| |
Peter Goller: Helene Bauer gegen die neoliberal bürgerliche Ideologie von Ludwig
Mises (1923)
Helene Bauer (1871–1942), die als geborene Gumplowicz 1894/95 an der
Universität Zürich inskribiert war, dort 1905 als damalige Helene
Landau-Gumplowicz mit einer Dissertation „Die Entwicklung des Warenhandels in
Österreich“ promoviert worden war, (vgl. U. Helfenstein: Zürcher
Universitätsmatrikel online, Nr. 10388 und 10729) arbeitete zeitlebens
wissenschaftlich in der Arbeiterbildung von Gewerkschaft und SDAP.
So ist auch Helene Bauers Abhandlung 1923 in der von Arbeiterkammer,
Gewerkschaftskommission und von den Betriebsräten Österreichs herausgegebenen
Zeitschrift „Arbeit und Wirtschaft“ (1923 bis zum Feber 1934 erschienen) zu
verstehen, die ihrer Gegenwartsrelevanz wegen im Anhang abgedruckt wird!
Wie Rosa Luxemburg – diese war in Zürich schon 1897 mit einer Studie über die
Entwicklung des Kapitalismus in Polen promoviert worden – war auch Helene Bauer
in der polnischen Sozialdemokratie aktiv. Mit der marxistischen Theorie, mit der
fortschrittlichen „wissenschaftlichen Weltauffassung“ vertraut galt Helene
Bauers Hauptaugenmerk dem sozialistischen Befreiungskampf im Umfeld der
österreichischen Sozialdemokratie, im Umfeld des „Roten Wien“. Jahrelang bis zum
Verbot 1934 war sie Redakteurin des theoretischen Organs der Sozialdemokratie,
„Der Kampf“. (H. Bauers dortige Aufsätze sind vollständig verzeichnet worden von
Gottfried Hatzl: Gesamtregister für die Bände 1 bis 27 [Wien 1907–1934] der
Zeitschrift „Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift“, Wien 1977, 8.)
Von 1926 bis 1934 unterrichtete Bauer Statistik an der Wiener
Arbeiter-Hochschule, u.a.m. 1934 flüchtete sie nach dem „Wiener Februar“ mit
ihrem Mann Otto Bauer nach Brünn, 1938 nach Frankreich, um drei Jahre nach Otto
Bauers Tod 1941 noch über Schweden in die USA zu emigrieren. (Vgl. zur
Biographie den Helene Bauer vom angeblichen Ruch der „Parteipublizistik“
befreienden, in den offenkundig ansehnlich scheinenden Rang der empirischen
Sozialwissenschaftlerin anheben wollenden Artikel von Johann Dvorák: Helene
Bauer, geb. Gumplowicz, in: Wissenschafterinnen in und aus Österreich, hg.v.
Brigitta Keintzel u. Ilse Korotin, Wien-Köln-Weimar 2002, 42–48.)
In den Jahren des Inflations- und Sanierungselends der frühen 1920er Jahre
widmete sich Helene Bauer exponiert der Kritik der bürgerlichen Nationalökonomie
in der Periode des Aufstiegs der Arbeiterklasse nach 1848. 1922 verfasste sie
eine Polemik gegen Othmar Spanns von ständestaatlich autoritärem Denken geprägte
„universalistische Volkswirtschaftslehre im Geiste Adam Müllers“. (Vgl. Helene
Bauer: Herrn Othmar Spanns Tischlein-deck’-dich, in: Der Kampf 15 (1922),
178–182.) Helene Bauer, die übrigens auch die „Geldkritik“ und
„Großnaturalwirtschaft“ des wissenschaftlich und politisch verbündeten,
vormaligen Münchner Räterepublikaners Otto Neurath ablehnte, (Vgl. Helene Bauer:
Geld, Sozialismus und Otto Neurath, in: Der Kampf 16 (1923), 195–202.) widmete
ihre Hauptkritik aber der Auseinandersetzung mit der (Wiener)
„Grenzwerttheorie“, dabei die „Klassiker“ Smith, Ricardo, deren
„Arbeitswerttheorie“ verteidigend. Die offen „malthusianische“ Apologetik der
bürgerlichen Klassendifferenzen konnte angesichts der erstarkten
Arbeiterbewegung aber nicht mehr aufrechterhalten werden: „Nun verging dem
Bürgertum (ab ca. 1848 – Anm.) die Freude an dem wissenschaftlichen Nachlass
Smiths und Ricardos, der von Marx und Engels übernommen und kritisch
weiterentwickelt wurde. Die bürgerliche Wissenschaft rückte von der
Arbeitswertlehre immer weiter ab, um schließlich unter dem Lawinensturz
historischer und deskriptiver Detailarbeiten jedes Forschen nach den
gesellschaftlichen Quellen des Privatprofits zu begraben.“ Die historische
Schule mit ihrer Flucht aus der nationalökonomischen Theorie hatte ihre
Schuldigkeit – so Helene Bauer – in dem Moment getan, als mit der subjektiven
Grenznutzentheorie der Wiener Karl Menger, Eugen Böhm-Bawerk, Friedrich Wieser,
des Franzosen Léon Walras oder des Amerikaners William St. Jevons ab den 1870er
Jahren sukzessive die „Entthronung der Arbeit“ und damit ein theoretisches
Wiedergutmachen der „Fehler der Klassiker“ möglich schien: Die subjektive
Wertlehre „stellt den einzelnen, den von der Gemeinschaft losgelösten und
dadurch historisch unbestimmbaren ‚isolierten Wirt’, einem jeweils gegebenen
Gütervorrat gegenüber.“ Für eine in die soziale Defensive geratene Bourgeoisie –
bedrängt von sozialen Kämpfen – wurde der Grenzwert bald das beste
akademisch-universitäre „Gegengift gegen den Marxismus“. (Vgl. Helene Bauer:
Bankerott der Grenzwerttheorie, in: Der Kampf 17 (1924), 105–113. – Vgl. auch
die Erinnerungen von Käthe Leichter, in: Herbert Steiner (Hrg.): Leben, Werk und
Sterben einer österreichischen Sozialdemokratin, Wien 1997, 357–360.)
Die erste Generation der Wiener Grenznutzenschule war soeben abgetreten, als
Ludwig Mises (1881–1973) mitten in die österreichische „Sanierungskrise“ hinein
1922 vom bürgerlichen Feuilleton bejubelt mit seiner neoliberalen Kritik der
sozialistischen „Gemeinwirtschaft“ die politische Stoßrichtung gegen die
Arbeiterbewegung offen legte. Ludwig Mises’ Apologetik des Kapitalismus lautete
auf eine Kurzformel gebracht: Weg mit den politischen Parteien des Sozialismus,
weg mit den Gewerkschaften! (Vgl. Ludwig von Mises: Die Gemeinwirtschaft.
Untersuchungen über den Sozialismus, 1. Auflage 1922, hier zitiert nach der
zweiten, umgearbeiteten Auflage: Jena 1932, im folgenden Kurzzitat: Mises 1932)
Helene Bauer widerlegte 1923 Mises’ Bild eines liberalen, rationalen, den
allgemeinen gesellschaftlichen Reichtum unaufhaltsam mehrenden
Konkurrenzkapitalismus, der nur von außen durch sozialistische „Heilslehren“,
durch marxistischen „Chiliasmus“ gehemmt wird. Mises’ soziologische Dogmen
beruhen auf geschichtlich fingierten Prämissen, indem er an eine liberale, von
einer utilitaristischen Ethik getragene Harmonie glaubt: Kein Krieg, kein
Imperialismus, keine Gewalt trübt die ideale Mises’sche Welt des harmonischen
Freihandels. Vermutungen über einen Zusammenhang von kapitalistischer
Entwicklung und imperialistischem Weltkrieg weist Mises zurück.
Helene Bauer beobachtet, wie sich Ludwig Mises zum einsamen Rufer in einer
angeblich sozialistischen Wüste hochstilisiert, in der selbst die bürgerliche
Wissenschaft, der „Kathedersozialismus“ also, vom sozialistischen, Kultur
gefährdenden „Destruktionismus“ unterwandert ist. In seiner Kritik der
„Gemeinwirtschaft“ klagte Mises 1922, dass die Ideen der Arbeiterbewegung in das
Herz der besitzenden Klassen, in die nur scheinbar „antimarxistische“
Wissenschaft – z.B. in das Werk Werner Sombarts – eingedrungen sind. Nur Menger,
Böhm-Bawerk, usw. haben für Mises den Marxismus theoretisch bekämpft, der
deutsche „Antimarxismus“ hingegen hat sich kapitulierend auf die politische
Kritik beschränkt, dabei das „Ressentiment gegen den Kapitalismus“ mit Marx und
Engels teilend. (Vgl. Ludwig Mises: Antimarximus, in: Weltwirtschaftliches
Archiv 21 (1925), 266–293)
Helene Bauer fasste Mises’ Sozialismus-Kritik so zusammen: Der Sozialismus
beruht auf dem Neid und Ressentiment der (aufgehetzten) Massen. Mises’ ewige
Grundthese lautet: Es gibt keine Wirtschaftsrechnung jenseits des
Privateigentums, jenseits der Geldrechnung, jenseits des Privateigentums an
Produktionsmitteln also kein sozialistisches Wirtschaften: „Ohne
Wirtschaftsrechnung keine Wirtschaft! (Vgl. Mises 1932, 32–36.)
Vom Standpunkt des Neoliberalismus rückt Mises die Organisationen der
Arbeiterklasse in ein kriminelles Licht. Mises plädierte für die politische
Liquidierung der Arbeiterbewegung, er agitierte für den Sozialabbau: Mises hatte
bereits den Kampf um den gesetzlichen Arbeiterschutz, um die Beschränkung der
Arbeitszeit zu den Mitteln sozialistischen „Destruktionismus“ gezählt. Mises
scheute sich auch nicht, die Sozialversicherung als Quelle neuer
„Volkskrankheiten“, des „Simulantentums“ abzuwerten. So überrascht es nicht, daß
Mises in der Arbeiterkoalition, in der Arbeitslosenversicherung nur den
gewerkschaftlichen Hebel sieht, die Arbeitskraft nicht zu einem noch niedrigeren
Lohn verkaufen zu müssen.
Die wichtigsten Instrumente des sozialistischen „Destruktionismus“, der
Arbeiterverein, die Gewerkschaft werden nach Mises hinter der schönen
Terminologie von „Koalitionsfreiheit“ und „Streikrecht“ verborgen. In
Wirklichkeit handle es sich bei der gewerkschaftlichen Macht um
„Koalitionszwang“ und „Streikzwang“. Die Gewerkschaften üben nach Mises
gewalttätigen „Landzwang“ aus, verhängen „Interdikte über ganze Landstriche und
Länder“, zerstören Betriebsanlagen, neigen zum „Blutvergießen“, kurz die
Gewerkschaften sind ihm wahre Terrororganisationen. Konform mit der
präfaschistisch bürgerlichen Forderung nach Ausschaltung der politischen und
gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse zeichnet Mises ein Zerrbild
vom „Koalitionszwang“ als einer „furchtbaren Vergewaltigung der persönlichen
Freiheit des Einzelnen“. Mises ruft nach der politischen und wissenschaftlichen
Verteidigung des Streikbrechers. Mises scheute sich in den 1920er Jahren nicht
einmal, den Bürgerkrieg gegen die Gewerkschaften in den Raum zu stellen. (Vgl.
Mises 1932, 440–450.)
Die soziale Reformpolitik des „Roten Wien“ beruhte für den jeden historischen
Zusammenhang von Massenhunger 1918, Massenarbeitslosigkeit ignorierenden Mises
nur „auf ihrem Terrorapparat“. Die Existenz reaktionär-bürgerlicher
„Selbstschutzverbände“ war für Mises legitim. (Vgl. Ludwig Mises: Erinnerungen,
mit einer Einleitung von Friedrich August Hayek, Stuttgart-New York 1978, 47–49,
57–59.)
1924, ein Jahr nach Helene Bauer, hat der damals in Aachen lehrende Alfred
Meusel (1896–1960), späterer Mitbegründer der DDR-Geschichtswissenschaft, in der
von Rudolf Hilferding herausgegebenen deutschen sozialdemokratischen
Theoriezeitschrift „Gesellschaft“ den ideologischen Schein „bürgerlicher
Sozialkritik“ in ähnlicher Weise am Beispiel des Neoliberalismus von Ludwig
Mises und am Beispiel des „neoromantischen“ Universalismus von Othmar Spann
(1878–1950) angegriffen: Mises der „Manchestermann“, „der alles Heil der
Gesellschaft von der Rückkehr zu den Grundsätzen des Laissez-faire erwartet“,
während sich Spann die Stabilisierung des Kapitalismus, des „Unternehmer-Geists“
von einer „universalistischen“ Ständestaatsideologie, einer „völkischen
Gemeinschaftskultur“ erwartete. Spann und Mises waren also Gegner in fast allem
(„Individualismus wider Universalismus“), in der Grundfrage der „unbedingten
Ablehnung“ des Marxismus, des Sozialismus insgesamt waren sie einer Meinung.
(Vgl. Adolf Meusel: Zur bürgerlichen Sozialkritik der Gegenwart I. Der
Neu-Liberalismus (Ludwig Mises), in: Die Gesellschaft 1 (1924), 372–383. – Vgl.
Peter Goller: Alfred Meusel als Kritiker von Ludwig Mises und Othmar Spann.
Gegen „Neoliberalismus“ und „Neoromantik“, in: Mitteilungen der Alfred Klahr
Gesellschaft [Wien 2/2003])
Anhang
Helene Bauer: Die Interessenharmonie, der „gemeine Mann“ und ein besserer
Herr
(in: Arbeit und
Wirtschaft. Organ der Gewerkschaftskommission, Arbeiterkammern und Betriebsräte
Österreichs 1 [1923], 589–592)
„Wenn jemand glaubt, daß die Befriedigung der Sonderwünsche seines
persönlichen Geschmacks die Mehrkosten, die für ihn daraus gegenüber der
Befriedigung durch die uniformen Erzeugnisse aufwiegt, dann kann man ihm nicht
objektiv beweisen, daß er im Unrecht ist … Wenn mein Freund es vorzieht, sich so
zu kleiden, so zu wohnen und so zu essen, wie es ihm gefällt, und nicht das zu
machen, was jedermann tut, dann kann man ihn darum nicht tadeln … Wenn er seine
Wohnung nach seinem persönlichen Geschmack einrichten will und nicht nach dem
des Möbelfabrikanten, so kann man ihn mit Gründen nicht widerlegen …“ Das
Verständnis, das Herr Dr. [Ludwig] Mises in dem dicken Buche „Die
Gemeinwirtschaft“ den Sonderwünschen seines Freundes entgegenbringt, lässt
vermuten, daß er auch die Frau des Freundes, die sich sicher gern in kostbare
Pelze und fließende, mit Juwelen zusammengehaltene Seide hüllt darum nicht
tadelt. Denn die Glückseligkeit liegt „eben in der Befriedigung seiner Wünsche“
und der Herr Mises als Vertreter der Lustethik ist für die Glückseligkeit seiner
Freunde und findet, daß die kapitalistische Wirtschaft, in der sich sein Freund
seine Wohnung und seine Tafel nach eigenem Geschmack einrichten kann, die beste,
die einzig mögliche Wirtschaftsordnung sei.
Wer sich’s leisten kann, der genieße, meint der liberale Herr Mises, und um den
fröhlichen Genuß der Reichen nicht länger gestört zu wissen durch die bösen
Miasmen des Zweifels an der moralischen Berechtigung ihrer gehobenen
Lebensweise, des Zweifels, der aus der durch sozialistische Gedankengänge
vergifteten Atmosphäre des öffentlichen Lebens bis zum Kontor des
Kapitalsmagnaten und dem Boudoir seiner Ehefrau dringt, will er nun beweisen,
daß der Sozialismus eine durchaus unrationelle Wirtschaftsform wäre! Findet man
jetzt nirgends die grundsätzliche Gegnerschaft gegen den Sozialismus, den
Wagemut, froh und frei für das Sondereigentum an den Produktionsmitteln
einzutreten, nur beim Herrn Mises soll man sie finden, gepaart obendrein noch
mit den dazu notwendigen philosophischen und ökonomischen „Gesichtspunkten“. Er
fordert nun den Sozialismus in die Schranken und der Kampf soll mit den „Waffen
des Geistes“ geführt werden.
Der Geist äußert sich zuerst als der eines homerischen Helden. Der Gegner wird
mit Schimpfworten empfangen. Der Sozialismus ist nichts anderes als
„Rationalisierung der kleinlichen Ressentiments“, als eine Heilslehre, „ die das
Toben der niedrigen Neid- und Racheinstinkte zur Erfüllung einer
weltgeschichtlichen Sendung verklärt“ und ihre Schlüsse zieht „aus den krausen
Gedankengängen eines abstrusen Systems“. Der Gegner soll durch Drohungen
eingeschüchtert werden. „Alle Bestrebungen, den Sozialismus zu verwirklichen,
führen nur zur Zerstörung der Gesellschaft ... Die Bevölkerung der
Industriegebiete wird aussterben oder auswandern …Wieder können Nomadenstämme
aus den Steppen des Ostens auf schnellen Rossen Europa plündernd durchstreifen,
wer sollte ihnen im dünn bevölkerten Land Widerstand leisten können, wenn einmal
die von der höheren Technik des Kapitalismus ererbten Waffen abgenützt sein
werden?“ (Seite 498)
Wem jedoch vor der Wehrlosigkeit des dünn bevölkerten Europa und den Nomaden auf
schnellen Rossen weniger graust als vor dem Kapitalismus, wer seine Neid- und
Racheinstinkte auch angesichts dieser Gefahren nicht zurückzustellen vermag, dem
wird der Schreckensnamen Malthus and die Wand gemalt. Umsonst will er sein
Gewissen beruhigen durch die Erfahrung, daß bei steigender Kultur und
zunehmendem Wohlstand sich das Wachstum der Bevölkerung verlangsame; denn
schonungslos hält ihm sogleich Mises entgegen, daß dies nur bei Sondereigentum
gelte, daß „jede Veranlassung, sich der Zeugung zu enthalten, in dem Augenblick
fortfällt, in dem die Gründung der Familie ohne wirtschaftliche Opfer erfolgen
kann, weil der Unterhalt der Kinder der Gesellschaft obliegt“. (Seite 187) So
birgt die sozialistische Zukunft in ihrem Schoße zwei gleich unheilvolle
Möglichkeiten: Überbevölkerung mit gesetzlichen Eingriffen in die Gebärfreiheit
und Verödung früherer blühender Kulturstätten. Wähle jeder, was ihm schlimmer
erscheint!
Aber es muß ja nicht so weit kommen. Die Gesellschaft ist nach Mises ein
Erzeugnis des Willens und der Tat und schmiedet selber ihre Zukunft. Sie nähert
sich dem Sozialismus, weil die große Mehrheit es will, weil die große Mehrheit
den Sozialismus für eine den höheren Wohlstand erzeugende Gesellschaftsordnung
betrachtet. Und „tritt in dieser Auffassung ein Wandel ein, dann ist es um den
Sozialismus geschehen“.
Um diesen Wandel herbeizuführen – bekanntlich unterziehen sich alljährlich
dieser Aufgabe recht viele Dozenten – untersucht Mises kritisch die ökonomische
Struktur aller erdenklichen sozialistischen und pseudosozialistischen Ordnungen
und findet sie immer unvereinbar mit einer rationellen Wirtschaftsführung. Es
fehlt die Kostenrechnung, es fehlt der Verteilungsmaßstab! Statt der wunderbaren
Ordnung, in der der Kapitalist dem Arbeiter kargen Lohn „zurechnet“ und für die
„Leistung der Maschinen“, deren Konstruktion ihm meistens fremd ist, für die
„Leistung des Bodens“, den er nicht einmal von Unkraut zu reinigen verstünde,
das heißt für die von den Grenznützlern erfundenen „produktiven Beiträge der
sachlichen Faktoren“ sich selber die Taschen voll stopft, würde der Sozialismus
eine „Verteilungsweise setzen, die keinem Eigentümer oder Unternehmer eine von
den andern Volksgenossen grundsätzlich verschiedene Stellung einräumt“, ja, in
denen die „Anteile“, die auf die Maschine und den Boden entfallen, gar nicht
ermittelt werden könnten! Da jedoch für jeden richtig gehenden Bourgeois die
„grundsätzlich verschiedene Stellung der Eigentümer und Unternehmer“, der Freund
also mit der nach eigenem Geschmack eingerichteten Wohnung und Tafel zum
Weltbild gehört und deswegen in der Kalkulation der Profite der einzige Sinn des
wirtschaftlichen Handelns erkannt werden kann, ist für ihn die nach
Bedarfsdeckung orientierte Gemeinwirtschaft unverständlich. Und ganz
folgerichtig sieht auch Mises im Sozialismus nur „das sinnlose Gebaren eines
vernunftlosen Apparats“. (Seite 107). Wem Profit, Vernunft, dem ist natürlich
Profitlosigkeit Unvernunft!
Als echter Mann der Wissenschaft lässt sich Mises bei seiner Wanderung in den
unseligen Gefilden des Sozialismus immer von der ökonomischen Theorie begleiten.
Wenn er die sozialistische Verteilung verwirft und in der kapitalistischen die
Gewähr sieht, daß jedem Verdienst sein Lohn wird, so tut er das nicht aus
eigener Willkür, sondern im Namen der Lehrmeinung, die er vertritt. Die
bürgerlichen Vertreter der Volkswirtschaftslehre sind zwar untereinander über
die Bestimmungsgründe der kapitalistischen Verteilung gar nicht einig; aber wie
verschieden auch ihre Meinungen sein mögen, auf was für Umwegen immer sie zu
ihren Lösungen des „Zurechnungsproblems“ gelangen, eine Übereinstimmung ist in
ihren komplizierten Ausführungen immer gegeben. Wie auch der Kapitalist dem
Arbeiter den Lohn und sich den Zins „zurechnet“, ob nach Böhm-Bawerk, nach
Schumpeter, nach Clark oder nach Wieser, immer trifft er das Richtige. Gerade
das, war er zahlt, und gerade das, was er einsteckt, entspricht der Leistung des
Arbeiters, der Maschine und des Bodens, für welch letztere er als
bevollmächtigter Vertreter die Rechung vorweist. Mises, vor dessen
wissenschaftlicher Strenge kein sozialistisches Verteilungssystem standhält,
gibt sich mit dem unfertigen Zustand der bürgerlichen Zurechnungslehre
zufrieden. Die Ergebnisse der Lehre genügen ihm hier vollkommen, um die
Überlegenheit der kapitalistischen Verteilung festzustellen. Dieses System ist
unübertrefflich, einzig möglich Es stellt sich doch hier „der natürliche Lohn in
einer solchen Höhe fest, daß dem Arbeiter der Ertrag seiner Arbeit, das heißt
alles, was der Arbeit zugerechnet wird, zukommt“ ... Und daß dieser „natürliche
Lohn“, also alles, was der Kapitalist der Arbeit zurechnet, dem Arbeiter nicht
erlaubt, sich so zu kleiden, so zu wohnen und so zu essen, wie es ihm gefällt,
daß es nicht nur nicht zur Befriedigung der Sonderwünsche des persönlichen
Geschmacks, sondern nicht einmal zum Ankauf uniformer Massenartikel in
genügender Menge hinreicht, das liegt eben in der Natur dieses natürlichen
Lohnes. Die Glückseligkeit, die in der Befriedigung der eigenen Wünsche liegt,
ist ein ethisches Prinzip nur für Freunde, dem Arbeiter, der „eigene Wünsche“
hat, versucht Mises objektiv zu beweisen, daß er im Unrecht ist. Die Schranken
des „natürlichen Lohnes“ dürfen nicht überschritten werden, mögen sie auch zur
Befriedigung der Lustgefühle viel zu eng gezogen sein. Nur böser Neid kann sie
sprengen wollen und nur aus der traurigen Tatsache, „daß auch heute noch der
gemeine Mann dazu neigt, den Staat als eine Rentenquelle zu betrachten, aus der
er möglichst viel Einkommen ziehen will“ (Seite 61) und daß er „dem arbeitslosen
Einkommen abhold ist, sofern es ein anderer und nicht er selbst bezieht“ (Seite
257), vermag sich der Herr Mises die Unzufriedenheit des gemeinen Mannes mit dem
Bestehenden zu erklären.
Der Sozialismus ist aber nicht nur ein Ausblick in eine trostlose Zukunft; indem
er die wirtschaftlichen Kräfte durch Bindungen zu stören sucht, wird er jetzt
schon zur Ursache der Verarmung. Zum Kapitalismus gehört volle Freiheit des
wirtschaftlichen Handelns, gehört der freie Wettbewerb. Im freien Wettbewerb
entwickelt der Kapitalismus die produktiven Kräfte, im Wettbewerb schafft er den
Reichtum der Märkte, im Wettbewerb stellt er jeden Mann an den richtigen Platz.
Mit dem Wegfall der Zunftschranken „kann“ ein jeder reich werden, wenn er sich
an dem allgemeinen Wettbewerb beteiligt. Aber „allen diesen Erfahrungen und
Tatsachen zum Trotz sucht der Arbeiter sein Heil in der Vereinigung mit den
anderen Arbeitern“. (Seite 401)
Die marxistische Lehre von der Identität der Interessen aller Proletarier trägt
die Schuld daran, daß der Arbeiter, statt nach kapitalistischem Prinzip durch
Unterbietung seiner Arbeitsgenossen Käufer zu suchen und durch Verlängerung der
Tagesarbeit größeren Absatz zu erzielen, statt also den Weg zu gehen, der die
Reichen reicher werden läßt, die Gebundenheit der Gewerkschaft der Freiheit des
Konkurrenzkampfes vorzieht! Indem er nicht der Interessenharmonie, von der die
liberale Gesellschaftslehre spricht, gedenkt, sondern seiner eigenen
Klassenlage, stört er eben die Harmonie und dadurch die eigene Glückseligkeit.
Mises zweifelt nicht daran, daß der Arbeiter „nur durch die Aufstachelung seiner
niedrigsten Eigenschaften“ dem Liberalismus abtrünnig gemacht worden ist. Und
das war nicht einmal schwer, „denn das Böse im Menschen zu wecken, ist immer
lohnend“.
Mises gibt ohneweiteres zu, daß auch in kapitalistischen Kreisen gegen das
liberale Prinzip des Wettbewerbes viel gesündigt wird, aber während er in der
Vereinigung des „gemeinen Mannes“ nur das Böse zu erblicken vermag, sind für ihn
die Vereinigungen der feinen Leute oft ein Werkzeug der geschichtlichen
Vernunft. Die preiserhöhende Politik der Kartelle kann zum Beispiel für längere
Zeiträume nur wirksam bleiben bei monopolistischer Beherrschung der
Naturschätze, und da erzwingt sie durch Teuerung ein sparsames Vorgehen mit
nicht beliebig vermehrbaren Gütern, wie zum Beispiel mit Kohle und Eisen.
Die arme Wöchnerin, der Arbeitsinvalide frieren nun in ihren ungeheizten Stuben,
um den Kohlenvorrat noch über die paar tausend Jahre, für die er gesichert
erscheint, zu strecken, während der reiche Mann sich behaglicher Wärme erfreut.
Kluge Haushaltung und doch – welch froher Genuß! Ist der Kapitalismus nicht die
beste, die „einzig mögliche“ Wirtschaftsordnung? Sollte vielleicht der Freund
des Herrn Mises mit der nach persönlichem Geschmack eingerichteten Wohnung auf
eine schmale Kohlenration gesetzt werden? Nein! Das wäre ja ein staatlicher
Eingriff in das Privatleben. Und schließlich, da er kein gemeiner Mann, sondern
ein besserer Herr ist, hat er die Funktion, an fremdem Lebensgenuß zu sparen,
nicht an eigenem. Das ist eben das Rationelle im kapitalistischen System, daß
die Kapitalsakkumulation den Genuß nicht schmälert. Die einen entbehren – die
anderen schaffen neues Kapital, ganz ohne Opfer. Aber eine sozialistische
Akkumulation als von allen gewollte Erweiterung der gesellschaftlichen
Produktionsbasis – das erscheint dem Herrn Professor höchst bedenklich.
Also kämpft Herr Mises mit geistigen Waffen für Privateigentum, Zins und Profit.
Und die bürgerlichen Männer der Theorie, besonders aber die der Praxis, zeigen
für diese Geistigkeit und diese Waffen das allergrößte Verständnis. Endlich ein
Mann und ein Werk! In den Gewerkschaften sieht er das Walten des „Bösen“ und in
der Sozialversicherung „unheilvolle Beeinflussung der sozialen Moral“. Das ist
Wissenschaft!
Dieses gegenseitige Wohlgefallen soll nicht etwa durch abfällige Kritik gestört
werden. Wer den Herrn Mises lobt, dessen Lob verdient er sicher. Dieses „standard
work“ und seine begeisterten Kritiker bilden eine Interessenharmonie, die der
„gemeine Mann“ begreift. Und es ist nicht einmal schwer!
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft Nr. 4/2005
|