Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung Drechslergasse 42, A–1140 Wien Tel.: (+43–1) 982 10 86, E-Mail: klahr.gesellschaft@aon.at
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Franz Muhri: Die scheibchenweise Preisgabe von Staatsvertrag und immerwährender NeutralitätVdU und FPÖ gegen Staatsvertrag und NeutralitätEs hat seit damals lange Zeit nur eine politische Partei in Österreich gegeben, die gegen den Staatsvertrag und die immerwährende Neutralität war: Der Verband der Unabhängigen, dessen Abgeordnete im Nationalrat gegen das Neutralitätsgesetz stimmten und dessen Nachfolgepartei, die FPÖ. Ihr Hauptargument war und ist, daß damit die Souveränität Österreichs eingeschränkt werde. Das Gegenteil ist in Wirklichkeit der Fall. Im Artikel 1 des Staatsvertrages heißt es: „Die Alliierten und Assoziierten Mächte anerkennen, daß Österreich als ein souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat wieder hergestellt ist”. Im Artikel 2 wird hinzugefügt: „Die Alliierten und Assoziierten Mächte erklären, daß sie die Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit Österreichs, wie sie gemäß dem vorliegenden Vertrag festgelegt sind, achten werden.” Auch die Bestimmungen des Artikels 4 im Staatsvertrag, in welchem sich Österreich verpflichtet, keine Handlungen zu setzen und „irgendwelche Maßnahmen zu treffen, die geeignet wären unmittelbar oder mittelbar eine politische oder wirtschaftliche Vereinigung mit Deutschland zu fördern...”, sind auf das Ziel der dauernden Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit Österreichs und gegen einen neuen Anschluß an Deutschland gerichtet. In Wahrheit sind Staatsvertrag und Neutralität - zusammen mit der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, dem Gründungsdokument der Zweiten Republik, das auch die Unterschrift des langjährigen Vorsitzenden der KPÖ Johann Koplenig trägt - die eigentlichen verfassungsmäßigen Fundamente der nationalen Selbständigkeit unseres Landes. In Wirklichkeit fordern die FPÖ und Haider, der das Anschlußverbot als eine „Beleidigung” bezeichnet hat, die Abschaffung des Staatsvertrages und der immerwährenden Neutralität gerade deshalb, weil sie darin ein Hindernis zur Politik der Preisgabe der Souveränität und zur Verwirklichung seiner nunmehr offen erhobenen Forderung nach Beitritt Österreichs zur NATO sehen. Darüber hinaus sind der FPÖ, die politisch und ideologisch mit dem Neofaschismus verbunden und feindlich gegen die nationalen Minderheiten eingestellt ist, alle jene Bestimmungen des Staatsvertrages im Wege, die Verpflichtungen zu wirksamen Maßnahmen gegen den Neofaschismus und Deutschnationalismus und zur Gewährleistung der Gleichberechtigung der slowenischen und kroatischen Minderheit enthalten (Artikel 7). Was außer Frage stand, wird nun „hinterfragt”Im Unterschied zur FPÖ haben ÖVP und SPÖ lange Zeit zum Staatsvertrag sowie
auch zum Status der immerwährenden Neutralität im ganzen gesehen, eine positive
Haltung eingenommen. Was jedoch die Einhaltung und Durchführung seiner
Bestimmungen betrifft, ist man vom Anfang an inkonsequent gewesen. Dies gilt
unter anderem besonders für den antifaschistischen Auftrag des Staatsvertrages,
für die Verwirklichung des Artikels 7, und dies gilt ebenso für die Bestimmung,
daß ehemaliges deutsches Eigentum ab einer bestimmten Größe nicht an deutsche
juristische oder physische Personen übertragen werden darf (Artikel 22). Im
Zuge von Privatisierungen wurden zunehmend verstaatlichte Unternehmensanteile
an deutsches Kapital ausverkauft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und
der anderen realsozialistischen Ländern Europas begannen auch die ÖVP und die
SPÖ den Staatsvertrag und die Neutralität offen in Frage zu stellen. War es
zunächst nur so, daß die österreichische Regierung, insbesonders die
SP-Führung, den nunmehr angestrebten Vollbeitritt zur EG/EU mit einem
Neutralitätsvorbehalt verbanden, wurde im weiteren im Beitrittsvertrag selbst
bereits vollkommen darauf verzichtet. Hat man vor der Volksabstimmung über
einen Beitritt Österreichs zur EU so getan, als ob dieser Beitritt mit dem
Staatsvertrag und Neutralität ohnehin vereinbar sei, ist nach der
Volksabstimmung in der Regierung, in der ÖVP und SPÖ, nunmehr beides offen in
Frage gestellt worden. Insbesonders Mock, als damaliger Außenminister, und der
Verteidigungsminister Fasslabend vertraten die Auffassung, daß die Neutralität
überholt sei, daß der Staatsvertrag für „obsolet” erklärt werden solle.
Bundespräsident Klestil machte sich geradezu zum Vorreiter einer solchen Ansicht.
Seitens der SP-Spitze argumentierte man etwas vorsichtiger. Bundeskanzler
Vranitzky erklärte, daß „vorläufig” und „bis auf weiteres” nicht etwas
aufgegeben werden soll, bevor nicht ein neues europäisches Sicherheitssystem
geschaffen sei. Stimmen für Staatsvertrag und NeutralitätAltbundespräsident Rudolf Kirchschläger, der sich gegen ein Aufgeben von
Staatsvertrag und Neutralität ausgesprochen hat, erklärte in „News” vom 2. März
dieses Jahres zu diesem Thema: „Hier wird das Gespenst an die Wand gemalt, daß
laut Staatsvertrag die vier Signatarmächte unsere Souveränität beschränken
könnten. Das ist eine Unsicherheitsdebatte. Selbst im Kalten Krieg war sicher,
daß nie eine Übereinstimmung der vier Mächte kommt, die Botschafterkommission
einzuberufen. Jetzt, wo wir mit Frankreich und England in der EU sind, fürchten
wir uns davor?” Es gab in jüngster Zeit auch verstärkt Stimmen in beiden
Regierungsparteien, die sich dagegen wenden, daß auf diese Weise Staatsvertrag
und Neutralität so offen in Diskussion gebracht und in Frage gestellt werden. Bedeutet dies eine Haltungsänderung oder ist das nur Taktik?Die österreichische Öffentlichkeit hat jedenfalls keinen Grund, sich in Sicherheit zu wiegen. Denn schon die bisherige Erfahrung zeigt in einer Fülle von Beispielen, daß man in Worten zu Staatsvertrag und Neutralität stehen, in der praktischen Politik aber immer mehr davon abgehen kann. Es besteht kein Grund zur Annahme, daß diese doppelbödige Politik nicht fortgesetzt wird. Aber die Auseinandersetzung über die Frage, ob diese Fundamente von Freiheit und Unabhängigkeit Österreichs vollends preisgegeben werden oder nicht, ist noch nicht entschieden. Sie wird und muß weitergehen. Einerseits sind durch den Zusammenbruch der Sowjetunion, durch das Entstehen eines neuen Großdeutschland die Kräfte gegen die Unabhängigkeit Österreichs gestärkt worden. Gleichzeitig kann man nicht ignorieren, daß eine Obsoleterklärung des Staatsvertrages nicht einseitig gegenüber der Russischen Föderation erfolgen kann, sondern daß Einvernehmen mit allen Signatarstaaten des Staatsvertrages notwendig ist. Der Staatsvertrag übt zugleich die Funktion eines Friedensvertrages aus. Es gibt seitens der westlichen Alliierten bisher keine Äußerung, die eine Obsoleterklärung unterstützt, eher umgekehrte Andeutungen. Daß Deutschland durch eine neue Art von Anschluß Österreichs noch mehr gestärkt würde, widerspricht den strategischen Machtinteressen der Westmächte. Gegen die Beseitigung der Souveränität ÖsterreichsDoch entscheidend ist der Kampf aller demokratischen patriotischen Kräfte in Österreich selbst. Noch ist es nicht zu spät. Ich bin überzeugt, daß die in der Gründungsurkunde der Zweiten Republik im Staatsvertrag und im Neutralitätsgesetz, verankerte Unabhängigkeit und Souveränität Österreichs nicht überholt ist. Gewiß, vieles hat sich verändert, was neue Überlegungen und Inhalte in der Politik erfordert. Dabei gilt es jedoch an die positiven, demokratischen, nationalen und linken Werte und Traditionen dieser Republik anzuknüpfen, anstatt sie preiszugeben. Ein solcher Kurswechsel erfordert eine Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses in unserem Land nach links statt nach rechts. Er kann nur vom österreichischen Volk selbst bewerkstelligt werden. Eine breite politische und gewerkschaftliche Widerstandsbewegung ist notwendig, eine Stärkung und eine neue Aktionseinheit, eine Koalition der linken und demokratischen, antifaschistischen und patriotischen Kräfte quer durch die Parteien und Gewerkschaften, über ideologische und weltanschauliche Unterschiede hinweg, bis zu den gewerblichen Mittelschichten, den Bauern, den Intellektuellen und Kulturschaffenden und dem Teil des Unternehmertums, der sich ebenfalls den deutschen Monopolen nicht unterordnen will. Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 2/1995 |
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