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Anton Staudinger
Ich sehe mich gehalten, einer sehr alten Weisheit zu entsprechen, nämlich
daß über alles gesprochen werden kann, nur nicht über 120 Minuten hinaus.
Deswegen werde ich auch versuchen, Ihnen nicht ein Referat im Zusammenhang mit
dem Thema der Veranstaltung zu halten, was Freund Hans Hautmann vorgeschlagen
hat, also eine Kurzgeschichte der Entstehung des österreichischen nationalen
Bewußtseins in diesem Zusammenhang, sondern nur einige Bemerkungen machen, über
die wir uns dann unterhalten können.
Alfred Klahr hätte vermutlich 1937 sehr gestaunt, hätte er von der ständig
wachsenden Zahl von Bejahern der österreichischen Nation seit den 60er Jahren
gewußt. Seine Analysen zur nationalen österreichischen Frage waren ganz
wesentlich bestimmt vom Wissen um den Mangel österreichischer nationaler
Identität. Wir könnten sozusagen zufrieden sein, daß die österreichische Nation
kein Streitfall mehr ist, auch wenn der - wie sagt man da, der Führer, nein der
Vorsitzende der Freiheitlichen - behauptet, die österreichische Nation wäre
eine ideologische Mißgeburt, gleichzeitig aber genau diesen Konsens
anzusprechen versucht, indem er behauptet, für Österreich würde er alles tun.
Auf die kürzeste Formel und auf den Punkt gebracht heißt das: Alles, was als
„Österreich“ und „österreichisch“ benannt wird, muß kritisch untersucht werden.
Denn wir müssen bedenken, daß der Begriff „Österreich“, das Adjektiv
„österreichisch“, der Appell, „österreichisch“ zu handeln, nie vorher so häufig
an die Einwohner und Einwohnerinnen unseres Landes gerichtet wurde als zwischen
1933 und 1938. Es gilt heutzutage noch immer als Handbuchwissen, wenngleich es
falsch ist, daß dieses Österreichbewußtsein, das sich als Produkt der
gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945 entwickelt hat, hier seinen Ausgang
genommen habe. Zwischen 1933 und 1938 gibt es unendlich viele Beschwörungen von
„Österreich“, allerdings damals noch ganz offen mit der Betonung auf
„Deutsch“-Österreich. Und „deutsch-österreichisch“ war ein Konkurrieren mit den
deutschen Deutschen um das bessere Deutschtum: Die kulturell angeblich so viel
höher stehenden österreichischen Deutschen, die so viel Erfahrungen im milden
Umgang mit zu Beherrschenden in der Monarchie gemacht hätten, usw., und mit dem
ganz wichtigen Element des Katholischen. So ist es auch überhaupt nicht
erstaunlich, daß diese Österreichbeschwörung bis 1938 in den Organisationen der
Arbeiterbewegung auch keine vernünftige, echte Resonanz fand.
Das bringt mich genau zu dem Punkt, der auch für den neuen österreichischen
Nationalismus festzustellen ist. Es geht eben darum, was für ein Österreich man
jeweils meint. Und die Hinweise gerade von denen, die hier als Zeitzeugen
gesprochen haben, zeigen genau das: Daß es wichtig ist, um welches Österreich
es geht und daß nationales Bewußtsein weniger eine Frage der objektiven
Merkmale ist als die Möglichkeit, an einer akzeptierten Gesellschaft so weit
als möglich zu partizipieren, teilzunehmen, mitzugestalten, mitzubestimmen. So
gesehen ist es nicht wichtig, welche Sprache in Österreich gesprochen wird. Ich
finde auch die Frage nicht so wichtig, ob das österreichische Deutsch so
furchtbar grundverschieden ist zum deutschen Deutsch. Es ist ganz klar, daß
gesellschaftliche Traditionen, die gelebt werden, unterschiedliche Identitäten
erzeugen, unterschiedliches Bewußtsein erzeugen. Davon blieben vor wie nach
1938 sogar Sympathisanten der Nationalsozialisten und manche
Nationalsozialisten selber nicht verschont. Eine praktizierte österreichische
Gesellschaft, die bis in die Küche geht, bis auf den Fußballplatz, erzeugt
anderes Bewußtsein. Im Aufeinanderprallen mit anderen Produkten
gesellschaftlicher Entwicklung, bis in den Alltag hinein, werden die
Differenzen deutlich. Das heißt: Österreichische Identität hat Differenzen dann
zu entwickeln, wenn es um undemokratische gesellschaftliche Vorstellungen geht.
Ich glaube, Alfred Klahr und alle jene, die eine andere Gesellschaft in
Österreich zu erreichen versuchten, denen sind wir verpflichtet, die
österreichische nationale Frage immer und ausschließlich als eine
gesellschaftliche Frage der Weiterentwicklung demokratischer Möglichkeiten zu
sehen, der Partizipation an einem Österreich, das diese Demokratie
verwirklicht. Wir sollten das, was Alfred Klahr 1937 geschrieben hat, nicht wie
einen Bibeltext behandeln und der ständigen Verehrung anheimstellen, sondern
davon ausgehend eine Gesellschaft in Österreich anstreben, die alle Menschen
demokratisch partizipieren läßt.
Sorgen wir also dafür, daß das, was in Alfred Klahrs Orientierung auf die
Wiedererrichtung einer demokratischen, österreichischen Gesellschaft lag, nicht
verloren geht.
Statement auf dem Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft „50 Jahre Zweite
Republik“, 8. Mai 1995
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