Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Franz Muhri: Die scheibchenweise Preisgabe von Staatsvertrag und immerwährender Neutralität

VdU und FPÖ gegen Staatsvertrag und Neutralität 

Es hat seit damals lange Zeit nur eine politische Partei in Österreich gegeben, die gegen den Staatsvertrag und die immerwährende Neutralität war: Der Verband der Unabhängigen, dessen Abgeordnete im Nationalrat gegen das Neutralitätsgesetz stimmten und dessen Nachfolgepartei, die FPÖ. Ihr Hauptargument war und ist, daß damit die Souveränität Österreichs eingeschränkt werde. Das Gegenteil ist in Wirklichkeit der Fall. Im Artikel 1 des Staatsvertrages heißt es: „Die Alliierten und Assoziierten Mächte anerkennen, daß Österreich als ein souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat wieder hergestellt ist”. Im Artikel 2 wird hinzugefügt: „Die Alliierten und Assoziierten Mächte erklären, daß sie die Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit Österreichs, wie sie gemäß dem vorliegenden Vertrag festgelegt sind, achten werden.” Auch die Bestimmungen des Artikels 4 im Staatsvertrag, in welchem sich Österreich verpflichtet, keine Handlungen zu setzen und „irgendwelche Maßnahmen zu treffen, die geeignet wären unmittelbar oder mittelbar eine politische oder wirtschaftliche Vereinigung mit Deutschland zu fördern...”, sind auf das Ziel der dauernden Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit Österreichs und gegen einen neuen Anschluß an Deutschland gerichtet. In Wahrheit sind Staatsvertrag und Neutralität - zusammen mit der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, dem Gründungsdokument der Zweiten Republik, das auch die Unterschrift des langjährigen Vorsitzenden der KPÖ Johann Koplenig trägt - die eigentlichen verfassungsmäßigen Fundamente der nationalen Selbständigkeit unseres Landes. In Wirklichkeit fordern die FPÖ und Haider, der das Anschlußverbot als eine „Beleidigung” bezeichnet hat, die Abschaffung des Staatsvertrages und der immerwährenden Neutralität gerade deshalb, weil sie darin ein Hindernis zur Politik der Preisgabe der Souveränität und zur Verwirklichung seiner nunmehr offen erhobenen Forderung nach Beitritt Österreichs zur NATO sehen. Darüber hinaus sind der FPÖ, die politisch und ideologisch mit dem Neofaschismus verbunden und feindlich gegen die nationalen Minderheiten eingestellt ist, alle jene Bestimmungen des Staatsvertrages im Wege, die Verpflichtungen zu wirksamen Maßnahmen gegen den Neofaschismus und Deutschnationalismus und zur Gewährleistung der Gleichberechtigung der slowenischen und kroatischen Minderheit enthalten (Artikel 7).

Was außer Frage stand, wird nun „hinterfragt” 

Im Unterschied zur FPÖ haben ÖVP und SPÖ lange Zeit zum Staatsvertrag sowie auch zum Status der immerwährenden Neutralität im ganzen gesehen, eine positive Haltung eingenommen. Was jedoch die Einhaltung und Durchführung seiner Bestimmungen betrifft, ist man vom Anfang an inkonsequent gewesen. Dies gilt unter anderem besonders für den antifaschistischen Auftrag des Staatsvertrages, für die Verwirklichung des Artikels 7, und dies gilt ebenso für die Bestimmung, daß ehemaliges deutsches Eigentum ab einer bestimmten Größe nicht an deutsche juristische oder physische Personen übertragen werden darf (Artikel 22). Im Zuge von Privatisierungen wurden zunehmend verstaatlichte Unternehmensanteile an deutsches Kapital ausverkauft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der anderen realsozialistischen Ländern Europas begannen auch die ÖVP und die SPÖ den Staatsvertrag und die Neutralität offen in Frage zu stellen. War es zunächst nur so, daß die österreichische Regierung, insbesonders die SP-Führung, den nunmehr angestrebten Vollbeitritt zur EG/EU mit einem Neutralitätsvorbehalt verbanden, wurde im weiteren im Beitrittsvertrag selbst bereits vollkommen darauf verzichtet. Hat man vor der Volksabstimmung über einen Beitritt Österreichs zur EU so getan, als ob dieser Beitritt mit dem Staatsvertrag und Neutralität ohnehin vereinbar sei, ist nach der Volksabstimmung in der Regierung, in der ÖVP und SPÖ, nunmehr beides offen in Frage gestellt worden. Insbesonders Mock, als damaliger Außenminister, und der Verteidigungsminister Fasslabend vertraten die Auffassung, daß die Neutralität überholt sei, daß der Staatsvertrag für „obsolet” erklärt werden solle. Bundespräsident Klestil machte sich geradezu zum Vorreiter einer solchen Ansicht. Seitens der SP-Spitze argumentierte man etwas vorsichtiger. Bundeskanzler Vranitzky erklärte, daß „vorläufig” und „bis auf weiteres” nicht etwas aufgegeben werden soll, bevor nicht ein neues europäisches Sicherheitssystem geschaffen sei.
Während die russische Regierung die Auffassung vertrat, daß in einem gemeinsamen Dokument, das beim geplanten offiziellen Besuch von Präsident Jelzin in Wien Ende April dieses Jahres hätte unterzeichnet werden sollen, noch der Staatsvertrag Erwähnung finden müsset, lehnte dies die Bundesregierung und der Bundespräsident kategorisch ab. Der damalige ÖVP-Obmann Busek ließ unmißverständlich durchblicken, daß man zu einer „Obsoleterklärung des Staatsvertrages” schon früher hätte den Mut aufbringen sollen (nämlich 1990, unmittelbar in der Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion). „Die Presse” zitiert in ihrer Ausgabe vom 18. Februar dieses Jahres Alois Mock: „Es kann unter keinen Umständen ein Papier geben, wo wir uns neue oder frühere Verpflichtungen wiederauferlegen”.Bezeichnend ist, daß Politiker in beiden Regierungsparteien sich auch in dieser Frage wieder von Haider vor sich hertreiben lassen, indem sie von ihm das Argument von der angeblichen Beschränkung der Souveränität durch den Staatsvertrag übernehmen. Man bezog sich insbesonders auf den Artikel 35 des Staatsvertrages, der bei Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung einem Forum, hauptsächlich bestehend aus den Botschaftern der vier alliierten Mächte, die Aufgabe der Beilegung dieser Meinungsverschiedenheiten überträgt, wobei die Mehrheitsentscheidung dann verbindlich ist.

Stimmen für Staatsvertrag und Neutralität

Altbundespräsident Rudolf Kirchschläger, der sich gegen ein Aufgeben von Staatsvertrag und Neutralität ausgesprochen hat, erklärte in „News” vom 2. März dieses Jahres zu diesem Thema: „Hier wird das Gespenst an die Wand gemalt, daß laut Staatsvertrag die vier Signatarmächte unsere Souveränität beschränken könnten. Das ist eine Unsicherheitsdebatte. Selbst im Kalten Krieg war sicher, daß nie eine Übereinstimmung der vier Mächte kommt, die Botschafterkommission einzuberufen. Jetzt, wo wir mit Frankreich und England in der EU sind, fürchten wir uns davor?” Es gab in jüngster Zeit auch verstärkt Stimmen in beiden Regierungsparteien, die sich dagegen wenden, daß auf diese Weise Staatsvertrag und Neutralität so offen in Diskussion gebracht und in Frage gestellt werden.
Bundeskanzler Vranitzky, der sich in dieser Debatte mehrmals sinngemäß eher für ein allmähliches Auslaufen des Staatsvertrages aussprach, hat nunmehr im Rahmen eines Sonderministerrates anläßlich des 40. Jahrestages der Unterzeichnung des Staatsvertrages, laut „Die Presse” vom 16. Mai 1995 einige bemerkenswerte Feststellungen zu dieser Diskussion und Auseinandersetzung getroffen: „Österreich steht daher zu diesem Staatsvertrag. Selbstverständlich auch zu den Verpflichtungen, die sich daraus ergeben”, erklärte Vranitzky. Ferner führte er aus, „er sähe derzeit keinen Anlaß zu ändern oder gar außer Kraft zu setzen”. Gerade in einer Zeit großer Veränderungen und Unsicherheiten sollte man das, was Sicherheit und Stabilität vermittelt, „nicht leichtfertig aufs Spiel setzen”. Vranitzky bezeichnet in dieser Erklärung den Staatsvertrag ferner als „Symbol der Unabhängigkeit” und als ein „Dokument der Freiheit”.

Bedeutet dies eine Haltungsänderung oder ist das nur Taktik?

Die österreichische Öffentlichkeit hat jedenfalls keinen Grund, sich in Sicherheit zu wiegen. Denn schon die bisherige Erfahrung zeigt in einer Fülle von Beispielen, daß man in Worten zu Staatsvertrag und Neutralität stehen, in der praktischen Politik aber immer mehr davon abgehen kann. Es besteht kein Grund zur Annahme, daß diese doppelbödige Politik nicht fortgesetzt wird. Aber die Auseinandersetzung über die Frage, ob diese Fundamente von Freiheit und Unabhängigkeit Österreichs vollends preisgegeben werden oder nicht, ist noch nicht entschieden. Sie wird und muß weitergehen. Einerseits sind durch den Zusammenbruch der Sowjetunion, durch das Entstehen eines neuen Großdeutschland die Kräfte gegen die Unabhängigkeit Österreichs gestärkt worden. Gleichzeitig kann man nicht ignorieren, daß eine Obsoleterklärung des Staatsvertrages nicht einseitig gegenüber der Russischen Föderation erfolgen kann, sondern daß Einvernehmen mit allen Signatarstaaten des Staatsvertrages notwendig ist. Der Staatsvertrag übt zugleich die Funktion eines Friedensvertrages aus. Es gibt seitens der westlichen Alliierten bisher keine Äußerung, die eine Obsoleterklärung unterstützt, eher umgekehrte Andeutungen. Daß Deutschland durch eine neue Art von Anschluß Österreichs noch mehr gestärkt würde, widerspricht den strategischen Machtinteressen der Westmächte.

Gegen die Beseitigung der Souveränität Österreichs

Doch entscheidend ist der Kampf aller demokratischen patriotischen Kräfte in Österreich selbst. Noch ist es nicht zu spät. Ich bin überzeugt, daß die in der Gründungsurkunde der Zweiten Republik im Staatsvertrag und im Neutralitätsgesetz, verankerte Unabhängigkeit und Souveränität Österreichs nicht überholt ist. Gewiß, vieles hat sich verändert, was neue Überlegungen und Inhalte in der Politik erfordert. Dabei gilt es jedoch an die positiven, demokratischen, nationalen und linken Werte und Traditionen dieser Republik anzuknüpfen, anstatt sie preiszugeben. Ein solcher Kurswechsel erfordert eine Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses in unserem Land nach links statt nach rechts. Er kann nur vom österreichischen Volk selbst bewerkstelligt werden. Eine breite politische und gewerkschaftliche Widerstandsbewegung ist notwendig, eine Stärkung und eine neue Aktionseinheit, eine Koalition der linken und demokratischen, antifaschistischen und patriotischen Kräfte quer durch die Parteien und Gewerkschaften, über ideologische und weltanschauliche Unterschiede hinweg, bis zu den gewerblichen Mittelschichten, den Bauern, den Intellektuellen und Kulturschaffenden und dem Teil des Unternehmertums, der sich ebenfalls den deutschen Monopolen nicht unterordnen will.

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 2/1995

 

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