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Gerhard Oberkofler und Peter Goller: Der junge Alfred Klahr im Umfeld der
Kelsen-Schule (1928)
Die bekannten, aber in ihrer fundamentalen Bedeutung immer noch wenig
erkannten Studien von Alfred Klahr zur Österreichischen Nation aus dem Jahre
1937 /1/ werden vor allem im politisch-ideologischen Zusammenhang mit der Zeit
ihres Entstehens dargestellt. /2/ Hier soll aufmerksam gemacht werden, daß
Alfred Klahr schon während seines Studiums an der Wiener Universität einen
wissenschaftlichen Weg begonnen hat, der ihn für die konkrete historische
Analyse der (österreichischen) bürgerlichen Klassengesellschaft qualifizierte.
An der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Wiener Universität
übten Hans Kelsen, der Schöpfer der Reinen Rechtslehre, und Adolf Merkl,
loyaler Schüler von Kelsen und hochangesehener, durchaus demokratisch gesinnter
Professor des Staats- und Verwaltungsrechts, mit ihrem scharf denkenden
Intellektualismus, hinter dem sich allerdings auch ein hohes Maß an
bürgerlichem Individualismus verbarg, auf die wenigen linken Studenten große
Anziehungskraft aus. /3/ Hugo Huppert – kommunistischer Jugendfunktionär
und Kelsen-Schüler – schreibt über das Wiener Universitätsmilieu in seinen
Erinnerungen: „Neben den ältlich schon abgenützten Typen im
Professorenkollegium wirkte Kelsen wie ein erfrischendes, überraschend
erfreuliches Phänomen, weder fanatisch noch angestaubt, weder salopp noch allzu
steifleinen“. /4/ Auch Alfred Klahr, der zu dieser Zeit schon in der
Leopoldstädter Sektion des Kommunistischen Jugendverbandes und in der
Kommunistischen Studentengruppe mitarbeitete, näherte sich dem Umfeld der
„Wiener rechtstheoretischen Schule“.
Als Vierundzwanzigjähriger reichte Alfred Klahr am 21. April 1928 im Dekanat
der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien seine
staatswissenschaftliche Dissertation über „Das Verhältnis zwischen Parlament
und Regierung in parlamentarischen Republiken“ (Typoskript 210 Seiten), die er
„unter Anleitung der Herren Professoren Dr. Adolf Merkl und Dr. Hans Kelsen“
angefertigt hatte, zur Begutachtung ein. Als Privatadresse gab Alfred Klahr
Wien II, Novaragasse 17-19 an, jenes Haus also, an dem heute eine Gedenktafel
angebracht ist. Das von Klahrs Doktorvater Merkl /5/ vorgelegte, von Kelsen
mitunterschriebene Gutachten macht deutlich, daß Klahr seinen beiden
akademischen Lehrern als sowohl formaljuristisch wie politisch denkender Kopf
aufgefallen war.
Es ist anzunehmen, daß Klahr bei der Ausarbeitung seiner in die Praxis der
österreichischen Verfassung hineinreichenden Thesen Zurückhaltung üben mußte.
Es ist durchaus möglich, daß er sich dabei mit dem gleichaltrigen Arnold
Reisberg gelegentlich besprochen hat, der zur selben Zeit an seiner
Dissertation „Der wirtschaftliche Anschluß Österreichs an Deutschland in den
Jahren 1840 bis 1848“ arbeitete. Reisberg, Funktionär der Wiener Stadtleitung
der KPÖ, war dabei sichtlich an die Grenze gegangen, da der Kultur- und
Wirtschaftshistoriker Alphons Dopsch als Hauptbegutachter schreibt: „Der Verf. hätte
vielleicht an verschiedenen Stellen etwas mehr Zurückhaltung in der Äußerung
subjektiver Urteile beobachten sollen, da dies die persönliche politische
Einstellung zu deutlich erkennen läßt“. /6/ Heinrich von Srbik schloß sich als
Zweitbegutachter dem mit der ausdrücklichen Bemerkung an, daß er gleichfalls
die „Werturteile der im übrigen fleißigen und recht brauchbaren Arbeit“
ablehne. /7/ Es spricht für die Toleranz beider Professoren, daß sie die
kommunistische Parteilichkeit von Reisberg nicht zur Begründung einer Ablehnung
gemacht haben. Alfred Klahr hatte seine Gratwanderung offenkundig brillant
gelöst, auch wenn Merkl die Ausflüge von Klahr aus der Welt der Norm und des
Sollens in das Reich der historisch-realen „Kräfteverhältnisse“ als befremdlich
abmahnte.
Die Doktorarbeit von Klahr, der am 17. Juli 1928 promovierte, ist noch nicht
veröffentlicht, obschon Merkl ihre Veröffentlichung angeregt hatte. Da in der
Gegenwart das Verhältnis zwischen Parlament, Regierung und Bundespräsident
wieder zur Diskussion steht, wird speziell auf jenes Kapitel der Klahrschen
Dissertation hingewiesen, in dem das Verhältnis zwischen Parlament und
Regierung nach positivem Recht in Österreich dargestellt wird.
Alfred Klahr hat seine Darstellung am Vorabend der von präfaschistischen
Kräften vorangetriebenen Bundesverfassungs-Novelle (1929) mit Bezug auf das
„parlamentarisch“ konzipierte Verfassungsgesetz von 1920 geschrieben. Klahr
hebt mit Blick auf die Französische Revolution den „permanenten“
österreichischen Parlamentarismus hervor. Klahr kann den Bundespräsidenten noch
als bloß „dekorative“ Figur beschreiben. Klahr formuliert 1928 den im Zeichen
der gegenwartsaktuellen Diskussion über eine präsidial verfaßte „III. Republik“
bemerkenswerten Gedanken: „Welche Wandlung hat das Staatsoberhaupt
durchgemacht, von dem man in der Monarchie noch sagen konnte, daß es 'den Staat
(d.h. die anderen Organe) in Bewegung setze und erhalte' (Jellinek)? Jetzt ist
das umgekehrte Verhältnis sogar rechtlich festgelegt. Der Bundespräsident ist
eine tote Gestalt, die in Bewegung gesetzt wird von der BReg., die nicht nur
unter der Kontrolle und der direkten Mitwirkung des Nationalrates tätig,
sondern geradezu dessen Geschöpf ist.“
Zwischen der Reinen Rechtslehre von Kelsen und der marxistischen Rechtstheorie
kam es in den späten zwanziger Jahren zur offenen Auseinandersetzung, die bis
in die Gegenwart – wenn auch heute fast nur mehr historisierend – anhält. /8/
Anmerkungen:
1/ Alfred Klahr: Zur österreichischen Nation. Mit einem Beitrag von Günther
Grabner hg. von der KPÖ. Wien 1994.
2/ Wolfgang Häusler: Wege zur österreichischen Nation. Der Beitrag der KPÖ und
der Legitimisten zum Selbstverständnis Österreichs von 1938.
Römisch-Historische Mitteilungen 30 (1988), 381-411.
3/ Vgl. Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Ausgewählte Schriften von Hans
Kelsen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdross, 2 Bände, hrg. v. Hans Klecatsky, René Marcic und Herbert
Schambeck, Wien 1968.
4/ Hugo Huppert: Die angelehnte Tür. Bericht von einer Jugend. Mitteldeutscher
Verlag Halle/Saale 1976, 444-448, Zitat 444.
5/ Speziell über Merkl s. Wolf-Dietrich Grussmann: Adolf Julius Merkl. Leben
und Werk. (=Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 13), Wien 1989; Adolf
Julius Merkl: Selbstdarstellung, in: Österreichische Rechts- und
Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrg. v. Nikolaus
Grass, Innsbruck 1952, 137-159.
6/ Eigenhändiges Gutachten von Alphons Dopsch vom 10. Oktober 1927.
Universitätsarchiv Wien.
7/ Eigenhändiger Zusatz von Heinrich von Srbik vom 13. Oktober 1927 zum
Gutachten von Alphons Dopsch. Wie Anm. 6.
8/ Vgl. dazu den Disput zwischen Eugen Paschukanis (Allgemeine Rechtslehre und
Marxismus, hrg. und mit einem Anhang versehen von Hermann Klenner und Leonid
Mamut, Freiburg – Berlin 1991) und Hans Kelsen (Allgemeine Rechtslehre im
Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, in: Archiv für
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 60 (1931), 449-521). – Vgl. auch Alfred
Pfabigan: Kelsens und Max Adlers Auseinandersetzung um die marxistische Staatstheorie,
in: Reine Rechtslehre und marxistische Rechtstheorie, hrg. von Norbert Leser.
(=Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 3), Wien 1978, 63-82.
9/ Léon Duguit (1859-1928), Gründer der berühmten ”École de Bordeaux”, zählt zu
den bedeutendsten Vertretern des französischen öffentlichen Rechts. Er
entwickelte eine radikal positivistische, von allen Elementen a priori, sowie
von metaphysischen Annahmen absehende Theorie von Recht und Staat. Michael
Stolleis (Hg.): Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum
20. Jahrhundert. München 1995, 180 f. (O. Motte).
Gutachten über die Dissertation des Herrn Alfred Klahr
"Das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung in parlamentarischen
Republiken".
Die Dissertation gründet sich auf eine eingehende kritische
Auseinandersetzung mit der Literatur des parlamentarischen Systems. Besonders
treffend wird mit dem Rüstzeug der reinen Rechtslehre die politische
Desorientierung jener Autoren aufgezeigt, die die Unabhängigkeit von Parlament
und Regierung um des demokratischen Prinzipes willen fordern.
Als Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen Parlament und Regierung will der
Verf. selbst – der hiebei Duguit /9/ sehr nahekommt – die Überordnung,
Gleichordnung und Unterordnung erkennen (S. 63). Der unmöglichen Konsequenz,
daß hiermit die "Exekutive" unter Umständen in ein
Überordnungsverhältnis zur Legislative treten würde, will der Verf. dadurch
ausweichen, daß er die vorerwähnten "Verhältnisse" nicht von
Funktionen, sondern von Organen aussagt. Noch bedenklicher ist die
Terminologie: Klahr bezeichnet die vorerwähnten Rangverhältnisse innerhalb des
Rechtssystemes als "Kräfteverhältnisse": von einem sonst so
konsequenten Vertreter der reinen Rechtslehre eine befremdliche Entgleisung.
Als parlamentarisch bezeichnet der Verfasser "ein Regierungssystem auf der
Stufe der Abhängigkeit der Regierung vom Parlament, die in verschiedenen Formen
zum Ausdruck kommen kann" (S. 72). Diese neutrale Formulierung ist zwar
sachlich unanfechtbar, aber auch nicht originell. Sehr lesenswert sind die
Ausführungen über die "Ausdrucksformen der Abhängigkeit der Exekutive von
der Legislative".
Der Verf. macht die Nutzanwendung seiner rechtstheoretischen Ausführungen an
den Verfassungen Österreichs, des deutschen Reiches, Frankreichs und der
Schweiz und bestimmt diese Verfassungen – seinem weiten Begriffe des
parlamentarischen Systems gemäß – allesamt als parlamentarisch.
Die Dissertation ist gründlich und verständnisvoll gearbeitet, verrät
ungewöhnlich guten juristischen und politischen Blick und ist zur Gänze
publikationsreif. Ich beurteile sie als sehr gut.
Merkl m.p. 10.V.28.
Einverstanden:
Kelsen m.p. 11.5.28.
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 1/1997
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