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Valentin Sima: Zwischen
Mythen und Realität. Erinnerungspolitik in Kärnten nach 1945
Im Jänner 2005 fand im
österreichischen Parlament eine Tagung zum „Widerstand in Österreich 1938–1945“
statt.1 Die Spitzen des Staates, angeführt von Bundespräsident Heinz
Fischer, Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Nationalratspräsident Andreas Khol
erwiesen durch Anwesenheit bzw. einführende Worte der Tagung ihre Referenz. Der
ehemalige Leiter des DÖW, Wolfgang Neugebauer, würdigte in seinem
Überblicksreferat die slowenischen Partisanengruppen in Südkärnten als wichtige
Akteure in der Kategorie „Bewaffnete Widerstandsgruppen“. Im Resümee wies er auf
die eminente politische Bedeutung des österreichischen Widerstandes im Hinblick
auf den in der Moskauer Deklaration 1943 geforderten eigenen Beitrag Österreichs
zu seiner Befreiung hin, „wie sich bei den Bemühungen um den Staatsvertrag
herausstellte.“2 Speziell zum Widerstand der Kärntner Slowenen und
Sloweninnen war zur Tagung außerdem ein eigener Referent (Augustin Malle)
geladen.3
Man könnte also meinen, die Kärntner slowenischen Partisanen und Partisaninnen
hätten ihren festen, mit positiven Vorzeichen besetzten Platz im historischen
Gedächtnis Österreichs bzw. in der Geschichtspolitik seiner Eliten. Das
Gegenteil ist der Fall. Neugebauer selbst bemerkte am Schluss seines Referats,
dass die „weitere politisch-gesellschaftliche Entwicklung Österreichs [...]
nicht im Zeichen der WiderstandskämpferInnen und NS-Opfer“ stand, sondern von
den Kriegsteilnehmern und ehemaligen NationalsozialistInnen dominiert wurde.4
Im Mainstream dieser Gesellschaft war kein Platz für ehemalige aktive Gegner der
NS-„Volksgemeinschaft“, sie galten – insbesondere wenn sie z.B. als
PartisanInnen oder im Rahmen anderer alliierter Armeen5 gekämpft
hatten, nachrichtendienstlich tätig oder an Sabotageaktionen beteiligt gewesen
waren – als „Landesverräter“, „Banditen“, „Mörder“ usw. Solche Geschichtsbilder
haben insbesondere in Kärnten tiefe Wurzeln geschlagen.
Der zentrale Ausgangspunkt des Mainstreams der Kärntner Erinnerungskultur und
Vergangenheitspolitik ist der Grenzfindungskonflikt der Jahre 1918–1920,
firmierend unter den Begriffen Abwehrkampf und Volksabstimmung. Diese Begriffe
bilden quasi den „Ursprungsmythos“ der „Kärntner Nation“. Im Lichte einer
bestimmten Interpretation dieser Ereignisse setzte sich ein bestimmtes Narrativ
fest, in welches das gesamte historische Geschehen seither eingebettet wird.
Dabei müssen viele Dinge verdrängt bzw. „vergessen“ werden.6
Zunächst in Kürze die historischen Ausgangspunkte: In Kärnten leben seit
Jahrhunderten zwei autochthone Sprachgruppen, Deutsche und Slowenen, 1890 waren
noch über 25 % der Kärntner Bevölkerung slowenischsprachig, heute sind es nicht
einmal mehr drei Prozent. Dies war kein „natürlicher“ Prozess, sondern Resultat
struktureller und manifester Gewalt gegen die slowenische Sprache, Kultur und
deren Träger. Mit der bürgerlichen Revolution 1848 begann auch in diesem Raum
eine nationale Differenzierung, seit etwa 1870 verschärfte sich der Kampf um den
nationalen Besitzstand. Während der Deutschliberale Vinzenz Rizzi 1848
Sprachenrechte für Slowenen noch uneingeschränkt bejahte, Ansätze von eigener
„slowenischer Staatlichkeit“ jedoch strikt ablehnte, gab es eine solche
Differenzierung ab ca. 1870 nicht mehr. Die Deutschnationalen sahen daher in
jedem öffentlichen Gebrauch und Fördern der slowenischen Sprache letztlich eine
Gefahr für den freien Weg des Deutschtums zum Hafen Triest. Daher wurde auch dem
Erlernen des Slowenischen in der Schule eine völlig untergeordnete Stellung
eingeräumt. Durch das Wahlrecht wurde die politische Partizipation der
slowenischen Bevölkerung massiv hintertrieben. Mit dem Zerfall der Monarchie
stellte sich 1918 auch in dieser Region die Frage der Grenzziehung zwischen den
neu entstehenden Staaten. Es kam zu kleineren bewaffneten Auseinandersetzungen,
die letztlich mit der völligen militärischen Niederlage der Kärntner Verbände
endeten. Die Friedenskonferenz ordnete für das strittige Gebiet eine
Volksabstimmung an, die in einem Teil der Gebietes (Zone A) 22.025 Stimmen für
Österreich (rd. 59 %) und 15.279 Stimmen für Jugoslawien (rd. 41 %) brachte –
ca. 10.000 der Stimmen für Österreich stammten von Stimmberechtigten mit
slowenischer Umgangssprache. Die Motive für das Abstimmungsverhalten waren
vielfältig, sie waren keineswegs und möglicherweise nicht einmal vorwiegend
„nationaler“, sondern auch und wahrscheinlich oft entscheidend
politisch-sozialer und wirtschaftlicher Natur. Die Erste Republik Österreich
betrachtete das Ergebnis nicht als Verpflichtung, in Kärnten auch die
slowenische Kultur und Sprache zu erhalten, sondern als Freibrief für eine
Germanisierungspolitik, die schließlich in den Versuch einer (auch gewaltsamen)
Beseitigung alles Slowenischen während der NS-Herrschaft mündete, nun auch mit
expansiven Zielen Richtung Süden, also über die bis dahin vielbeschworene
„natürliche“ Karawankengrenze hinweg. Nach der Niederlage des Nazifaschismus kam
es zu teilweise konstruktiven Neuanfängen in Kärnten, die aber vor allem nach
dem Abschluss des Staatsvertrages und der Erlangung der Unabhängigkeit wieder
der alten Politik der Zurückdrängung der slowenischen Sprache Platz machten. Wie
sieht diese Entwicklung nun im herrschenden Kärntner Geschichtsnarrativ aus?7
Der Ursprungsmythos, von dem teilweise alle weiteren abgeleitet sind, könnte
etwa folgendermaßen formuliert werden: Der Feind trägt von außen Unruhe unter
das in friedlicher Eintracht lebende Kärntner Volk, das sich 1918–20 in
Abwehrkampf und Volksabstimmung heldenhaft, einig und erfolgreich gegen den
Angriff von außen zur Wehr setzt. Bis 1918 hätten Deutsche und Slowenen in
Kärnten jahrhundertelang friedlich zusammengelebt. 1918/19 sei nun der Feind ins
Land eingefallen und habe versucht, einen Teil davon wegzureißen. Verdrängt wird
bei dieser Erzählung der etwa seit 1870 immer deutlicher vorgebrachte Versuch
des Deutschnationalismus, die slowenische Kultur und Sprache in Kärnten zu
marginalisieren. Verdrängt werden die massiven Verfolgungen von Slowenen während
des Ersten Weltkriegs. Verklärt wird das Zusammenleben in „vornationaler“ Zeit,
das eben nicht mutwillig und nicht einseitig und nicht durch einen äußeren Feind
gestört wurde.
Je nach aktueller politischer Situation wird seit 1920 die Rolle des
Abwehrkampfes hervor gestrichen oder – in meist versöhnlicher Absicht – die
Betonung auf den demokratischen Akt der Volksabstimmung gelegt. Symbolisch
spielt in dieser Frage das Singen der umstrittenen vierten Strophe des Kärntner
Heimatliedes eine große Rolle – sie wurde 1930 dazugedichtet und enthält u.a.
die Zeile „wo man mit Blut die Grenze schrieb“, sie wird aber immer wieder mit
Inbrunst gesungen. Als kleiner Mythos am Rande sei die Vorstellung erwähnt,
Kärnten sei „ungeteilt“ geblieben. Faktum ist, dass das ehemalige Kronland
Kärnten 1919 geteilt wurde: das Kanaltal kam zu Italien, das Mießtal und Seeland
zu Jugoslawien. Ein Mythos mit fataleren Folgen ist die angebliche „Einigkeit
der Kärntner“. Hier werden offensichtlich jene 41 % „vergessen“, die für
Jugoslawien gestimmt haben, der Landesverweser Arthur Lemisch hatte sie am 25.
November 1920 zu „Verführten“ erklärt, die „wir wieder zu Kärntnern zu machen
haben“8 – als ob sie keine „Kärntner“ wären. In einer anderen
(verschämten) Weise werden sie auch von wohlmeinenden Freunden sowie von
Angehörigen der Minderheit selbst oft „vergessen“, wenn nämlich bei der
Argumentation, „Kärnten“ müsse den Slowenen für den Ausgang der Volksabstimmung
„dankbar“ sein, auf jene Slowenischsprachigen verwiesen wird, die für Österreich
gestimmt hatten.
Das Bild der „Bedrohung durch den slawischen Feind aus dem Süden“ prägt in
weiterer Folge auch die Erinnerungspolitik in Bezug auf die NS-Herrschaft, den
Zweiten Weltkrieg und den antinazistischen Widerstand der Partisanen und
Partisaninnen im Rahmen der slowenischen Befreiungsfront (Osvobodilna fronta =
OF). Auch auf gesamtösterreichischer Ebene wurde antinazistischer Widerstand
spätestens nach 1949 marginalisiert – bei gewissen regionalen Unterschieden
zwischen Wien und den Bundesländern. Diese Marginalisierung spiegelt sich auch
in der Denkmalkultur wieder: Widerstandsdenkmäler entstanden hauptsächlich in
den Jahren bis 1949, danach wurden Kriegerdenkmäler (zur Erinnerung an bzw. zur
Ehrung von Soldaten der Wehrmacht) zur Norm des kollektiven Erinnerns. In den
1960-er Jahren gab es einige gegenläufige Tendenzen, seit der Mitte der 1980-er
Jahre sind solche wieder stärker zu beobachten.9
Von den jeweiligen innen- und außenpolitischen Konstellationen im Kärntner
Nationalitätenkonflikt beeinflusst, weist die Entwicklung der Erinnerungspolitik
in Kärnten einige Besonderheiten auf. Die Ausgangslage 1945 kann folgendermaßen
charakterisiert werden: Als die militärische Niederlage des NS-Regimes immer
näher rückte, scheinen die alten (Deutsch-) Kärntner politischen Eliten nichts
mehr gefürchtet zu haben als die heranrückenden Partisanen und eine Besetzung
Kärntens durch jugoslawische oder sowjetische Einheiten. Diese Angst teilten sie
mit den Nationalsozialisten. Diese Gemeinsamkeit zwischen den vor- und
postnazistischen Eliten und den NS-Machthabern führte zu einem Vorgang, der sich
im offiziösen Kärntner Geschichtsbild mittlerweile zu einem (weiteren) Mythos
verdichtet hat – dem Mythos von der „Selbstbefreiung“ Kärntens. In den letzten
Tagen vor dem 8. Mai 1945 bemühten sich Angehörige der alten politischen Eliten
in Zusammenarbeit mit „Realisten“ im NS-Herrschaftsapparat wie Gauhauptmann
Meinrad Natmeßnig, den Kärntner Gauleiter und Reichsstatthalter Friedrich Rainer
zum Rücktritt zu bewegen, was schließlich auch gelang. Am Abend des 7. Mai
wandte sich Rainer via Rundfunk an die Bevölkerung: „Die Besetzung Kärntens
durch feindliche Streitkräfte hat begonnen ... Ich selbst werde als
Nationalsozialist von den Feinden als Sprecher für Kärntens Interessen nicht
anerkannt und nicht gehört. Ich mache daher als Reichsstatthalter Platz, um
jenen Kräften, die der Auffassung unserer Feinde besser entsprechen, Gelegenheit
zur Bildung einer politischen Plattform zu geben ... Nationalsozialisten und
Nationalsozialistinnen! Ich danke Euch für eure Treue zum Führer! Seine Idee
lebt in uns! Tretet jetzt alle geschlossen mit allen euren Kräften ein für das
freie und ungeteilte Kärnten!“ Und Gauhauptmann Natmeßnig übergab die
Regierungsgeschäfte in die Hände des neuen Landeshauptmannes Hans Piesch mit dem
Auftrag, „gegen einen inneren und äußeren Feind“ für ein freies und ungeteiltes
Kärnten einzutreten.10
Dieser Vorgang einer im österreichischen Vergleich einzigartigen „legalen“
Machtübergabe wird heute von manchen als Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung
im Sinne der Moskauer Deklaration interpretiert. Eigenartig nur, dass im
offiziösen „Rot-Weiss-Rot-Buch“ (Wien 1946), dessen Zweck insbesondere darin
lag, Österreichs Beitrag zu seiner Befreiung zu dokumentieren, diese Kärntner
Vorgänge keine Erwähnung fanden. Wahrscheinlich hätten die Zeitgenossen eine
solche Einordnung doch als zu dreist empfunden. Doch heute hat „Kärnten“ nun
endlich eine eigene, noch dazu äußerst erfolgreiche „Widerstandsbewegung“.
Landeshauptmann Haider äußerte sich im Februar und März 2005 mehrmals
dahingehend, dass Kärnten mit diesem vor allen anderen Bundesländern gesetzten
Akt der Selbstbefreiung ein wesentliches Signal an das übrige Österreich gegeben
habe, was dann als „Akt der Hinwendung zur Demokratie“ auch für die
Staatsvertragsverhandlungen bedeutsam gewesen sei.11 Der britische
Offizier Peter Wilkinson, der am 8. Mai den enthusiastischen Empfang durch die
politischen Repräsentanten und die Bevölkerung in Klagenfurt miterlebt hatte,
schrieb in einem Brief am 16. Mai 1945, er fürchte, die Popularität der Briten
sei „wohl eher auf die allgemein verbreitete Furcht vor Tito und den Russen
zurückzuführen als auf irgendeine Liebe zu uns.“ Peter Pirker urteilt dazu
treffend: „Die Republik wurde in Klagenfurt aus der Not der Niederlage des
Nationalsozialismus geboren, nicht im Kampf gegen ihn.“12
Während also einige aus Not zu „Demokraten“ wurden, dürften die Erfahrungen mit
dem durch die Nazis auf die Spitze getriebenen aggressiven Nationalismus
wahrscheinlich bei einem Teil der Kärntner politischen Eliten auch zum ehrlichen
Wunsch nach einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Volksgruppen
geführt haben. Wie groß dieser Teil war, ist schwer zu sagen, jedenfalls scheint
er in weiterer Folge wenig politisches Gewicht besessen zu haben. Die Kärntner
Slowenen und Sloweninnen, insbesondere jene, die brutal verfolgt worden waren
bzw. die aktiven Widerstand geleistet hatten, hatten wenig Glauben an die
Möglichkeit einer gleichberechtigten Existenz im wiedererstandenen Österreich,
die Kontinuitäten der Kärntner Eliten in Staat, Politik, Wirtschaft und Kultur,
die beide Umbrüche (1938 und 1945) überdauert hatten, schienen zu groß und die
Erfahrungen mit dem Kärntner Deutschnationalismus in der Ersten Republik und
unter der NS-Herrschaft waren entmutigend. Da diese Kärntner SlowenInnen
unmittelbar nach 1945 ihre Hoffnungen eher in einen staatlichen Zusammenschluss
mit den Slowenen im neuen Jugoslawien setzten, gelten sie im kollektiven
Gedächtnis des Landes noch einmal als „Feinde Kärntens“. Die Plausibilität
dieses Bildes beruht auf dem Vergessen der Tatsache, dass die Befürchtungen der
SlowenInnen vor einer weiteren Diskriminierung ihrer Sprache und Kultur sowie
ihre Zweifel an einem echten Neubeginn in Kärnten berechtigt waren und die
Forderung der OF nach einer Grenzrevision daher legitim oder zumindest
verständlich – ob sie politisch vernünftig war, steht hier nicht zur Debatte.
Die Kärntner Politik stand nach dem Mai 1945 unter Zugzwang. Wollte sie das
Hauptargument für eine Grenzrevision entkräften, musste sie Schritte setzen, die
sowohl nach innen (gegenüber der slowenischen Bevölkerung) als nach außen
(gegenüber den Alliierten und der britischen Besatzungsmacht) demonstrierten,
dass das Verhältnis zur slowenischen Minderheit im neuen Kärnten ein anderes
sein werde. Nach feierlichen Proklamationen seitens der provisorischen
Landesregierung bzw. des konsultativen Landesausschusses, die auch den
slowenischen und jugoslawischen antifaschistischen Widerstand würdigten, wurden
im Laufe des Sommers bzw. Herbstes 1945 dann in zwei Richtungen entscheidende
Schritte gesetzt: Einerseits erfolgten die Rückführung deportierter Slowenen auf
ihre Höfe sowie erste Maßnahmen für die spätere (teilweise) Wiedergutmachung und
andererseits wurde ein zweisprachiges Schulwesen eingerichtet, welches den
nationalen Streit aus den Schulen heraushalten sollte: Ohne zu fragen, ob jemand
„Slowene“ sei oder „Deutscher“, wurden alle Schüler in einem bestimmten Gebiet
verpflicht, beide Sprachen zu lernen – ein zweifellos modernes (heute würde man
sagen: europäisches) Projekt. Für beide Bereiche kann gesagt werden: Das
Engagement der Kärntner Politik und Behörden ist mit zunehmender Sicherheit,
dass es zu keiner Grenzrevision kommen würde, rapide gesunken und teilweise
offener Feindschaft gewichen. Ab 1949 wurden die Wiedergutmachungsleistungen für
die geschädigten SlowenInnen in den Augen der Landesbehörden mehr oder weniger
zu Gnadenakten und die zweisprachige Schule kam in Wellen immer wieder unter
Beschuss, beseitigt wurde sie 1958 auf massiven Druck deutschnationaler
Organisationen, die sich nach Abschluss des Staatsvertrags wieder konstituiert
hatten.
Parallel dazu erfolgte ein Umkippen der Erinnerungspolitik in Bezug auf
Okkupation, Zweiten Weltkrieg, NS-Verfolgungspolitik und Widerstand. Bereits ab
1947 wurde sie zunehmend vom Diskurs über „Verbrechen“ der Partisanen und die so
genannten „Verschleppungen von Zivilpersonen“ (so die Terminologie in der
Amtlichen Darstellung der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Kärnten aus
dem Jahr 1952) geprägt. Dabei handelt es sich um Verhaftungen von Männern und
Frauen durch Einheiten der jugoslawischen Armee in den ersten Tagen der
britisch-jugoslawischen Doppelbesetzung Kärntens mit Schwerpunkt im südöstlichen
Teil des Landes, die Amtliche Darstellung zählte 263 verhaftete Personen, davon
kamen 163 wieder frei, je zwei sind in Jugoslawien verstorben bzw. wurden auf
österreichischem Gebiet ermordet, 96 galten als vermisst. Weiters erwähnt die
Amtliche Darstellung 32 in Oberkrain vermisste „Zivilbeamte“, d.h. Personen, die
dort im NS-Okkupationsapparat tätig gewesen waren. Bei all diesen Verhaftungen
kann sich die jugoslawische Armee durchaus im Einklang mit Beschlüssen der drei
Alliierten Mächte gefühlt haben, wonach Kriegs- und Gewaltverbrechen zu
verfolgen, Listen von in solche Verbrechen verwickelten Personen (Beschuldigten)
anzulegen und die Beschuldigten in jenen Ländern, wo die Verbrechen begangen
worden waren, einer Bestrafung nach den dortigen Gesetzen zuzuführen seien. Die
jugoslawische Armee scheint teilweise nach Listen vorgegangen zu sein, davon
wären reine „Übergriffe“ zu unterscheiden. Dass Menschen auf solchen Listen
waren, beweist noch keinesfalls ihre Schuld. Ein britischer Bericht aus dem
Oktober 1945 legt nahe, dass es sich bei einem Teil der Verhafteten um lokale
NS-Führer bzw. überzeugte Nationalsozialisten handelte. Wie auch immer: Ihre
Schuld und deren Ausmaß hätte in einem gerichtlichen Verfahren nachgewiesen
werden müssen.
Der Wunsch nach Aufklärung des Schicksals der Vermissten und die Benennung
außergerichtlicher Liquidierungen als Mord und Verbrechen sind legitim.
Revisionistische Geschichtspolitik beginnt jedoch dort, wo die „Verschleppten“
zur generellen Kriminalisierung des Widerstandes eingesetzt werden. Das
ÖVP-Organ Volkszeitung begann schon 1947 mit negativen Berichten über
„Partisanen“, 1948 brachte sie Kärntner Partisanen erstmals in direkten
Zusammenhang mit den „Verschleppten“.13 Die Grazer Kleine Zeitung
eröffnete 1952 eine Kärntner Redaktion und lieferte sozusagen als Einstand
gleich die Artikelserie „Die Mörder sind unter uns“ (28. Juni bis 17. Juli
1952), worin sie ausführlich aus der erwähnten Darstellung der
Sicherheitsdirektion zitierte. Im Jahr 1953 folgte eine weitere Serie mit
ähnlichem Inhalt, zwei der Folgen befassten sich mit angeblichen Verbindungen
der sozialistischen Tageszeitung Die Neue Zeit zum jugoslawischen Geheimdienst,
im Unterschied zu den anderen sind sie namentlich gezeichnet – von Hans Dichand.
In der Artikelserie wurden einige Personen namentlich diverser Verbrechen
beschuldigt, diese klagten das Blatt, am Ende musste die Kleine Zeitung die
Haltlosigkeit ihrer Anschuldigungen zugeben.14 In diesen Zusammenhang
gehört auch der Umgang mit antifaschistischen Erinnerungszeichen in Kärnten,
namentlich PartisanInnendenkmälern, was Gegenstand des Referats von Lisa Rettl
ist.15
Wir sind nun wieder beim Ursprungsmythos angelangt, der Bedrohung Kärntens durch
den slawischen Feind aus dem Süden. Doch gab und gibt es auch im herrschenden
Geschichtsbild leichte Änderungen. Fanden die NS-Verbrechen etwa in den 1950er
Jahren in deutschnationalen Publikationen noch eine kaum verhohlene
Rechtfertigung16, wurde im Jahr 1982 die Deportation slowenischer
Familien vom Obmann des Kärntner Heimatdienstes (KHD) immerhin als „hart und
grausam“ klassifiziert, wiewohl er nicht vergisst anzufügen, dass nach der
Zerschlagung von NS-Deutschland „die Ausgesiedelten vermehrt um einige in der
Fremde geborene Kinder nach Kärnten zurückkehrten und vom österreichischen Staat
materiell entschädigt wurden.“17 Auch im heutigen Diskurs wird die
Beteiligung von Kärntnern an den NS-Verbrechen und insbesondere auch am
NS-Okkupationsapparat im besetzten Slowenien nicht thematisiert. Die von
Partisanen „Terrorisierten“, „Ermordeten“ usw. wären einfach „heimattreue
Kärntner“ oder „Abwehrkämpfer“ gewesen. Ausgeblendet und unhinterfragt bleibt
die Rolle dieser Personen während der NS-Zeit. Die NS-Verbrechen werden zwar
verbal verurteilt, über Bilder emotionalisiert hingegen werden angebliche oder
tatsächliche Verbrechen von Partisanen, z.B. in der seit November 2002 von
Andreas Mölzer mit Unterstützung des KHD und Subventionen der Kärntner
Landesregierung produzierten Video-Serie (bisher vier Teile) über die Verbrechen
der „Tito-Partisanen“. In der ersten Folge lässt Mölzer den mittlerweile wegen
Äußerungen zur Gaskammer in Mauthausen in Wiederbetätigungsverdacht geratenen
Siegfried Lorber darüber spekulieren, dass ein besonders grausames Massaker
gegen Kriegsende – jenes am Peršmanhof bei Eisenkappel/Železna Kapla – von den
Partisanen selbst verübt worden sei. Eine Kurzversion dieser Folge wurde 2003
vom Landesschulrat an einen Teil der Kärntner Schulen verteilt.
Doch gibt es in Kärnten neben und teilweise auch gegen diesen die Öffentlichkeit
beherrschenden Diskurs einen alternativen, der Hoffnung auf eine andere,
pluralistische Erinnerungskultur macht.
Referat am Symposium
der Alfred Klahr Gesellschaft „Kontinuität und Wandel der österreichischen
Geschichtsmythen. Eine kritische Bilanz des Gedenkjahres 2005“ am 29. Oktober
2005.
Anmerkungen:
1/ In einer Aussendung des ÖVP-Klubs wurden als Veranstalter
Nationalratspräsident Dr. Andreas Khol gemeinsam mit den politischen Akademien
der ÖVP und SPÖ, dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW),
dem Bundesministerium für Landesverteidigung und der katholischen Kirche genannt
und die Tagung als „Parlamentsenquete“ bezeichnet (undat., www.oevpklub.at/klub/artikel.aspx?where=11351&bhfv=6&bhqs=1,
19.1.2005).
2/ Wolfgang Neugebauer, Widerstand in Österreich – Ein Überblick (www.doew.at/thema/widerstand/tagung_wn.html,
19.8.2005).
3/ Vgl. die Berichte zur Tagung in der Parlamentskorrespondenz v. 19.1.2005, Nr.
19–24 u. 27 (www.parlament.gv.at/..., 19.08.2005); weiters auf
www.volksgruppen.orf.at/volksgruppen/aktuell/stories/24806, 20.1.2005.
4/ Neugebauer, Widerstand.
5/ Vgl. zu ehemaligen Mitarbeitern des britischen Kriegsgeheimdienstes SOE in
Kärnten Peter Pirker, Widerstand, Desertion, Abwehr. Anmerkungen zur
Geschichtspraxis im Gedenkjahr, in: Werner Koroschitz/Lisa Rettl (Hg.), „Heiss
umfehdet, wild umstritten ...“. Geschichtsmythen in Rot-Weiß-Rot. Katalog zur
Sonderausstellung im Museum der Stadt Villach 21. April–30. Oktober 2005.
Klagenfurt/Celovec 2005, S. 75–93.
6/ Zur Bedeutung des „Vergessens“ bei der Konstituierung von Nationen vgl.
Ernest Renan, Was ist eine Nation?, in: Ernest Renan, Was ist eine Nation? Und
andere politische Schriften. Wien–Bozen 1995, S. 41–58.
7/ Als Grundlage für die folgenden Ausführungen sei hier summarisch verwiesen
auf: Kärnten bleibt deutsch. Zur Tradition und Gegenwart der Feiern zum 10.
Oktober, hg. vom Klub slowenischer Studenten in Wien, Wien/Dunaj – Klagenfurt/Celovec
1980; Die Feiern zum 10. Oktober in Kärnten, hg. vom Klub slowenischer Studenten
und Studentinnen in Wien, Klagenfurt/Celovec 1990; Karl Stuhlpfarrer,
Volksabstimmungsfeiern und Geschichtsbild, in: Kärnten – Volksabstimmung 1920.
Voraussetzungen, Verlauf, Folgen. Wien–München–Kleinenzersdorf 1981, S. 13–27;
Valentin Sima, Der 10. Oktober 1980 – ein Fest der „Versöhnung“ und der
„Begegnung“ in Kärnten? Thesen zur offiziellen Politik um die Organisierung der
Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Kärntner Volksabstimmung, in: Kein einig
Volk von Brüdern. Studien zum Mehrheiten-/Minderheitenproblem am Beispiel
Kärntens, hg. von der „Arbeitsgemeinschaft Volksgruppenfragen“ an der
Universität Klagenfurt, Wien 1982, S. 259–300; Robert Kluger, Politische
Gedenktage und die deutschsprachige Kärntner Presse (1918–1945), in: Ulfried
Burz/Heinz-Dieter Pohl (Hg.), Politische Festtagskultur in Kärnten. Einheit ohne
Einigkeit? Klagenfurt/Celovec – Ljubljana/Laibach – Wien/Dunaj 2005, S. 9–71,
hier S. 24–38; Christian Pichler, Politische Gedenktage und die deutschsprachige
Kärntner Presse (1945–2000), in: ebda., S. 171–273, hier S. 205–245.
8/ Kärntner Landsmannschaft, 15.12.1920, Nr. 85, zit. nach: Zur 30. Wiederkehr
der Kärntner Volksabstimmung (Übersetzung aus „Svoboda“), hg. v. Slovenska
prosvetna zveza – Slowenischer Kulturverband, Klagenfurt 1950, S. 37.
9/ Vgl. dazu verschiedene Arbeiten von Heidemarie Uhl.
10/ Die Zitate entstammen der Amtlichen Bekanntmachung in der Kärntner Zeitung
v. 8. Mai 1945, zit. nach Hanns Haas/Karl Stuhlpfarrer, Österreich und seine
Slowenen. Wien 1977, S. 88.
11/ So z. B. in der Eröffnungsansprache zur Ausstellung „50 Jahre
Österreichischer Staatsvertrag“ – nach einer APA-Aussendung v. 10.3.2005,
APA0126 5 II 0284 KI.
12/ Pirker, S. 92 (auch Zitat von Wilkinson nach Pirker).
13/ Zum Diskurs über die „Verschleppten“ referierte Brigitte Entner auf einem
Symposium am 26. 10. 2005 im K&K-Zentrum St. Johann/Šentjanž, vgl. die
slowenische Fassung des Referats: Brigitte Entner, „Odvedeni“ maja 1945 – ali:
Kako se dela zgodovina, in: Koroški vestnik 40 (2006) 1, S. 35–44. Die
Publikation einer deutschen Fassung ist in Vorbereitung.
14/ Augustin Malle, Das Bild des „Partisanen“ in (Deutsch-) Kärntner Printmedien
der 1950er Jahre, in: Ingrid Bauer u.a. (Hg.), Kunst – Kommunikation – Macht.
Sechster Österreichischer Zeitgeschichtetag 2003, Innsbruck 2004, S. 249–253.
15/ Abgedruckt in den AKG-Mitteilungen Nr. 1/2006. Vgl. auch Lisa Rettl,
PartisanInnendenkmäler. Antifaschistische Erinnerungskultur in Kärnten.
Innsbruck–Wien–Bozen 2006; Karl Stuhlpfarrer, Gutachten zum Dokumentarfilm „Die
Kärntner Partisanen“, im Auftrag des ORF, Rechtsabteilung, Klagenfurt 16.8.2002
(www.uni-klu.ac.at/his/aktuelles/ORFGutachten.htm).
16/ Vgl. z. B. Viktor Miltschinsky, Kärnten. Ein Jahrhundert Grenzlandschicksal
(= Eckartschriften, Heft 2). Wien 1959, S. 32–33.
17/ Josef Feldner, Grenzland Kärnten (= Kärntner Weißbuch, 2. Teil). Klagenfurt
1982, S. 52.
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 2/2006
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