Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung Drechslergasse 42, A–1140 Wien Tel.: (+43–1) 982 10 86, E-Mail: klahr.gesellschaft@aon.at
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Heidemarie Uhl: Die Moskauer Deklaration und der Umgang Österreichs mit der „Opfer-These“Die Moskauer Deklaration bezeichnet Österreich als das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fiel und das deswegen von der deutschen Herrschaft befreit werden soll. Gleichzeitig kündigte sie die Wiederherstellung eines freien, unabhängigen Österreichs als Kriegsziel der Alliierten an. Thema meines Referats ist, wie sich der Text und das Narrativ, die Erzählung der Moskauer Deklaration in der Zweiten Republik ausgewirkt hat. Man könnte sagen, dass die Moskauer Deklaration ein Ort des Gedächtnisses, und so heißt ja auch unser Forschungsprogramm, ein Gedächtnisort par excellence für die Zweite Republik geworden ist. Und zwar gerade deswegen, weil dieser Text ganz buchstäblich oder zumindest indirekt eingeschrieben ist in die zwei zentralen Gründungsdokumente der Zweiten Republik, in die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 und in den österreichischen Staatsvertrag vom Mai 1955. Was wirr allerdings auch in den letzten Jahren gewissermaßen als Zeitzeuge, nicht allein als Zeitzeuge von Geschehnissen, sondern als Zeitzeuge von Veränderungen der Gedächtniskultur erlebt haben, ist dass die Moskauer Deklaration und die genannten Gründungsurkunden, also diese drei Gründungsdokumente der Zweiten Republik so etwas wie eine neue Rahmung erfahren haben, eine neue Kontextualisierung. Ab 1945 waren Moskauer Deklaration, Unabhängigkeitserklärung und Staatsvertrag so etwas wie die zentralen historischen Bezugspunkte der österreichischen Erfolgsstory. Also des Wiederaufstiegs der Zweiten Republik. Nach 1986-1988, also nach der Waldheimdebatte, nach dem Gedenkjahr 1988 sind sie, so könnte man überspitzt formulieren, auch zu Gründungstexten der österreichischen Lebenslüge geworden, also zu einem negativ besetzten Begriff, den man seit dieser Zeit mit dem Terminus des Opfermythos überschreibt. Diese neue Perspektive auf die Erzählung von Österreich als erstes Opfer, unter dem nun negativen Minusvorzeichen der Geschichtslüge, bezieht sich ganz explizit auf jene Passagen, die seit 1945 einmal als der positive historische Bezugspunkt der Zweiten Republik gegolten haben: Dass Österreich - wie es in der Moskauer Deklaration steht - das erste freie Land sei, das der typischen Abgriffspolitik Hitlers zum Opfer fiel, oder wie es in der Unabhängigkeitserklärung formuliert wird, etwas variiert, das erste freie Land, das der Hitler’schen Aggression zum Opfer gefallen ist. Dieser Begriff des ersten Opfers ist gewissermaßen der Nuklues, der Kern einer Geschichtserzählung, die sich erst in den folgenden Jahren, erst in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit zu dem entwickelt hat, was wir heute als den Opfermythos bezeichnen. Wenn sie sich die Quellen der ersten Jahre nach 1945 anschauen, dann ist das noch eine ganz andere Erzählung über das Opfer Österreich. Was sich in den Nachkriegsjahrzehnten unter diesem Nukleusbegriff vom ersten Opfer heraus entwickelt hat, diese Erzählung, diese Sichtweise der Jahr 1938 bis 1945, kann man in drei wesentlichen Teilsträngen dieser Erzählung fassen: Der erste Teilstrang ist die Vorstellung, dass Österreich 1938 bis 1945 von Terror und Unterdrückung des Nationalsozialismus geprägt war. Um auch die Wortwahl, die Semantik dieses Opfernarrativs in der ersten Nachkriegszeit zu illustrieren, möchte ich ihnen Leopold Figl zitieren. Figl erklärt in seiner Rede anlässlich der Enthüllung des Denkmals am Schwarzenbergplatz, des Befreiungsdenkmals für die Rote Armee, im August 1945: „Sieben Jahre schmachtete das österreichische Volk unter dem Hitlerfaschismus, sieben Jahre wurde das österreichische Volk unterjocht und unterdrückt, keine freies Wort der Meinung, kein Bekenntnis zu einer Idee war möglich, brutaler Terror und Gewalt zwangen die Menschen zu blinden Untertanentum.“ Also hier haben wir ein Bild wie wir es auch in der Unabhängigkeitserklärung finden, ein Gesellschaftsmodell, wo es eine ganz kleine Schicht von hochverräterischen Nazifaschisten gibt und ein unterdrücktes Volk, in dem die Unterdrückung, der Terror so gewaltsam war, dass sich nur eine ganz kleine Gruppen von besonders mutigen Männern und Frauen aus den Lagern, die gewissermaßen die Gründungsparteien der Zweiten Republik repräsentiert haben, aus der KPÖ, aus der SPÖ, aus der ÖVP, wenn man das mit Lager umschreiben will, zur Wehr gesetzt haben. Das wäre sozusagen das Narrativ von Terror und Unterdrückung. Das zweite Narrativ das sich um dieses erste Opferbild entwickelt hat, war jenes von Widerstand und Freiheitskampf. Und hier wird es schon problematischer. Im wesentlichen haben sich zwei Varianten dieser Erzählung über den Widerstand herauskristallisiert, also zwei ist vielleicht sogar zu wenig, man müsste noch eine dritte hinzufügen. Es gab so etwas wie die staatsoffizielle Variante, die darauf Wert gelegt hat, so etwas wie eine politisch austarierte Widerstandserzählung zu repräsentieren. Und sie finden gerade auch zehn Jahre Moskauer Deklaration die Reden der Politiker, Politikerinnen kamen ja nicht vor, wo immer wieder betont wird, Männer, Frauen aus allen österreichischen Lagern haben diesen Widerstand getragen. Also so etwas wie ein austariertes politisches Widerstandsmodell. Das hat vor allem der Selbstdarstellung nach außen gedient, gerade im Hinblick auf die Staatsvertragsverhandlungen. Und wir können insgesamt feststellen, dass dieses Narrativ oder diese Erzählung der Opfertheorie sich am Ende der 1940-er Jahre parallel zur Intensivierung des Kalten Krieges, parallel zum Buhlen um die Stimmen der ehemaligen NationalsozialistInnen, an denen ja praktisch alle Parteien der Zweiten Republik beteiligt waren, dass parallel dazu sich die Opfertheorie in ihrer Formulierung von 1945, wie sie etwa die Worte von Leopold Figl zeigen, in Österreich selber immer weniger relevant, immer marginaler geworden ist. In Wien konnte man noch ein anderes Bild gewinnen. Aber wenn sie etwa die Bundesländer sehen, dort war der Widerstand komplett an den Rand gedrängt, auch in der Erinnerung, auch in der Denkmalkultur wird das sehr deutlich. Also wir haben einerseits die Selbstdarstellung nach außen, und hier hat diese Erzählung der Opfertheorie praktisch bis zur Waldheimdebatte relativ ungebrochen das Bild bestimmt. Wir haben im Inneren zwei Varianten dieser Erzählung, die sich zum Teil überschneiden, aber ich denke, es gibt doch ganz einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden: Die eine Variante ist der antifaschistische Widerstand. Also hier ist es ganz primär zu sagen, dieser Widerstand war der Widerstand gegen den Hitlerfaschismus. Die Variante, welcher Staat dann nach 1945 entstehen sollte, ist die untergeordnete Frage. Das zweite Narrativ wäre das österreichpatriotische, das sich für eine, wenn gleich marginale Identitätsstiftung doch viel besser als das antifaschistische eignete. Und wenn sie das einzige Denkmal der österreichischen Bundesregierung für die Opfer des Widerstands am Heldenplatz ansehen, dann haben sie hier ganz dezidiert „den Opfern des österreichischen Freiheitskampfes“. Wenn sie sich andere Denkmäler anschauen würden, dann würde schon in den Inschriften zu sehen sein, hier steht der antifaschistische, der Kampf gegen den Faschismus im Vordergrund. Also wir haben gewissermaßen drei Erzählweisen des österreichischen Widerstandes, eine staatsoffizielle, eine antifaschistische, eine österreich-patriotische. Was hier natürlich nicht als Erzählweise genannt werden kann ist die, die eigentlich vorgeherrscht hat, nämlich die des Schweigens, der Verdrängung des Widerstandes und des ans Randdrücken ganz buchstäblich in der Erinnerung. Am Projekt, das Claudia Kuretsidis-Haider gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom Dokumentationsarchiv des Widerstandes durchführt, ein Projekt, das sich mit diesen regionalen Denkmalkulturen in der Steiermark und Niederösterreich beschäftigt, sieht man sehr deutlich, dass es eine ganz kurze Phase gegeben hat, nach 1945, wo diese Denkmäler für den Widerstand errichtet wurden und dass diese Phase spätestens Ende der Vierzigerjahre außerhalb Wiens praktisch abbricht, dass Widerstandsdenkmäler zu den höchstumstrittenen Zeichensetzungen gehören und eigentlich die Leerstelle das markanteste ist. Also das Verschweigen, das Hinausdrängen des Widerstandes aus der identitätsstiftenden Erinnerung ist eigentlich die wichtigste „Erzählung“. Wir haben neben Terror und Unterdrückung, Widerstand und Freiheitskampf ein drittes, eine dritte Erzählweise, die auch, und das klingt heute fast paradox, eine Art indirekt positive Bezugnahme auf die NS-Zeit, was das österreichische Selbstverständnis, die österreichische Identifikation nach 1945 betrifft. Sie haben das Motiv vom Geist der Lagerstraße, also in den KZs haben die österreichischen Politiker gewissermaßen die Feindschaft, die traditionelle Feindschaft zwischen den politischen Lagern überwunden, hier ist praktisch der Geburtsort könnte man sagen einer Konsensdemokratie in der Zweiten Republik, hier ist praktisch, hier beginnt das, was eigentlich in der Zweiten Republik bis zur Waldheim-Debatte alle Konzepte vom Lernen aus der Vergangenheit, Lehren ziehen aus der Vergangenheit und das finden sie aber auf jeden der Gedenktage an den „Anschluss“, Gedenktage an die Moskauer Deklaration gab es ja nach dem Staatsvertrag nicht mehr, dieser Bezug hatte seine Funktion erfüllt mit dem Abschluss des Staatsvertrages, aber Lehren aus der Geschichte zu ziehen, wie gesagt, das gibt es nicht erst seit Waldheim und Vranitzky, das hat für 1986 eben geheißen, Lehren aus der Geschichte der Ersten Republik zu ziehen und das Österreich der Zweiten Republik hat sich nicht, wie wir es jetzt zumindest zum Teil sagen würden, als Antithese zum Nationalsozialismus verstanden, Bundeskanzler Vranitzky hat es einmal so genannt, sondern hat sich als Antithese zur Ersten Republik verstanden, nämlich zum Scheitern der Ersten Republik an der Feindschaft der politischen Lager. Und der Weg in den Abgrund begann zum Beispiel im Februar 1934. Also indirekt eine positive Bezugnahme auf die NS-Zeit, als im Geist der Lagerstraße die verfeindeten Lager nun zueinander gefunden haben, zu Kooperation gefunden haben, das war das ein Angebot eines positiven identitätsstiftenden Motivs. Für diejenigen, die gewissermaßen nicht auf den Lagerstraßen zu finden gewesen waren, gibt es ein zweites Angebot, die NS-Zeit zu interpretieren. Nämlich dass die Mehrzahl der ÖsterreichInnen, auch wenn sie sozusagen nicht im Widerstand waren, was ja umschreibt, dass sie zumindest Sympathien für die Nationalsozialisten gehegt haben, oder dass sie auch vielleicht Nationalsozialisten waren, oder wenn sie sich die Terminologien der Nachkriegszeit anschauen, Verführte und Betrogene usw. waren, dass diese Österreicherinnen und Österreicher in der NS-Zeit zumindest ihr Österreichbewusstsein wieder entdeckt hätten. Der Nationalsozialismus wurde immer als unösterreichisch dargestellt und in der Konfrontation mit dem preußischen Nationalsozialismus hätten die Österreicherinnen und Österreicher, auch wenn sie zuerst Sympathien dafür gehegt hätten oder deutschnational eingestellt gewesen wären, nun ihre österreichische Identität entdeckt. Also das ist sozusagen die Variante, die NS-Zeit zu deuten, die so etws wie ein identitätsstiftendes Narrrativ bringt. Noch ein Nachtrag zu Widerstand und Freiheitskampf. Hier hat man nach 1945 die kurzfristig eigentlich einzige Sichtweise auf die NS-Zeit: Österreich als erstes Opfer, Widerstand, Freiheitskampf, und sie finden ja Bemühungen der österreichischen Bundesregierung dieses Narrativ auch den Österreicherinnen und Österreichern buchstäblich vor Augen zu führen, z.B. die antifaschistische Ausstellung im Wiener Künstlerhaus „Niemals vergessen“. Interessant ist, dass man 1946 vom „Niemals vergessen“ spricht, ein Jahr später könnte man es vergessen: Man sollte also niemals den Widerstand vergessen, das ist der Punkt, es ging nicht ums Vergessen, sondern um die richtige Erinnerung. Und eben das Motiv der Zerschlagung des Nationalsozialismus, auch eine sehr starke visuelle Darstellung eines negativen Faschismusbildes und immer wieder die Betonung auch in den Texten, das war eine unösterreichische Ideologie. Und dieses Österreichbewusstsein oder diese Österreichideologie nach 1945, 1948 erschien beispielsweise das Österreichbuch, das an allen Schulen verteilt und sehr stark verbreitet wurde, wo es gerade auch darum ging zu zeigen, Österreich ist vor allem nicht Nationalsozialismus, das war eine preußische Ideologie, preußischer Militarismus. Und sofort nach 1945 wurde auch versucht, ganz im Sinne der Moskauer Deklaration den Widerstand als sozusagen unglaublich starke Bewegung in Österreich darzustellen. Im Rot-Weiß-Rot-Buch, nach amtlichen Quellen herausgegeben von der österreichischen Bundesregierung, haben wir ganz programmatisch das neue Staatswappen, das ja 1945 die zerrissenen, die gesprengten Ketten als Zusatz erhielt, gerade um zu beweisen, der österreichische Widerstand hat zur Befreiung Beitrage geleistet. Es handelt sich hier um den ersten Band, jedoch gab es keinen zweiten Teil, weil der schlichtweg nicht mehr notwendig war. Das Buch hatte gewissermaßen seine Funktion erfüllt, und die Autoren haben sich auch gar nicht die Mühe gemacht, da irgend etwas zu verschweigen, sondern es steht im Vorwort dieses Rot-Weiß-Rot-Buches aus dem Jahr 1946, die vorliegende Schrift bildet den ersten Teil einer Publikation, die dazu bestimmt ist, Schicksal und Haltung Österreichs während der zwölfjährigen Dauer es Dritten Reiches darzustellen und seinen Anspruch, Österreichs Anspruch, auf den Status und die Behandlung als befreiter Staat im Sinne der Moskauer Deklaration zu begründen. Also das war ganz klar, Widerstand hatte die Funktion zu zeigen, dass Österreich im Sinne der Moskauer Deklaration seinen Beitrag zur Befreiung geleistet hat und genau dies in den Staatsvertragsverhandlungen argumentativ zu untermauern. Es gibt ein Narrativ in der Unabhängigkeitserklärung, das indirekt auf die Moskauer Deklaration Bezug nimmt, nämlich die Frage, wie soll der österreichische Staat mit dieser Mitverantwortungsklausel umgehen, wo ja ganz dezidiert drinnen steht, dass nach der endgültigen Befreiung Österreichs Anteil an seiner eigenen Befreiung in Rechnung gestellt werden wird. Und sie finden in der Unabhängigkeitserklärung auch einen ganz zentralen Passus, der darauf Bezug nimmt, nämlich die Frage des Einsatzes von ÖsterreicherInnen auf Seiten Hitlerdeutschlands in der deutschen Wehrmacht. Hier wird dezitiert von der Provisorischen Regierung Renner darauf hingewiesen, „dass die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat“. Hier finden wir eine Erklärungsweise zum Kriegsdienst von Österreichern in der Wehrmacht, die sozusagen kompatibel zur Moskauer Deklaration war und von der sicherlich auch die Politiker in der Gründungsphase der Zweiten Republik gewusst haben, dass sie so kaum der Wahrheit entspricht, aber es war ihnen natürlich wichtig, auch so etwas wie ein Deutungsangebot zu eröffnen, also auch als ein Angebot an die Österreicher, die nun entweder in Kriegsgefangenschaft waren oder zurückgekehrt sind als Soldaten oder auch an die männliche Bevölkerung und an ihre Angehörigen, diese Zeit so zu sehen. Sich als Opfer Hitlers zu sehen war im Grunde genommen das Deutungsangebot. Dieses Deutungsangebot wurde in dem erwähnten Rot-Weiß-Rot-Buch auch noch einmal ganz explizit ausgeführt. Es war einfach eine wesentliche Frage im Hinblick auf die Behandlung Österreichs nach Kriegsende, wie mit diesem Passus des Beitrages zur eigenen Befreiung und vor allem der Verantwortung für die Kriegsteilnahme umgegangen werden sollte. Und hier gibt es im Rot-Weiß-Rot-Buch ein eigenes Kapitel, das sich der Frage widmet, „Die Österreicher und der Krieg“. Auch hier finden wir eine ähnliche Haltung: „Die Einstellung der österreichischen Bevölkerung zum Hitlerkrieg war von allem Anfang an ablehnend, sofern sie nicht von seinem Ausgang die einzige Möglichkeit einer Befreiung vom Nazijoch erhoffte.“ Hier finden wir noch einmal verstärkt und wiederholt diese Vorstellung, die Österreicher seien gezwungenermaßen in die Wehrmacht gedrängt worden. Diese Argumentation hat spätestens 1948/49 mit den Minderbelastetenamnestien und mit der Integrationspolitik gegenüber den ehemaligen Nationalsozialisten in Österreich praktisch ihre Bedeutung verloren. Sie finden österreichische Politiker, die nach außen hin Österreich als erstes Opfer darstellen, in Österreich selbst jedoch bei Kriegerdenkmalweihen den Soldaten ihren Dank und ihre Anerkennung für die Verteidigung der Heimat aussprechen. Nicht selten sind es dieselben Politiker. Aber nach außen hat man natürlich weiterhin an dieser Selbstdarstellung festgehalten und so heißt es etwa vor allen im Hinblick auf den Staatsvertrag, konkret in einem dieser Memoranden zur Stellungnahme in den Staatsvertragsverhandlungen, dass die Österreicher ebenso wie die Bewohner anderer besetzter Gebiete gezwungen worden seien, in der „verhassten Kriegsmaschine zu dienen“. Also dieses Narrativ hat praktisch nur noch eine außenpolitische Funktion gehabt. Dieses Narrativ hat vor allem eines eröffnet, was der deutsche Soziologe Rainer Lepsius als Externalisierung bezeichnet hat. Es hat schlichtweg ermöglicht, dass der Zeitraum 1938 bis 1945 aus der Verständnis der österreichischen Geschichte externalisiert werden konnte, auf der Ebene des Regionalen, der persönlichen Erfahrung natürlich nicht. Aber wenn sie sich die Schulbücher anschauen, dann finden sie allein in den Kapitelüberschriften, dass die österreichische Geschichte im März 1938 praktisch aufhört und sie finden hier den letzten Satz der auf Österreich bezug nimmt, der Einmarsch deutscher Truppen in der Nacht zum 12. März in Österreich: „Österreich hatte als souveräner Staat zu Bestehen aufgehört“, und damit war sozusagen die österreichische Geschichte praktisch zu Ende. Sie finden in den 1970-er Jahren allerdings einen Bezugspunkt, wo das durchbrochen wird, ein eigenes Kapitel über den österreichischen Widerstand. Dieses Kapitel finden sie in den Lehrbüchern der Sechzigerjahre noch nicht, denn da war Widerstand eben ein komplett umstrittenes, öffentlich als kommunistisch punziertes Thema, als Synonym für Kommunismus und für kommunistischen Widerstand höchst desavouiert. Erst die Gründung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes hat es mit seinen Arbeiten ermöglicht, durch eine Zusammenarbeit aller Parteien und durch seine Forschungsprojekte wie „Widerstand und Verfolgung in Österreich“ dieses Narrativ sozusagen wieder hinein zu bringen. Die Voraussetzung dafür war eine politische Austarierung des österreichischen Widerstandes aus allen Lagern, aus allen Bevölkerungsschichten, aus der Kirche usw. usf. Das war sozusagen der Preis der Darstellung, dass diese politische Austarierung vorgenommen werden musste. Eine Bruchlinie finden wir dann im Jahr 1986 mit der Waldheim-Debatte. Hier wurde nicht nur sichtbar, was Anton Pelinka als die zwei Wahrheiten der österreichischen Zeitgeschichte bezeichnet hat: Die eine Wahrheit ist jene der Opfer des Widerstandes, der Verfolgten und die zweite Wahrheit ist jene derjenigen, die den Nationalsozialismus nicht mit Ablehnung gegenübergestanden sind, um das so zu umschreiben. Ein wesentlicher Punkt, warum es und wie es eben zu dieser Bruchlinie gekommen ist, ist die Erkenntnis in der Waldheim-Debatte, dass die Opferthese zwar zentral in der Selbstdarstellung nach außen war, in Österreich selber aber relativ wenig Tiefenwirkung hatte und nur auf einer gewissen Ebene. Die Kinder, die in die Schule gegangen sind, haben sie z.B. gelernt. Zuhause haben sie oft etwas ganz anderes gehört, und eines dieser Beispiele für diese Ambivalenz oder diese Vielschichtigkeit des Gedächtnisses in Österreich ist eine Sendereihe aus dem Jahre 1978 von Peter Dusek. Dusek beginnt im Jahr 1978 eines der innovativsten Projekte politisch-historischer Aufklärung und gestaltet eine 18-teilige Sendereihe im Schulfunk mit dem Titel „Alltagfaschismus“. Als Motivation für diese Sendereihe nennt er den krassen Gegensatz zwischen der Darstellung des NS-Regimes in Büchern und Filmen - und wir könnten dazusagen in Schulbüchern - und im österreichischen Fernsehen einerseits und der mündlichen Überlieferung, in der vierzig Jahre nach 1938 von den positiven Auswirkungen der NS-Zeit gesprochen wurde. Diese Gedenkjahrkonstellation im Jahr 1978 hat so etwas wie ein Zeitfenster eröffnet, um sich mit der Vergangenheit neu zu beschäftigen. Dusek zitiert auch eine Straßenbefragung über diese positiven Auswirkungen, eine Befragung, die bezeichnenderweise nicht der österreichische, sondern der Schweizer Rundfunk im März 1978 gemacht hat und bei der sich, „weder Alte noch Junge gescheut (haben), die Jahre des nationalsozialistischen Regime als eine durchaus positive Zeit zu bezeichnen, die viele Errungenschaften gebracht hat“. Im Nachwort äußert sich Dusek dahingehend, dass auch er selbst diese persönlichen Erfahrungen gemacht habe: Das, was ihm erzählt wurde, die Narrative über die NS-Zeit, die er in seinem ländlichen Umfeld gehört hat, waren genau von jener mündlichen Tradition bestimmt, in dem eben die positiven Erfahrungen im Nationalsozialismus im Vordergrund standen. Und er sagt dann weiter, er ist 1945 in Oberösterreich geboren, erst während des Studiums an der Universität Wien hat er eigentlich sozusagen gesehen, dass es eine komplett andere Sichtweise gibt, in der eben die Grauen des NS-Regimes im Vordergrund gestanden sind. In seinen mündlichen Erlebnissen, Erfahrungen, in seinem persönlichem Umfeld am Land hat er das nie gehört. Das ist, so glaube ich, kein Einzelfall. Warum kann das so sein, trotz Opfertheorie? Die Opfertheorie war eine sehr dünne Tünche, die eine bestimmte Funktion erfüllt hat und eine bestimmte Textsorte gewissermaßen betroffen hat, und das waren die offiziellen Erklärungen, das waren vor allem auch die Schulbücher. Ein Punkt war es sicher auch, dass sich der Opferbegriff auch umdeuten ließ, das heißt die Österreichinnen und Österreicher fühlten sich schon als Opfer, aber nicht primär, oder viele, es wäre einseitig, jetzt wieder das andere zu betonen, aber viele Österreicherinnen und Österreicher fühlten sich nicht als Opfer des NS-Regimes, sondern als Opfer der Alliierten Armeen, der ehemaligen „Feindmächte“, wenn man sie aus nationalsozialistischer Perspektive betrachten würde. Also als Opfer der Bombenangriffe, als Opfer der Roten Armee, die eben im Kriegsgebiet im Osten mit Gewalttaten verbunden wurde, und diese Sichtweise wurde gerade in den regionalen Erzählungen weitergegeben. Sie finden in den 1980-er Jahren ähnliche Debatten in Frankreich, in Deutschland, in den Niederlanden, nach 1989 auch in den Staaten des ehemaligen sowjetischen Einflussbereiches. Diese verlaufen zwar alle unterschiedlich, aber sie haben alle dieselbe Signatur, das Zerbrechen der Nachkriegsmythen und eine neue Perspektive auf die Vergangenheit, die gerade die Frage nach der Mitverantwortung stellt, nach der Mitverantwortung vor allem am Holocaust und an den Verbrechen des NS-Regimes. Um ihnen diesen Paradigmenwechsel zu skizzieren nur einige Schlaglichter: Jüngst ist ein Buch erschienen mit dem Titel „Naziland Österreich?“ von einem Kollegen von mir. Naziland ist schon ein starkes Bild, das durchaus auch seine Berechtigung hat. 1988 erschien etwa zum Fall Waldheim eine „Spiegel“-Titelgeschichte, wo sie den Schatten des Faschismus über Österreich ganz eindrücklich sehen. Österreichs stiller Faschismus, um ihnen das Umkehren der Bilder sozusagen vom Opfer- zum Täterland auch zu zeigen, das Titelbild zum März 1988 im „Profil“ in Bezugnahme auf das Anschlussgedenken. Diese Bildserien sind nicht umsonst ganz prominent platziert worden, sie finden sie in einer Vielzahl von Broschüren und Büchern, die in den letzten Jahren erschienen sind, denn gerade diese Bilder des Anschlusspogroms sind so etwas wie neue historische Bezugspunkte, die genau die Frage nach der Mitverantwortung thematisieren. Das Anschlusspogrom ist, könnte man sagen, zu jenem Fanal geworden, in dem die Mitverantwortung nicht nur der Nationalsozialisten, etwa in der Verfolgung der österreichischen Juden, in den Transporten in die Vernichtungslager festgemacht werden kann, sondern dieses Anschlusspogrom, das war gerade nicht von oben organisiert, das war ein spontanes Pogrom von unten und hier macht sich gewissermaßen die Mitverantwortung einer politischen Kultur, die dies möglich gemacht hat deutlich. Nach den Wahlen des Jahres 1999 mit ihren Erfolgen für die FPÖ, nach der Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahr 2000 ist diese Debatte gewissermaßen europäisiert oder vielleicht sogar globalisiert worden: Sie finden eine Vielzahl von Meldungen, die implizit oder auch ganz direkt Österreich jetzt als den braunen Flecken auf der europäischen Landkarte zeigen. etwa die französische Le Monde, die auch in der EU-Fahne einen Stern durch ein Hakenkreuz ersetzt hat, das jetzt für Österreich steht. Oder eine zweite Karikatur dieses Zeichners, die das idyllische Österreichbild mit dem Nationalsozialismus verbindet: Hier finden wir ein Trachtenpärchen, die schöne österreichische Landschaft, Kirchen usw., und einen Zug, der durch diese schöne österreichische Landschaft direkt nach Auschwitz fährt. Titel: „Fährt in ein KZ“, „Arbeit macht frei“, steht über dem Eingangstor. Auch Begriffe wie Tätergesellschaft, Naziland, brauner Fleck auf der europäischen Landkarte, geben natürlich ein sehr einseitiges Bild, das auch nur eine der vielen Wahrheiten der österreichischen Zeitgeschichte repräsentiert. Was diese Bilder symbolisieren ist, dass eine neue Erzählung über Österreich und die NS-Vergangenheit, in vielem Bereichen könnte man sagen vorherrschend geworden ist, nämlich im wesentlichen eine Gegenerzählung zum Opfermythos. Diese Erzählung definiert sich gewissermaßen als Antithese zum Opfermythos. Josef Haslinger hat etwa 1987, also unmittelbar nach den Waldheim-Wahlen in seinem Essay-Band „Politik der Gefühle“ von einem brauen unterirdischen Fluss gesprochen, der nun zum Vorschein käme. Robert Menasse hat 1993 in einem seiner Bücher ein neues Nationalsymbol vorgeschlagen, und das passt auch ganz gut zum Nationalfeiertag, nämlich den Punschkrapfen, außen rosa, damals noch sozialistische Regierung, innen braun. Die letzte Überlegung die ich noch anstellen möchte, ist, dass sich mit dem Begriff der Tätergesellschaft doch auch gewisse Probleme verbinden. Einerseits haben wir sozusagen ein kritisches Narrativ gegen die Opferthese, aber wenn wir mit Begriffen wie Tätergesellschaft, Naziland usw. operieren, dann haben wir so etwas wie eine neuerliche Externalisierung des Widerstandes aus der Gedächtniskultur. Gerade in dieser Anklage, in diesem Gestus der Anklage gegen ein falsches Gedächtnis wird der Widerstand doch wieder sehr stark an den Rand gedrängt. Insofern ist es die eigentliche Herausforderung, wie man das Gedächtnis an den Widerstand auch in dieser Konstellation lebendig halten kann. Referat auf dem Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft „60 Jahre Moskauer Deklaration“ am 25. Oktober 2003 in Wien |
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