seite waren die Forderungen der Tschechen nach
Erfüllung des Artikels 19 vollkommen gesetzmäßig und gerecht. Die
kaiserlichen Regierungen mussten ihnen früher oder später Rechnung tragen. Das
ist auch geschehen, als in der Ära des Ministerpräsidenten Taaffe 1880 die so
genannte Stremayer’sche Sprachenverordnung erlassen wurde. In Ausführung des
Grundsatzes der Gleichberechtigung verfügte die Verordnung, dass alle Behörden
ihre Erledigungen an die Parteien in jener der beiden Landessprachen
auszufertigen hatten, in welcher die betreffenden Eingaben und Ansuchen der
Parteien abgefasst waren. Behördliche Bekanntmachungen, die sich an die
Gesamtheit richteten, mussten in beiden Landessprachen abgefasst sein.
Strafgerichtliche Verhandlungen waren in derjenigen der beiden Landessprachen
zu führen, deren der Angeschuldigte mächtig war.
Unter Taaffe wurde auch die Forderung der Tschechen nach einer eigenen Universität
bewilligt und 1882 neben der deutschen Universität eine gleichberechtigte
tschechische Universität in Prag geschaffen.
Schon diese beiden Maßnahmen riefen bei den Deutschen in der gesamten österreichischen
Reichshälfte und besonders in Böhmen heftigste Proteste hervor. Noch ärgere,
fast schon bürgerkriegsähnliche Zustände entfachten die zwei
Sprachenverordnungen des Ministerpräsidenten Badeni im April 1897. Die eine
schrieb den Beamten in Böhmen die Kenntnis beider Landessprachen vor, die
andere ordnete an, dass bei allen Behörden in Böhmen, auch in den rein
deutschen Gebieten, in derjenigen Landessprache zu amtieren sei, in der die
Partei ihr Ansuchen einbrachte oder zu der sie sich als ihrer Umgangssprache
bekannte. Beides mit der Auflage, dass alle Beamten in Böhmen und Mähren
innerhalb von drei Jahren beide Landessprachen beherrschen mussten.
Der Sturm der Entrüstung, der dadurch bei den Deutschen in Böhmen, in Wien,
Graz, Linz usw. entstand und in Straßenschlachten und gewaltsamen
Ausschreitungen mündete, veranlasste Kaiser Franz Joseph, Badeni den Abschied
zu geben. Sein Nachfolger Gautsch erließ eine neue Sprachenverordnung (5. März
1898), nach welcher diejenige der beiden Landessprachen Amts- und Dienstsprache
sein sollte, zu der die ortsanwesende Bevölkerung sich als zu ihrer
Umgangssprache bekannte. Nur in sprachlich gemischten Bezirken sollte beide
Landessprachen gleiche Geltung haben. Doch auch diese Verordnung lehnten die
Deutschen ab. Im Oktober 1899 erfolgte dann die formelle Aufhebung der
Badeni’schen Sprachenverordnungen (unter dem Ministerium Clary), was wieder
von den Tschechen als Vergewaltigung ihrer verbrieften Rechte angesehen wurde.
Eine wirkliche Lösung dieser zentralen Frage gelang in Böhmen bis zum Ende der
Habsburgermonarchie nicht. Lediglich in Mähren kam es 1905 zu einer Einigung,
dem „Mährischen Ausgleich“, nach dem die Wahl des Landtags nach nationalen
Kurien auf Grund eines Wählerkatasters geregelt wurde.
Die Atmosphäre, die damals zwischen Tschechen und Deutschen herrschte, hat Egon
Erwin Kisch in seinen Lebenserinnerungen „Marktplatz der Sensationen“ sehr
anschaulich beschrieben. Es heißt da über Prag:
„Das deutsche Prag! Das waren fast ausschließlich Großbürger, Besitzer der
Braunkohlengruben, Verwaltungsräte der Montanunternehmungen und der Skodaschen
Waffenfabrik, Hopfenhändler, die zwischen Saaz und Nordamerika hin- und
herfuhren, Zucker-, Textil- und Papierfabrikanten sowie Bankdirektoren; in ihrem
Kreis verkehrten Professoren, höhere Offiziere und Staatsbeamte. Ein deutsches
Proletariat gab es nicht. Die fünfundzwanzigtausend Deutschen, nur fünf
Prozent der Bewohnerschaft Prags, besaßen zwei prunkvolle Theater, ein riesiges
Konzertgebäude, zwei Hochschulen, fünf Gymnasien und vier Oberrealschulen,
zwei Tageszeitungen, die morgens und abends erschienen, große Vereinsgebäude
und ein reges Gesellschaftsleben.
Mit der halben Million Tschechen in der Stadt pflog der Deutsche keinen außergeschäftlichen
Verkehr. (...) Kein Deutscher erschien jemals im tschechischen Bürgerklub, kein
Tscheche im deutschen Kasino. Selbst die Instrumentalkonzerte waren einsprachig,
einsprachig die Schwimmanstalten, die Parks, die Spielplätze, die meisten
Restaurant, Kaffeehäuser und Geschäfte. Korso der Tschechen war die
Ferdinandstraße, Korso der deutschen der ‘Graben’. (...)
Die deutsche und die tschechische Universität, die tschechische und die
deutsche Technische Hochschule waren einander so fern, als wäre die eine am
Nordpol, die andere am Südpol. Jeder von den hundert Lehrstühlen hatte sein
Pendant auf der anderssprachigen Seite, aber es gab kein gemeinsames Gebäude,
keine gemeinsame Klinik, kein gemeinsames Laboratorium, keine gemeinsame
Sternwarte, (...) keine gemeinsame Fachbibliothek. (...) Für den botanischen
Garten der einen Universität wurde vom Südsee-Archipel eine Pflanze bestellt,
die man im botanischen Garten der anderen Universität hätte blühen sehen können,
wenn dies nicht eine Mauer verhindert hätte.
Was jedem Prager selbstverständlich war und jedem Nichtprager als unglaubwürdig
erscheinen muss, umso mehr, wenn man die damalige Rolle des Theaterlebens in
Betracht zieht, war dieses: Kein tschechischer Bürger besuchte jemals das
deutsche Theater und vice versa. Gastierte im tschechischen Nationaltheater die
Comédie-Française oder das Moskauer Künstlertheater oder ein berühmter Sänger,
so nahm die deutsche Presse nicht die geringste Notiz davon, und die Kritiker,
die tagtäglich die Namen Stanislawski oder Schaljapin jonglierten, verfielen
gar nicht auf die Idee, einer solchen Vorstellung beizuwohnen. Andererseits
vollzogen sich Gastspiele im Deutschen Theater, ob es nun solche des Wiener
Burgtheater-Ensembles, von Adolf von Sonnenthal oder Enrico Caruso waren, ohne
Kenntnisnahme durch die tschechische Öffentlichkeit.“
Das ist aber noch harmlos, verglichen mit dem, was alldeutsche Chauvinisten
schon damals von sich gaben. In einer ihrer Publikationen aus dem Jahr 1901
stand da zu lesen: Hinaus mit den Tschechen „auf Nimmerwiedersehen in die
russischen oder polnischen Steppen“, und: Die Deutschen müssen, „einen günstigen
Moment benützend, den Streit mit der kleinen, ca. sechs Millionen zählenden
tschechischen Rasse, die ihnen alles verdankt, mit allen Mitteln zu Ende führen.
Der Pfahl im deutschen Fleisch muss endlich heraus“, und zwar durch
„gesetzliche Landesverweisung aller sich als Tschechen bekennenden Bewohner
der Sudetenländer“, am besten aber der „gesamten sechs Millionen
Tschechen“.
Den Kampf um die Priorität im Ausdenken der Vertreibung eines ganzen Volkes
haben die Alldeutschen also unzweifelhaft gewonnen.
Der „günstige Moment“ kam, als der Erste Weltkrieg begann. Wenngleich
derart radikale Pläne keine Verwirklichung fanden, war der Rachefeldzug der
herrschenden Deutschen im Habsburgerreich gegen den inneren Feind, die Slawen -
und an vorderster Front die Tschechen - schlimm genug. Es gab gegen sie Tausende
Prozesse vor Militärgerichten wegen Hochverrats, Majestätsbeleidigung,
Verbrechen wider die Kriegsmacht des Staates und Störung der öffentlichen
Ruhe, eine hohe Zahl an Todesurteilen und Hunderte Hinrichtungen. In vieler
Hinsicht ähnelten schon damals die Verhältnisse denen in der Zeit der
NS-Herrschaft von 1939 bis 1945. Diese Repressionsmaßnahmen, die von den
Tschechen mit passivem Widerstand, Sabotage und, an den Fronten, mit Überlaufen
ganzer Truppenteile zu den Russen beantwortet wurden, zerstörten die Grundlage
für ein weiteres Zusammenleben der Völker in der Habsburgermonarchie vollends.
Die Sudetendeutschen in der CSR
Österreich-Ungarn zerbrach, und auf seinen Trümmern
entstand Ende Oktober 1918 ein neuer Staat, die Tschechoslowakei, die - verbündet
mit den Ententeländern England, Frankreich und USA - zu den Siegermächten des
Ersten Weltkriegs zählte. Die Verhältnisse kehrten sich nun schlagartig und
total um: aus den herrschenden Deutschen wurde das beherrschte, aus den
beherrschten Tschechen das herrschende Volk in diesem neuen Staat.
Die Tschechoslowakei war eine bürgerlich-demokratische Republik. Ihre führenden
Politiker, Tomas Masaryk und Edvard Benes, vertraten die historisch
unzutreffende Theorie von der einheitlichen "tschechoslowakischen"
Nation, die verschleierte, dass die Bevölkerung der industriell weniger
entwickelten Slowakei von der tschechischen Bourgeoisie als Ausbeutungsobjekt
angesehen wurde. Es wurde von Anfang an klar, dass die tschechoslowakische
Bourgeoisie die nationale Frage nicht zu lösen vermochte. Auch wirtschaftlich
gab es schwer wiegende Probleme. Industriell verfügte die neue Republik über
nahezu drei Viertel der Industriekapazität Österreich-Ungarns, jedoch nur über
ein Viertel des ehemaligen Industriemarktes. Die Exportabhängigkeit der
Industrie der CSR war also von Anfang an sehr groß.
Zum anderen hatte die Begünstigung deutscher Unternehmen und Handwerksbetriebe
über Jahrhunderte dazu geführt, dass sich vor dem Ersten Weltkrieg fast vier Fünftel
der Industrie und des Handwerks in deutschem Besitz und demzufolge in Abhängigkeit
von Wiener Banken, Großhandelsunternehmen und Aktiengesellschaften befanden.
Immerhin waren auch im Jahr 1934 noch rund 35 Prozent der Industrie in den Händen
Deutscher.
Mit den wirtschaftlichen Problemen der neuen Republik war die Gestaltung des
Zusammenlebens der multinationalen Bevölkerung engstens verbunden.
Nach Angaben der Volkszählung von 1921 lebten in der CSR 13,6 Millionen
Menschen, davon 6,8 Millionen Tschechen, 2 Millionen Slowaken, 3,1 Millionen
Deutsche, 745.000 Ungarn, 462.000 Ukrainer und Russen, 76.000 Polen sowie
kleinere Gruppen von Angehörigen anderer Völker. Etwa 300.000 Deutsche hatten
nach dem Vertrag von Saint-Germain das Land verlassen.
Diese über Jahrhunderte entstandene Bevölkerungszusammensetzung war besonders
dadurch gekennzeichnet, dass es eine Konzentration der Nationalitäten in
bestimmten Regionen des Landes gab. Die deutschen wurden nun nach dem von ihnen
stark besiedelten Bergmassiv der Sudeten als „Sudetendeutsche“ bezeichnet,
ein Name, den man später auch auf alle Deutschen anwandte, die in anderen
Teilen der Tschechoslowakei ansässig waren.
Die Tatsache, dass sich die politischen Machtverhältnisse umgekehrt hatten,
dass aus der herrschenden deutschen Nation in Österreich-Ungarn nun in der CSR
eine, wenn auch recht beträchtliche nationale Minderheit geworden war, wurde
von den deutschen bürgerlichen Organisationen und Parteien entgegen den Realitäten
nicht akzeptiert. Zu einer ersten Kraftprobe zwischen dem noch im Entstehen
begriffenen tschechoslowakischen Staat und deutschen Separatistenbewegungen kam
es schon Ende Oktober/Anfang November 1918. Einige vorwiegend von Deutschen
bewohnte Gebiete, wie „Deutschböhmen“ mit der „Hauptstadt“ Reichenberg,
weigerten sich, zur Tschechoslowakei zu gehören und erklärten sich zu
Bestandteilen Deutschösterreichs. Die Besetzung der Gebiete, die sich Deutschösterreich
anschließen wollten, durch tschechoslowakische Truppen im November/Dezember
1918 schrieb nur noch äußerlich die tatsächlichen Machtverhältnisse fest.
Von der nationalistischen deutschen Geschichtsschreibung und der der
Vertriebenenverbände werden diese Ereignisse als Legitimation für die späteren
Revisionsforderungen benutzt. Man sagt, dass die Beschlüsse der Siegermächte
von 1918/19 und die Politik der Prager Regierung dafür verantwortlich gewesen
seien, dass so etwas wie ein sudetendeutscher nationalistischer Irredentismus
entstand. Wie wir gesehen haben, gab es aber den schon lange vorher, als
Ideologie der „Herrenrasse“ gegenüber einem minderwertigen
„Bedienstetenvolk“, und es war in erster Linie der Expansionsdrang des
deutschen Imperialismus, der in den zwanziger und Dreißigerjahren die
Zuspitzung der Beziehungen verursachte.
Insgesamt setzten die diversen deutschen Parteien und Gruppen seit Oktober 1918
alles daran, die Stabilisierung der CSR zu verhindern. Ein aus verschiedenen
sudetendeutschen bürgerlichen Parteien und Gruppen bestehender „Deutscher
Parlamentarischer Verband“ warf am 1. Juni 1920 anlässlich der Eröffnung des
Parlaments in Prag diesem den Fehdehandschuh hin. In einer Erklärung beriefen
sich die Verfasser, die sich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges niemals um das
Selbstbestimmungsrecht der Tschechen gekümmert hatten, nun auf dieses Prinzip.
Sie bezeichneten die Gründung der CSR als "widerrechtlich" und verkündeten
ihrerseits, dass sie "niemals aufhören werden, die Selbstbestimmung"
zu fordern. Nach dem Wortlaut des gesamten Textes, in dem es auch chauvinistisch
hieß, die Sudetendeutschen würden „niemals die Tschechen als Herren“
anerkennen, meinten die Verfasser mit „Selbstbestimmung“ in Wirklichkeit die
Rückkehr zu den Zuständen von vor 1918. Dieses Programm der bürgerlichen Führung
der deutschen Minderheit zielte von vornherein auf eine Konfrontation mit der
Regierung in Prag ab.
Gegenüber dieser Haltung der tonangebenden Kreise der deutschen Minderheit hätten
auch alle Versuche der tschechoslowakischen Regierung um eine Zusammenarbeit
keine Erfolgsaussichten gehabt. Allerdings war die Politik der tschechischen
Bourgeoisie, die nach einem langwierigen, an Demütigungen und Misserfolgen
reichen Kampf gegen die Wiener Vorherrschaft nun Sieger war, auch nicht auf weit
reichende Zugeständnisse gegenüber den nicht-tschechischen Volksteilen
orientiert.
Zu einer gewissen Modifizierung der Haltung von Teilen der deutschen Bourgeoisie
und der deutschen Sozialdemokratie in der CSR kam es in der zweiten Hälfte der
Zwanzigerjahre. In begrenztem Maße entwickelte sich die Zusammenarbeit einiger
Parteien der deutschen Minderheit (der „Aktivisten“ im Unterschied zu den
„Negativisten“) mit Prag. Ab 1926 beteiligten sich der „Bund der
Landwirte“ und die „Christlich-Soziale Volkspartei“ und ab 1929 auch die
„Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ an der Regierung.
Angesichts der durch scharfe öffentliche Polemiken gekennzeichneten Situation
fanden die tatsächlichen Rechte und Möglichkeiten der Deutschen in der CSR
eine viel zu geringe Wertschätzung. Bei einer abnehmenden deutschen Bevölkerung
gab es im Jahr 1934 in der CSR insgesamt 10.449 Volksschulen mit 31.145 Klassen,
davon 3301 deutschsprachige mit 9275 Klassen. In Prag existierte die deutsche
Universität, die 5000 Studenten hatte. Deutsche Technische Hochschulen befanden
sich in Prag und Brünn. In den Jahren 1935/36 gab es nach der offiziellen
Statistik weiters folgende deutschsprachige Bildungseinrichtungen: 58 Gymnasien
aller Art, 19 Realschulen, 10 Lehrerbildungsanstalten, 27 staatliche
Fachschulen, 9 Staatsgewerbeschulen, 9 Handelsakademien, 482 gewerbliche
Fortbildungsschulen, 21 Hausindustrieschulen, 34 Schulen für Frauenberufe und
eine ganze Reihe landwirtschaftlicher Schulen. Angesichts der von den deutschen
Nationalsozialisten ab 1938 und im Zweiten Weltkrieg betriebenen Unterdrückungs-
und Ausrottungspolitik gegenüber anderen Nationen, einschließlich der
tschechischen, nimmt sich die Vielzahl der vor 1938 in der CSR existierenden
deutschen kulturellen Institutionen, Schulen sowie deutschsprachigen Zeitungen,
Zeitschriften und Bücher, die im Lande verlegt wurden, als Ausdruck einer verhältnismäßig
liberalen Politik aus.
Hitler und die Tschechoslowakei
Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten in
Deutschland entstand eine neue Situation. Die sich an Hitler orientierenden
sudetendeutschen faschistischen Parteien, die „Deutsche Nationalpartei“(DNP)
und die „Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei“ (DNSAP) unter ihren
Führern Rudolf Jung und Hans Krebs verkündeten offen als Ziel, die
sudetendeutschen Gebiete dem Deutschen Reich anzugliedern. Daraufhin wurden sie
verboten, und Jung und Krebs flohen nach Berlin, wo sie Hitler durch die
Berufung zu Mitgliedern des Reichstages und zu „Gauleitern ehrenhalber“
auszeichnete.
Die rechtsextremen Parteien DNSAP und DNP hatten sich zu weit vorgewagt. Noch
war man in Berlin keineswegs gewappnet, einen so bedeutsamen Expansionsschritt
zu unternehmen und gegen die gut gerüstete CSR anzutreten. Die deutschen
Nationalsozialisten benötigten außerdem eine Massenbasis unter den Deutschen
der Sudetengebiete, die unter ihrer Kontrolle allmählich den politischen Boden
so vorbereitete, dass zum gegebenen Zeitpunkt, den zu bestimmen sich die Naziführung
in Berlin vorbehielt, ein gemeinsamer Schlag der deutschen und sudetendeutschen
Faschisten gegen die Tschechoslowakei geführt werden konnte.
Deshalb wurde, akkordiert mit Hitler, im Sudetenland eine neue, sich als überparteilich
ausgebende Sammelbewegung ins Leben gerufen, die „Sudetendeutsche
Heimatfront“ (SHF) unter dem Turnlehrer Konrad Henlein. Im Unterschied zu den
bis dahin tätigen nationalistischen Parteien, die die Nichtanerkennung der CSR
und ihre Absicht, diesen Staat zu liquidieren, lauthals verkündet hatten,
achtete die SHF auf eine strenge Trennung zwischen ihren Nah- und Fernzielen. In
Übereinstimmung mit den Naziführern in Berlin, die einige Jahre für die
innenpolitische und wirtschaftliche Vorbereitung zu einem Aggressionskrieg benötigten,
rückte die SHF nicht ihr Endziel, sondern die taktischen Nahziele in den
Vordergrund. Sie bemühte sich, den Anschein zu erwecken, eine selbstständige,
nicht von den Nationalsozialisten in Berlin gesteuerte Organisation zu sein.
Die im Oktober 1933 gegründete SHF unter Henlein wurde von Deutschland
insgeheim finanziell unterstützt und hatte sofort großen Zulauf. Zum Ausdruck
kam das bei den Parlamentswahlen in der Tschechoslowakei am 19. Mai 1935, als
die in "Sudetendeutsche Partei" umbenannte SHF mit 1,2 Millionen
Stimmen und 15,2% Wähleranteil zur stärksten Partei in der CSR wurde und mit
44 Mandaten im Parlament nur ein Mandat weniger hatte als die führende
tschechische Partei der Agrarier. Von den deutschen Wählern brachte die
Henlein-Partei etwas mehr als zwei Drittel hinter sich. Drei Jahre später, im
Mai 1938, bereits nach dem Anschluss Österreichs, errang die Sudetendeutsche
Partei als eine Bewegung, die nun schon ganz ostentativ der Politik Hitlers
folgte, einen noch spektakuläreren Erfolg, als sie bei den Gemeinderatswahlen
von insgesamt 824.000 deutschen Stimmen 750.000 erhielt: das waren 91 Prozent
aller deutschen Stimmen.
Die weiteren Ereignisse sind bekannt: im Münchener Abkommen vom 30. September
1938 legten das Deutsche Reich, Großbritannien, Frankreich und Italien der CSR
das Diktat der Abtretung der sudetendeutschen Gebiete auf. Im Laufe des Oktober
und November besetzte die Wehrmacht 28.363 km2 tschechoslowakischen Gebiets.
Dort lebten 3,617.000 Einwohner, wovon 2,806.000 deutscher und 719.000
tschechischer bzw. slowakischer Nationalität waren. Unter dem Druck des Münchener
Diktats trat die CSR am 1. Oktober das Gebiet Teschen sowie einige
Grenzgemeinden der Nordslowakei mit etwa 200.000 Einwohnern, wovon 80.000
polnischer Nationalität waren, an Polen ab. Die ungarischen Gebietsforderungen
wurden am 2. November 1938 durch einen deutsch-italienischen Schiedsspruch in
Wien befriedigt. Die CSR verlor so innerhalb eines Monats mehr als 41.000 km2
ihres Territoriums und fast fünf Millionen Einwohner. Über eine Million
Tschechen und Slowaken waren unter deutsche, ungarische und polnische Herrschaft
geraten.
Der größte Teil des tschechoslowakischen Kohlenbergbaus, wichtige Energiebasen
und Großbetriebe der Hütten- und chemischen Industrie gingen verloren. Die
Produktionsverluste betrugen in Prozenten der Gesamterzeugung der CSR bei
Steinkohle 66, Braunkohle 80, Chemikalien 86, Zement 80, Textilien 80, Eisen und
Stahl 70, elektrischen Strom 70 und Holz 40. Hitlerdeutschland fielen von der
CSR 1013 Lokomotiven, 23.500 Güterwagons sowie Personenwagen und
Tatra-Omnibusse in die Hände. Die deutsche Rüstungsindustrie gewann einen
Produktionszuwachs für über 70.000 Gewehre, 1000 Tonnen Schießpulver, 700.000
Zündhütchen, 300.000 Artilleriezünder, 300 Tonnen Geschoßkernstahl usw. Für
die Elbe- und Oderschifffahrt bekam Deutschland Boote, außerdem neue Fluglinien
und militärische Überflugrechte. Faktisch wurde die „Resttschechoslowakei“,
wie die NS-Presse das geprüfte Land nun verächtlich nannte, in wirtschaftlicher
und verkehrsmäßiger Hinsicht weitestgehend von Hitlerdeutschland abhängig.
Das „Reichsprotektorat“
Der letzte Schritt zur Liquidierung dieses Gebildes
erfolgte am 15. März 1939 mit der Separation der Slowakei, der militärischen
Besetzung der „Tschechei“ und der Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen
und Mähren".
Was danach bis 1945 geschah, mögen einige Zitate verdeutlichen, die belegen,
welches Schicksal man den Tschechen zudachte:
Aus einer Denkschrift des „Staatssekretärs beim Reichsprotektor für Böhmen
und Mähren“, Karl Hermann Frank:
„Das Ziel der Reichspolitik in Böhmen und Mähren muss die restlose
Germanisierung von Raum und Menschen sein. Um sie zu erreichen, gibt es zwei Möglichkeiten:
I. Die totale Aussiedlung der Tschechen aus Böhmen und Mähren in ein Gebiet außerhalb
des Reiches und Besiedlung des freigewordenen Raumes mit Deutschen, oder
II. bei Verbleiben des Großteils der Tschechen (...) die gleichzeitige
Anwendung vielfacher, der Germanisierung dienender Methoden (...)
Eine solche Germanisierung sieht vor:
1. Die Umvolkung von rassisch geeigneten Tschechen;
2. Die Aussiedlung von rassisch unverdaulichen Tschechen und der
reichsfeindlichen Intelligenzschicht, bzw. Sonderbehandlung (sprich: Ermordung,
H.H.) dieser und aller destruktiven Elemente;
3. die Neubesiedlung dadurch freigewordenen Raumes mit frischem deutschen
Blut.“ (Hervorhebungen H.H.)
Aus Himmlers „Generalplan Ost“, verfasst Ende 1941:
„Es wäre daher zu erwägen, in Betracht kommende geeignete Tschechen in den
sibirischen Raum zu überführen (...)“ (Hervorhebung H.H.)
Aus einem Elaborat eines Dr. Walter Hergl, Rechtsanwalt in Reichenberg:
„Das Endziel (...) ist ganz klar: wir wünschen das Land als deutsche Erde,
sohin das Aufhören des Daseins einer tschechischen Nationalität auf diesem
Boden! Keine verfehlte Humanität! (...) Ausrottungstaktik ist geboten (...)“
(Hervorhebungen H.H.)
Aus einem Memorandum des deutschen Auswärtigen Amtes:
„Die tschechische Kultur insgesamt, die ganze tschechische Ideologie ebenso
wie die tschechische Sprache müssen langsam, aber systematisch zurückgedrängt
und zum Verschwinden gebracht werden.“ (Hervorhebung H.H.)(...)
Aus zwei Reden des „Stellvertretenden Reichsprotektors für Böhmen und Mähren“,
Reinhard Heydrich 1941:
„Aber die Grundlinie muss für all dieses Handeln unausgesprochen bleiben,
dass dieser Raum einmal deutsch werden muss, und dass der Tscheche in diesem
Raum letzten Endes nichts mehr verloren hat (...) Die noch nicht Eindeutschbaren
wird man vielleicht bei der weiteren Erschließung des Eismeer-Raumes einsetzen
mit der Chance, auch ihre Familien nachzuziehen.“ (Hervorhebungen H.H.)
Der brutalen Herrschaft der Deutschen fielen von 1939 bis 1945 an die 250.000
Bewohner des Protektorats zum Opfer, die in Konzentrations- und
Vernichtungslagern, in Gestapo-Gefängnissen zu Tode gequält, von
Standgerichten hingerichtet und bei Massakern an ganzen Ortschaftsbevölkerungen
- wie in Lidice und Lezaky - ihr Leben verloren.
Die Folgen
Vor dem Hintergrund der NS-Politik gegenüber der
tschechischen Nation war es von entscheidender Bedeutung, ob sich ein
nachhaltiger Widerstand gegen diese Politik innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung
herausbildete. Benes, seit 1938 im Exil, ging zunächst davon aus, dass die
Deutschen in einem wieder erstandenen und erneuerten tschechoslowakischen Staat
ein gleichberechtigter Faktor sein würden. Auch die Kommunistische Partei
sprach sich bis Ende 1943 gegen eine weit reichende Aussiedlung aus. Sie plädierte
für eine Differenzierung und wollte lediglich die Aussiedlung der aktiven
Nationalsozialisten ins Auge fassen. Als sich jedoch zeigte, in welch breitem Maße
die NS-Terrorpolitik durch sudetendeutsche Zustimmung und Mitarbeit abgestützt
war, verwandelte sich die Abneigung gegen die Nazis in die vom gesamten
tschechischen Volk getragene Forderung, alle Deutschen für immer zu entfernen.
Diese Stimmung war 1945 derart radikal und stark, dass sie sogar die
Kommunistische Partei in Erstaunen versetzte. Die Vertreibung der
Sudetendeutschen ist also weder von der KPC noch von sowjetischer Seite
ausgegangen, sondern war die Antwort des tschechischen Volkes auf eine
Situation, die durch die Okkupationspolitik der Nationalsozialisten und die
Sudetendeutschen selbst herbeigeführt wurde. Die Grundlage für ein weiteres
friedliches Zusammenleben der tschechischen Bevölkerung mit der
deutschsprachigen war restlos zerstört worden – von der deutschen Seite.
Insofern hat der aus dem Sudetenland stammende Historiker J.W. Brügel Recht,
als er schrieb: „Der Totengräber des Sudetendeutschtums heißt Adolf
Hitler“.
Die tschechischen Regierungen nach der Wende von 1989 haben wiederholt erklärt,
dass die Wirksamkeit der Benes-Dekrete „erloschen“ sei. Sie weigern sich
aber, der von deutscher und österreichischer Seite erhobenen Forderung
nachzukommen, sie für „ungültig“ zu erklären und rückwirkend aufzuheben.
Ihr Standpunkt ist: Die Benes-Dekrete seien eine – in ihrer Zeit wirksame –
Bestrafung für nazistische Verbrechen gewesen und könnten daher genauso wenig
rückgängig gemacht werden wie die Verbrechen selbst. Gegen eine Annullierung
spricht, dass die formelle Aufhebung der Benes-Dekrete eine Flut von
Restitutionsforderungen auslösen und damit keineswegs der vielbeschworenen
„Aussöhnung“ und dem „Schlussstrich-Ziehen“ dienen würde. Ihre Folge wäre
im Gegenteil die Fortsetzung und Verschärfung des Konflikts. Die
Vertriebenenverbände und andere politische Kräfte in der BRD und in Österreich
würden verstärkt dazu übergehen, die Rückgabe von Vermögen bzw. Entschädigung,
das „Recht auf Rückkehr in die Heimat“ usw. zu verlangen. Rechten und
reaktionären Kräften würde eine Aufhebung der Benes-Dekrete nicht nur neue
juristische Handhaben liefern, sondern darüber hinaus auch willkommener Anlass
sein, unter Berufung auf die „westliche Wertegemeinschaft“ und die
„Menschenrechte“ das Täter-Opfer-Verhältnis ins Dunkel der Geschichte zu rücken.
Die Forderung nach Aufhebung der Benes-Dekrete ist somit Bestandteil einer
Politik, die auf die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges abzielt und
zu verwischen versucht, wer 1938 und danach in der Tschechoslowakei (und nicht
nur dort!) die Täter und wer die Opfer waren.
Benützte Literatur
Jan Opocensky, Der Untergang Österreichs und die
Entstehung des Tschechoslowakischen Staates, Prag 1928
Gerhard Fuchs, Gegen Hitler und Henlein. Der solidarische Kampf tschechischer
und deutscher Antifaschisten von 1933 bis 1938, Berlin 1961
Johann Wolfgang Brügel, Tschechen und Deutsche 1918 – 1938, München 1967
Das deutsch-tschechische Verhältnis seit 1918, hrsg. von Eugen Lemberg und
Gotthold Rhode, Stuttgart 1969
Detlef Brandes, Die Tschechen unter deutschem Protektorat, Teil I:
Besatzungspolitik, Kollaboration und Widerstand im Protektorat Böhmen und Mähren
bis Heydrichs Tod (1939 – 1942), München-Wien 1969
Johann Wolfgang Brügel, Tschechen und Deutsche 1939 – 1946, München 1974
Detlef Brandes, Die Tschechen unter deutschem Protektorat, Teil II:
Besatzungspolitik, Kollaboration und Widerstand im Protektorat Böhmen und Mähren
von Heydrichs Tod bis zum Prager Aufstand (1942 – 1945), München-Wien 1975
Jörg K. Hoensch, Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918-1978,
Stuttgart 1978
Rudolf Dau/Franz Svatosch, Neueste Geschichte der Tschechoslowakei, Berlin 1985
Gerhart Hass, Münchner Diktat 1938 - Komplott zum Krieg, Berlin 1988
Francesco Leontini, Die Sudetenfrage in der europäischen Politik. Von den Anfängen
bis 1938, Essen 1988
Jörg K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20.
Jahrhundert, 2.Aufl., München 1992
Kontakte und Konflikte. Böhmen, Mähren und Österreich: Aspekte eines
Jahrtausends gemeinsamer Geschichte, hrsg. von Thomas Winkelbauer,
Horn-Waidhofen an der Thaya 1993
Ferdinand Seibt, Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft
in der Mitte Europas, München 1997
Mitteilungen der Alfred Klahr
Gesellschaft, Nr. 2/2001
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