Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Hans Hautmann: Sudetendeutscher Nationalsozialismus

In der Auseinandersetzung um die Benes-Dekrete ist nicht selten das Argument zu hören, dass die Sudetendeutschen im Herbst 1938 Hitler nicht in seiner Eigenschaft als Führer des Nationalsozialismus, Rassisten und Antisemiten, sondern lediglich als Befreier vom (angeblichen) tschechischen Joch begeistert begrüßt hätten, und dass die Untaten an den Tschechen zwischen 1938 und 1945 nicht ihnen, sondern aus dem Deutschen Reich entsandten NSDAP-Funktionären zuzuschreiben seien.

Am weitesten in der Proklamierung einer kollektiven sudetendeutschen Unschuld ging der Publizist Emil Franzel, als er schrieb: „Niemals haben die Deutschen der Sudetenländer ihre tschechischen Mitbürger unterdrückt (...) Die Sudetendeutschen (...) wussten so gut wie nichts von dem, was den Tschechen zwischen 1939 und 1945 angetan wurde.“/1/ Etwas abgeschwächt drückte der sudetendeutsche Sozialdemokrat Ernst Paul den gleichen Gedanken aus: „Natürlich haben sich, pflichtgemäß oder freiwillig, auch Sudetendeutsche an den Untaten des Hitlerregimes beteiligt. Aber nicht mehr, eher weniger als andere deutsche Stämme. Warum eher weniger? (...) Weil man den Sudetendeutschen nicht voll vertraute (...) An den Verbrechen des Nazismus in Böhmen-Mähren-Schlesien hatten die Sudetendeutschen keinen führenden Anteil.“/2/

Die Hohlheit dieser Behauptung aufzuzeigen (die im übrigen frappant an das Argumentationsmuster der österreichischen „Opfer“-These erinnert), soll Anliegen eines kurzen Streifzuges durch die Geschichte sein. Dabei müssen wir davon absehen, jenen Teil der unbestreitbaren Wahrheit eigens zu behandeln, der für jedes Volk in Europa unter der NS-Herrschaft galt: dass auch unter den Sudetendeutschen SozialdemokratInnen, KommunistInnen, bürgerlich-christliche Kreise Widerstand leisteten, verfolgt wurden und dem Regime zum Opfer fielen. Das Augenmerk darauf zu richten, hätte – nebenbei bemerkt – sehr positive Wirkungen, weil die Vergangenheit demonstriert, dass das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen ein zwar riesiges, nicht aber ein unlösbares Problem darstellte – sofern man die Schranken des bürgerlichen Nationalismus durchbrach. Beispiele dafür sind die Tatsache, dass deutsche und tschechische Kommunisten seit 1921 in der KPTsch vereint wirkten, und das Faktum, dass sich von 1933 bis 1938 eine Zusammenarbeit der antifaschistisch-demokratischen Kräfte bei der Organisierung von Aktionen der Solidarität und Hilfe für deutsche und österreichische EmigrantInnen, die Zuflucht in der CSR fanden, entwickelte. Sucht man heute nach Anknüpfungs- und Berührungspunkten für die oft beschworene „Versöhnung“, so könnten sie gerade auf dieser Basis gefunden werden. Das geschieht aber nicht; und wenn das nicht geschieht, dann liegt die Schuld primär bei jenen, die mit antifaschistischen Traditionen nichts am Hut haben: den Sprechern der Sudetendeutschen Landsmannschaften und den sie unterstützenden Kreisen aus Politik und Wirtschaft in der BRD und in Österreich.

Wenngleich nach wie vor keine exakten Zahlenangaben existieren, geht man nicht fehl in der Annahme, dass unter den Sudetendeutschen – wie unter den ÖsterreicherInnen – die aktiven Hitlergegner und WiderstandskämpferInnen nur eine kleine Minderheit bildeten. Verglichen mit Österreich war der Anteil unter den Sudetendeutschen sicherlich noch kleiner, weil die lange Tradition des erbitterten „Volkstumskampfes“ mit den Tschechen hineinspielte und nach 1938 ihre zusätzlichen bewusstseinsverheerenden Wirkungen entfaltete.

Mit dieser Feststellung gelangen wir unmittelbar ins Zentrum und zum Ausgangspunkt der Frage, nämlich der, welche Rolle sudetendeutsche Faschisten bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1938 und in der Zeit des „Protektorats“ spielten, warum ehemalige aktive Nationalsozialisten bei der Gründung der Sudetendeutschen Landsmannschaften nach 1945 die Führung innehatten und warum sudetendeutsche Nazis ganz mit Recht behaupten konnten, dass ihre Heimat die Wiege der deutschen nationalsozialistischen Bewegung gewesen sei.

Die DNSAP

Die Verschärfung des Nationalitätenstreits ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie führte auf deutscher wie tschechischer Seite unvermeidlich zur Herausbildung von Parteien mit einer radikalen Programmatik. Es gab aber einen Unterschied: Bei den Tschechen war es ein gewissermaßen „normaler“ bürgerlicher Nationalismus, während er bei den Deutschen unter dem Mentor Schönerer auf ein rassistisch-sozialdarwinistisches Fundament gestellt wurde und als unverrückbares Dogma die eingeborene „blutsmäßige“ Minderwertigkeit der Tschechen – wie aller Slawen – verkündete. Es war daher nur folgerichtig, dass die weltweit erste Partei mit einer genuin faschistischen Ideologie, die sich später – auch gegenüber Hitler – stets dieses Primats rühmte, auf sudetendeutschem Boden entstand: die 1904 in Trautenau (Trutnov) gegründete „Deutsche Arbeiterpartei“ (im April 1918 umbenannt in „Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei“) unter Rudolf Jung, Hans Krebs, Walter Riehl und Hans Knirsch.

Wie ist diese Partei entstanden und warum muss man sie als nazifaschistisch charakterisieren? In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts schritt die Industrialisierung Böhmens rasant fort. Eine ihrer Folgen war die Zuwanderung tschechischer ArbeiterInnen in die sudetendeutschen Randgebiete. An ein geringeres Lebensniveau gewöhnt waren sie bereit, auch niedrigere Löhne zu akzeptieren als der Durchschnitt der deutschen ArbeiterInnen. Deutsche Unternehmer stellten tschechische ArbeiterInnen, Bedienstete, Portiere ein, und deutsche Bürgerhaushalte bevorzugten tschechische DienstbotInnen – wegen ihrer Billigkeit. Die deutschen Arbeiter sahen darin eine Existenzbedrohung. Da es unter kapitalistischen Bedingungen nie gelingen kann, die ganze Arbeiterklasse gegenüber den Einflüssen der bürgerlichen Ideologie zu immunisieren und sie auf das Niveau klassenbewusster Kämpfer gegen das Kapital zu heben, kam es dazu, dass ein Teil der sudetendeutschen Arbeiter dieses sozialökonomische Problem nationalistisch begriff und auf dieser Basis zu lösen anstrebte. Sie begannen, sich in Organisationen zu sammeln, die man als „Schutzvereine gegen die Überflutung des deutschen Siedlungsgebietes durch slawische – vorwiegend tschechische – Arbeitskräfte, welche das vom mammonistischen Geist angefressene deutsche Unternehmertum ihrer Billigkeit wegen heranzog“,/3/ verstand.

Der erste solche Verein (der „Deutsche Gesellenverein“) gründete sich 1885 in Budweis (Ceske Budejovice). Es folgten 1886 der „Deutsche Gehilfenverein“ in Reichenberg (Liberec) und weitere in anderen Städten. 1897 fand in Mährisch-Trübau (Moravska Trebova) eine Versammlung der Vertreter von 26 Organisationen statt, die damals über 4.000 Mitglieder hatten./4/

Die „völkische“ Bewegung der sudetendeutschen Arbeiter stand zunächst unter dem entscheidenden politischen Einfluss Georg von Schönerers, der ab Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts seine chauvinistische „Alldeutsche Partei“ aufbaute. Mit dem Beginn der imperialistischen Epoche um die Jahrhundertwende entfernte sich jedoch die Schönerer-Partei zusehends von den Interessen der deutschnationalen Arbeiterbewegung, weil sie das Schwergewicht auf die Anziehungskraft gegenüber den Mittelschichten zu legen begann. Hitler schrieb dazu in seinem Buch „Mein Kampf“, dass „die alldeutsche Bewegung (...) wohl recht (hatte) in ihrer prinzipiellen Ansicht über das Ziel der deutschen Erneuerung, (sie) war jedoch unglücklich in der Wahl des Weges. Sie war nationalistisch, allein leider nicht sozial genug, um die Masse zu gewinnen.“/5/

Mit Hitlers Bewertung stimmte der Hauptideologe des sudetendeutschen Nazismus, Rudolf Jung, überein, als er schrieb, dass „die in ihr (in der ‚Alldeutschen Partei’, H.H.) stehende völkische Arbeiterschaft, die im schwersten Kampf gegen den Marxismus lag, sich neu organisieren musste. Das um so mehr, als die Alldeutsche Partei dem sozialen Gedanken nicht die genügende Aufmerksamkeit geschenkt hatte, sondern allzu sehr ins kleinbürgerliche Fahrwasser gelangt war.“/6/

Diese neue Organisation war die im August 1904 in Trautenau (Trutnov) gegründete „Deutsche Arbeiterpartei“. Sie entstand nicht zufälligerweise zu einem Zeitpunkt, als die „modernen“ Teile der Bourgeoisie zu erkennen begannen, dass es im Interesse der imperialistischen Herrschaft notwendig wurde, deren Massenbasis zu verbreitern, indem man sie bis in die Arbeiterklasse vorschob./7/ Was damals im Sudetenland als Bewegung mit dem Ziel begann, die Arbeiter ideologisch „dem Marxismus zu entreißen“ – mit dem Zwang, sich als revolutionär, antibürgerlich und antikapitalistisch darzustellen - , wurde in der Existenzkrise des kapitalistischen Systems 1917/18/19 von der NSDAP Hitlers übernommen und ergänzt im Sinne eines zweiseitigen Bedürfnisses der reaktionärsten Kreise der herrschenden Klasse: dem nach Vernichtung der marxistischen Arbeiterbewegung und gleichzeitiger ideologischer Eroberung großer Teile von ihr.

Berechtigterweise verhielten sich die sudetendeutschen Naziführer bis in die zwanziger Jahre hinein gegenüber der Hitlerpartei wie weit ältere und erfahrenere Geschwister. Bei grundsätzlichem Überwiegen der Gemeinsamkeiten im Bereich der Ideologie und praktischen Politik gab es aber auch Unterschiede. Die – wie sie ab April 1918 hieß – „Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei“ (DNSAP) bewahrte gewisse „basisdemokratische“ Züge, die in der NSDAP Hitlers schon sehr bald radikal ausgemerzt wurden und dem „Führerprinzip“ Platz machten. Das wiederum hatte seine Ursache darin, dass die DNSAP, aus der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung hervorgegangen, in der Zusammensetzung der Mitglieder tatsächlich stark proletarisch geprägt war und für sie Arbeiterforderungen einen wichtigen Stellenwert innehatten./8/ Die NSDAP verfügte zu keinem Zeitpunkt über eine solche soziale Grundlage, obwohl sie sie anstrebte und ihre Werbung ursprünglich vor allem der Arbeiterschaft galt. Der beabsichtigte Einbruch in die deutsche Arbeiterklasse gelang ihr nicht, dafür aber massenhaft in die Reihen des ruinierten mittelständischen Kleinbürgertums.

DNSAP und NSDAP

Nach dem Ende der k.u.k. Monarchie etablierte sich die DNSAP als selbständiger Bestandteil des Parteienspektrums in der Tschechoslowakischen Republik, deren Zerschlagung durch Anschluss der Sudetengebiete an das Deutsche Reich sich sich trotz aller förmlichen Loyalitätsbekundungen zum Ziel setzte. Einen ersten politischen Erfolg brachten die Gemeinderatswahlen im Juni 1919 mit 42.000 Stimmen./9/ Bei den Parlamentswahlen im Oktober 1929 errang sie 204.000 Stimmen; in das tschechoslowakische Abgeordnetenhaus gelangten acht, in den Senat vier ihrer Vertreter./10/ Die ersten Kontakte zur NSDAP hatte sie bereits auf dem Treffen in Salzburg im August 1920 aufgenommen, wo Rudolf Jung und Hans Knirsch Hitler noch ziemlich von oben herab behandelten. Als im November 1923 der Putsch in München missglückte und die NSDAP verboten wurde, konnte sich die DNSAP sogar damit brüsten, dass sie „eine Zeitlang (...) im Sudetenland die einzige noch intakte nationalsozialistische Bewegung“ gewesen sei./11/

Ab dem Ende der zwanziger Jahre wurde aber die NSDAP durch die Entwicklung zur Massenpartei und spektakuläre Wahlerfolge zum Dominator über die anderen rechtsradikal-faschistischen Gruppierungen einschließlich der DNSAP. Diese fing an, die Hitlerbewegung nachzuahmen und gründete nach dem Vorbild der SA und SS die Organisation „Volkssport“. Die alten Anführer (Knirsch, Jung u.a.) gerieten unter den Druck der jüngeren Radikalen, die sich am Parteiaufbau, der Strategie und Taktik der NSDAP orientierten, und mussten nach und nach ihnen Platz machen. Hatte die DNSAP in den zwanziger Jahren noch „hoch und teuer“ ihre Loyalität gegenüber dem tschechoslowakischen Staat geschworen, proklamierte sie ab 1930 wieder (wie schon 1918/19) das Ziel der „Vereinigung aller Deutschen in einem Reich“./12/

Die Weltwirtschaftskrise, die sich in den Sudetengebieten besonders hart auswirkte, erwies sich für die Propaganda der DNSAP-Führung, dass am Elend der deutschen Lohnabhängigen allein die Tschechen schuld seien, als idealer Nährboden. Von 1930 bis 1932 verdoppelte sich die Mitgliederzahl der sudetendeutschen Nazipartei (von 30.000 auf 61.000), es wurden 110 neue Ortsgruppen gegründet, und der Gesamtverband der „völkischen“ Gewerkschaften umfasste 1933 über 100.000 Mitglieder. Im März 1933 errangen die Kandidaten der DNSAP bei den Gemeinderatswahlen in Eger (Cheb) 17 Mandate gegenüber früher 8 und in der Industriestadt Asch (As) 19 gegenüber früher 10./13/

Mit Hitlers Machtantritt in Deutschland nahm die staatsfeindliche Aktivität der DNSAP weiter zu. Die Partei bekannte sich nunmehr offen zum Rassismus und Antisemitismus und festigte ihre Verbindungen zu reichsdeutschen Institutionen wie der SA und SS. Die sudetendeutschen Nazis intensivierten ihre Spionagetätigkeit für die entsprechenden Reichsstellen und begannen mit Begeisterung jene besondere Aufgabe zu erfüllen, die ihnen von den Hitler-Leuten zugeteilt worden war: die antifaschistische und jüdische Emigration in der CSR zu bekämpfen.

Den DNSAP-Führern war klar, dass diese Umtriebe früher oder später das Eingreifen der tschechoslowakischen Behörden nach sich ziehen mussten, und sie bereiteten sich auf die Auflösung ihrer Partei vor. Ein Bestandteil dieser Vorkehrungen war die Suche nach neuen Organisationsformen und nach einem neuen Führer der „völkischen Bewegung“, der noch nicht politisch kompromittiert war. Er wurde in dem damaligen Amtsträger des „Deutschen Turnvereins“, Konrad Henlein, erblickt, den auch Hitler bereits für eine solche Funktion auserkoren hatte.

Die SHF

Mit der Gründung der „Sudetendeutschen Heimatfront“ (SHF) unter Henleins Führung am 1. Oktober 1933 und dem Verbot der DNSAP am 7. Oktober 1933 begann eine neue Etappe in der Geschichte des sudetendeutschen Faschismus. Während einige DNSAP-Führer wie Krebs und Jung nach Deutschland flohen, wo sie Hitler durch Berufung zu Reichstagsabgeordneten und „Gauleitern ehrenhalber“ auszeichnete (und gleichzeitig kaltstellte), trat die Masse der Mitglieder zur SHF über.

Es wäre aber eine Simplifizierung, die SHF - bzw. seit 1935 „Sudetendeutsche Partei“ (SDP) – nur als „neue Flasche für den alten Wein“ der DNSAP zu bezeichnen, denn es gelang ihr, auch von den anderen, nichtfaschistischen sudetendeutschen bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Parteien den Hauptteil der Mitglieder und Wähler aufzusaugen. Die der SHF von den Naziführern in Berlin zugedachte Aufgabe, nämlich den Anschein zu erwecken, eine selbständige, nicht von Hitlerdeutschland gesteuerte Organisation zu sein, bedingte, bei deklarierter Loyalität zum tschechoslowakischen Staat taktische Nahziele in den Vordergrund zu rücken: eine „gerechte Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Fragen“ sowie vermehrte Selbstverwaltungsrechte für die Sudetendeutschen./14/

Eine Zeitlang gewann diese politische Orientierung sogar eine gewisse ideologische Eigendynamik, zu der beitrug, dass Henlein und alle seine engeren Mitarbeiter Anhänger der „Ständestaats“-Lehre Othmar Spanns waren, die von den orthodoxen Nationalsozialisten scharf abgelehnt wurde./15/ Denn so wie in Österreich mündete auch bei einem Teil der sudetendeutschen Faschisten diese Theorie in der Vorstellung vom „besonderen sudetendeutschen Stamm“, der „sich geistig, ideell und kulturgemäß von den übrigen deutschen Stämmen“ unterscheide./16/ Die reichsdeutschen ebenso wie die mit ihnen weltanschaulich auf gleicher Linie liegenden sudetendeutschen Nationalsozialisten prangerten das als „seelische Absonderung vom Gesamtdeutschtum“ und als „Verschweizerung“ an, die mit der Idee der „deutschen Volksgemeinschaft“ unvereinbar sei./17/

Diese Differenzen wurden nach dem Münchener Diktat virulent, als es die Ämter und Sinekuren im neuen „Reichsgau Sudetenland“ aufzuteilen galt. Dabei wurden eindeutig die „Orthodoxen“ bevorzugt, weil Hitler Henlein und seine engeren Gefolgsleute eigentlich nicht mehr brauchte. Henlein wurde zwar zum Gauleiter ernennt, hat aber bis 1945, anders als sein Stellvertreter Karl Hermann Frank, keine wirklich entscheidende Macht ausgeübt. Einige seiner Anhänger gerieten sogar wegen angeblicher oder tatsächlicher Homosexualität in die Mühle der Verfolgung, was von sudetendeutschen Publizisten später als „Beweis“ für antinazistischen Widerstand innerhalb der SHF herangezogen wurde./18/

In der Zeit des Protektorats

Mit der Überleitung der Sudetendeutschen Partei in die NSDAP im November/Dezember 1938 wurden alle Unterschiede, die früher zwischen der DNSAP und NSDAP bestanden hatten, eingeebnet. Außer Karl Hermann Frank hat niemand von den ehemaligen prominenten DNSAP-Führern in der Zeit der NS-Herrschaft über das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ einen wirklich bedeutenden Posten bekommen. Das Amt des Regierungspräsidenten in Aussig (Usti nad Labem) für Hans Krebs oder des Beauftragten für Arbeitseinsatz für Rudolf Jung war nur eine eher symbolische Belohnung für ehemalige Verdienste./19/

Eben dieses Faktum, dass Hitler bei der Vergabe der Machtstellungen „den Sudetendeutschen nicht voll vertraute“, dient der einschlägigen apologetischen Geschichtsschreibung als Beleg für die Behauptung, dass die Sudetendeutschen „keinen führenden Anteil“ an den NS-Verbrechen gegenüber den Tschechen gehabt hätten. Es blieben aber mehr als genug sudetendeutsche Nazis übrig, die in dieser oder jener Funktion ihren Hass auf die Tschechen von 1938 bis 1945 austoben konnten, denn die Bekleidung lediglich mittlerer und unterer Ränge in der Machthierarchie hat unter dem NS-Regime zu keinem Zeitpunkt die Unmöglichkeit des Begehens von Verbrechen involviert.

Wer darüber nähere Einzelheiten erfahren will, dem sei die Lektüre des Buches von J.W. Brügel empfohlen,/20/ in dem auf den Seiten 208 bis 229 eine erdrückende Fülle schauerlicher Beispiele ausgebreitet wird. Die Skala umfasst die Verbrechen Karl Hermann Franks ebenso wie die Untaten sudetendeutscher Regierungspräsidenten, Bürgermeister, SA- und SS-Führer, Unternehmer bis hin zu den ideologischen Helfershelfern wie Universitätsprofessoren, Journalisten und Propagandaleitern. Wir beschränken uns hier darauf, nur eine Person herauszugreifen, die paradigmatisch die eigenständige Rolle der sudetendeutschen Nationalsozialisten bei der Unterdrückung der Tschechen verkörpert.

Josef Pfitzner (1901-1945), ein Bauernsohn aus der Jägerndorfer Gegend in Schlesien, hatte nur mit Hilfe eines jüdischen Gönners das Studium aufnehmen können. Er wurde Historiker, habilitierte sich und bekam einen Lehrstuhl an der Deutschen Universität in Prag. Seit der Mitte der dreißiger Jahre engagierte er sich in der Henlein-Bewegung, deren Spitzenkandidat er bei den Gemeinderatswahlen in Prag 1938 wurde. Die SDP eroberte nur vier von den 100 Mandaten im Prager Stadtparlament, was sich daraus unschwer erklärt, dass Prag damals 900.000 tschechische und 40.000 deutsche Bewohner hatte. Obwohl eine so kleine Fraktion selbstverständlich keinen Anspruch auf Sitze in der Stadtregierung erheben konnte, machte sich Pfitzner am Tag des Einmarsches der deutschen Wehrmacht in die „Resttschechei“, am 15. März 1939, eigenmächtig zum Vizebürgermeister. Dieser Zustand wurde „legalisiert“ durch die Anordnung des vergewaltigten tschechischen Landespräsidenten, der Dr. Otakar Klapka (1901-1941) zum Primator (Bürgermeister) von Prag und Pfitzner zum Primator-Stellvertreter ernannte, wobei die wirkliche Situation sich in dem Zusatz zum Erlass ausdrückte: „In allen Angelegenheiten, in denen der Primator allein entscheidet, ist künftig die Mitunterschrift seines Stellvertreters erforderlich“.

Dafür hatte der – nunmehr zum SA-Standartenführer beförderte – Pfitzner folgende zynische Rechtfertigung parat: „Entscheidend sei nicht, ob die Deutschen in einer Stadt die Mehrheit bilden, sondern dass sie die Weltkultur verkörpern“. In einem seiner Bücher schrieb er im Jahr 1940: „Die nationale Zugehörigkeit einer Stadt wird (...) niemals nach der Nationalität des Gründers, sondern danach beurteilt, wer die Stadt bestimmt, wer die Stadt tatsächlich erbaute und erfüllte (...) Die gesamte kulturelle Ausrichtung Prags wies in die deutschen Ursprungslandschaften zurück (...) In Wahrheit verdankte dieses Prag zu Beginn des 19. Jahrhunderts so gut wie alles, was an Ewigkeitswerten in ihm geborgen war, deutscher Leistungskraft und deutschem schöpferischen Sinn.“/21/ Angesichts solcher deutschvölkischer argumentativer Ladenhüter hatte natürlich die Tatsache zu verblassen, dass Prag 1940 eine fast rein tschechische Stadt war.

Der Primator Dr. Klapka wurde, weil er sich als tapferer Anwalt seines Volkes erwies, im Juli 1940 verhaftet und gleich nach Heydrichs Amtsübernahme zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zwar ernannte man an seiner Stelle erneut einen Tschechen, einen pensionierten Beamten, zum Primator; er war aber so bedeutungslos, dass Pfitzner die eigentliche Macht ausübte. In dieser Funktion zwang er eine Stadt mit 900.000 tschechischen und 40.000 deutschen Bewohnern dazu, dass in der Stadtverwaltung ausschließlich deutsch amtiert wurde. Der ehemals so harmlos-stille Historiker Pfitzner entwickelte sich im Rausch der Macht und rassistischen Dünkels zu einem der härtesten und kompromisslosesten Feinde des Tschechentums und alles dessen, was der überwiegenden Mehrheit der Prager und Pragerinnen teuer sein musste./22/

Als die Walpurgisnacht der NS-Herrschaft vorbei war, machten ihm die Justizorgane der wiedererstandenen Tschechoslowakischen Republik den Prozess. Das gegen ihn ausgesprochene Todesurteil (unter anderem deswegen, weil er den Primator Dr. Klapka ans Messer geliefert hatte), wurde am 6. September 1945 auf dem Prager Pankraz-Platz durch Erhängen öffentlich vollstreckt.

Anmerkungen

1 Volksbote, München, 6. Juni 1966, zitiert bei: Johann Wolfgang Brügel, Tschechen und Deutsche 1939-1946, München 1974, S. 208
2 Ernst Paul, Spielball der Großmächte, in: Sudetenjahrbuch 1968, München 1967, S. 37
3 Rudolf Jung, Der nationale Sozialismus, München 1923, S. 67. Hervorhebung H.H.
4 Rudolf Brandstötter, Dr. Walter Riehl und die Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich, Dissertation, Wien 1969, S. 33 und 36f.
5 Adolf Hitler, Mein Kampf, Berlin 1943, S. 133. Hervorhebung H.H.
6 Rudolf Jung, Die Entstehung des Tschechenstaates und die sudetendeutsche Volksgruppe, in: Sudetendeutscher Schicksalskampf, Leipzig 1938, S. 44. Hervorhebung H.H.
7 Siehe: Kurt Gossweiler, Faschismus und Arbeiterklasse, in: Faschismus-Forschung. Positionen, Probleme, Polemik, hrsg. von Dietrich Eichholtz und Kurt Gossweiler, 2. Aufl., Berlin 1980, S. 110
8 Emil Hruska, Die Anfänge und die Entwicklung der sudetendeutschen nazistischen Bewegung, in: Hunno Hochberger/Emil Hruska, Der deutsche Hegemonialanspruch: Gefahr für Mitteleuropa. Thesen zur Entwicklung der (sudeten)deutsch-tschechischen Beziehungen, Stuttgart 1998, S. 197
9 A. (Alois) Ciller, Deutscher Sozialismus in den Sudetenländern und in der Ostmark, Hamburg 1939, S. 164
10 Ebenda, S. 168
11 R.Jung, Die Entstehung des Tschechenstaates, a.a.O., S. 45f.
12 E.Hruska, a.a.O., S. 198
13 A.Ciller, a.a.O., S. 169f.
14 Jörg K. Hoensch, Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918-1978, 2. Aufl., Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1978, S. 61
15 Spanns Einfluss auf den sudetendeutschen Faschismus rührte daher, dass er – bevor er als Professor an die Wiener Universität berufen wurde – von 1909 bis 1919 einen Lehrstuhl an der Technischen Hochschule in Brünn (Brno) bekleidete, wo er als entschiedener Interessenvertreter der deutschen Oberschicht gegenüber den Tschechen auftrat. Siehe: Joachim Petzold, Konservative Theoretiker des deutschen Faschismus, Berlin 1978, S. 178
16 Die Deutschen in der Tschechoslowakei 1933-1947, Prag 1964, S. 192. Zitiert wird hier aus einer Denkschrift des sudetendeutschen Politikers Rudolf Lodgman von Auen vom April 1938.
17 Ebenda, S. 192f.
18 Dazu zählte sogar ein ehemaliger langjähriger sudetendeutscher, später österreichischer Kommunist, Leopold Grünwald. Siehe: Leopold Grünwald, Sudetendeutscher Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Für Frieden, Freiheit, Recht, Benediktbeuren 1986, S. 256ff. Das Buch ist ansonsten materialreich und nützlich.
19 E.Hruska, a.a.O., S. 203
20 J.W. Brügel, Tschechen und Deutsche, a.a.O.
21 Josef Pfitzner, Das tausendjährige Prag, Bayreuth 1940, S. 22
22 J.W. Brügel, a.a.O., S. 221ff.

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3/2002

 

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