| |
Gertrude Springer: Was geschah vor mehr als 50 Jahren?
Heute bin ich eine Frau mit weißen Haaren, erinnere mich aber noch genau,
was sich vor mehr als fünf Jahrzehnten zugetragen hat. Ich kann darüber
berichten, während andere, mit denen ich damals im Widerstand gegen den
Hitlerfaschismus zusammengearbeitet habe, das nicht tun können, weil sie als
Jugendliche hingerichtet, das heisst geköpft wurden.
Wie kam ich zum Widerstand?
Mit noch drei Geschwistern bin ich in einer Ottakringer Arbeiterfamilie
aufgewachsen. Meine Eltern waren Sozialdemokraten und so war es nur
natürlich, daß ich die Kinderorganisationen dieser Partei besuchte, wie
Turnverein, Singschule und später die Roten Falken. Dann kam der 12. Februar
1934 und mit einem Schlag war alles vorbei. Die Sozialdemokratische Partei
wurde verboten und auch alle ihre Organisationen. Ich war traurig und zornig
zugleich. Vielleicht wurde schon damals das Samenkorn für die Bereitschaft zum
Widerstand gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit gelegt. Bald nach 1934
fanden wir uns wieder zusammen in der sogenannten „Wandergruppe des
Volksbildungsvereines”, bis auch diese verboten wurde. Aber unsere Gemeinschaft
blieb aufrecht. Wir machten Ausflüge und sangen unsere Kampflieder.
Aus uns Kindern wurden Jugendliche. Je mehr sich die politische Lage in unserem
Lande zuspitzte, um so politischer wurden unsere Zusammenkünfte. Die
Nationalsozialisten wurden immer frecher. Als dann Schuschnigg im Februar 1938
das Berchtesgadener Abkommen unterzeichnete, in dem Hitler die Bildung einer
neuen Regierung mit Seyß-Inquart als Innenminister forderte, war bereits das
Todesurteil für Österreich gesprochen. Vollstreckt wurde es dann am 11. März
1938, als Schuschnigg mit den Worten „Gott schütze Österreich” sich
verabschiedete und Österreich endgültig den Nazis auslieferte. Nun erst
erfuhren wir, was Faschismus wirkl ich bedeutete. Trotz Verhaftungen und
Deportationen wurde der Widerstand immer wieder organisiert. Ich selbst habe
1939 als 17-jähriges Mädchen begonnen, im illegalen Kommunistischen
Jugendverband zu arbeiten, obwohl wir wußten, daß es bei einer eventuellen
Verhaftung den Kopf kosten konnte. Wir haben Flugschriften, wie die „Rote
Jugend” und den „Soldatenrat” hergestellt und zur Verbreitung gebracht. In
Flugschriften wurden den Menschen die Ziele des Hitlerfaschismus und die
Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen geführt. Auch Sabotageaktionen in
Wehrbetrieben organisierten wir. In Briefen, die wir an Soldaten an die Front
schickten - ihre Feldpostanschriften hatten wir gesammelt - forderten wir saie
auf, nicht weiter ihr Leben für diesen verbrecherischen, ungerechten Krieg aufs
Spiel zu setzen. Zahlreiche Mitkämpferinnen und Mitkämpfer wurden nach
Prozessen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Diese Gruppe Soldatenrat war
eine der vielen kommunistischen Gruppen, die Widerstand gegen den
Nazifaschismus leisteten und dabei ihr Leben genauso verloren, wie 2.700
weitere österreichische Frauen und Männer, die hingerichtet wurden, wie mehr als
9.600 in Gestapogefängnissen ermordet und zirka 16.500 politische Gefangene in
Konzentrationslagern, die man dort umgebracht hat. Dazu kommen noch mehr als
65.000 österreichische Juden, die in Konzentrationslagern vergast, erschlagen
oder einfach verhungert sind. Das ist eine erschreckende Bilanz des Todes, die
man sich kaum vorstellen kann.
Vom 22. - 27. September 1943 hatte die blutige Nazijustiz (5. Senat, Berlin,
unter dem Vorsitzenden Albrecht) diesmal im Kreisgericht Krems zugeschlagen.
Gegen 14 Jugendliche wurde verhandelt. 12 von ihnen wurden zum Tode verurteilt,
zwei erhielten eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren. Eine davon war ich. Wir
wußten, daß Jahre keine Rolle spielten und waren überzeugt, daß der
Hitlerfaschismus in nicht allzulanger Zeit besiegt sein würde. Die Wende bei
Stalingrad hat uns diese Zuversicht gegeben, aber auch die Solidarität der
Häftlinge im Zuchthaus spielte eine ganz große Rolle. Eine Zeichnung, ein
kleines Gedicht, aufmunternde Worte, geschrieben mit einem selbstgebastelten
Bleistift aus einer winzigen Mine und einem gekneteten Brot gab uns Mut und
Kraft. Aber auch ein zerlesener, zu einem Fetzen Papier gewordener
Wehrmachtsbericht, nicht mehr ganz aktuell, der aber indirekt unsere Zuversicht
stärkte. Das alles wanderte beim „Kübeln” und Mistausleeren geschickt von Zelle
zu Zelle (im Zuchthaus Aichach gab es keine Klos). Und wenn wir nur „Guten
Morgen” und „Gute Nacht” beim Fenster hinausgeschrieen haben, gab uns das ein
Gefühl der Zusammengehörigkeit. Auch den 1. Mai ließen wir Kommunistinnen und
revolutionären Sozialistinnen nicht wie jeden anderen Tag vorübergehen. Wir
organisierten rote Fäden und flochten sie ins Haar. Sie waren kaum zu sehen,
aber wir waren stolz darauf, den 1. Mai auf diese Art und Weise feiern zu können.
Es gäbe noch viel mehr zu schreiben, aber was ich damit sagen will ist, daß man
einfach diese Dinge machen mußte, um das Leben im Zuchthaus, in der Zelle
ertragen zu können. Man war im Zuchthaus nicht so dem willkürlich Tod
ausgeliefert wie im Konzentrationslager, aber es waren die täglichen Schikanen
und Demütigungen, die nicht leicht zu verkraften waren.
Doch wir haben sie verkraftet. Am 29. April 1945 war es endlich so weit. Ohne
vorhergegangener Schießerei, aber fürchterlichem Lärm innerhalb des Zuchthauses,
so daß wir glaubten, die SS sei gekommen, kam plötzlich eine Genossin zu
unserer Zellentür gelaufen und rief durch das Guckloch: „Grete, Trude, die
Amerikaner sind da, wir sind frei! Ich hol gleich die Schlüsseln!”. Sie kam und
sperrte die Zellentür auf. Ich mußte weinen und ich schäme mich nicht, das zu
schreiben, denn ich dachte an alle jene, die hingerichtet wurden und diesen Tag
nicht erleben konnten.
Mit vielen Illusionen und Erwartungen kamen wir nach Hause. Viele Jahre sind
seither vergangen. Wir können feststellen, daß sich das Bekenntnis zu
Österreich gefestigt hat. Aber daß wir uns nach 50 Jahren noch mit Faschisten
und Neofaschisten auseinandersetzen müssen, hätte ich mir damals nicht gedacht.
Unser Kampf gegen Faschismus, für ein besseres, schöneres Leben in einer
friedlichen Welt geht weiter.
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 4/1995
|